...
„Stimmt, Mum. Is manchmal besser, wenn man etwas nicht weiß. Die Koom waren jedenfalls glücklich, in einer Welt der Gleichheit und Gerechtigkeit zu leben. Besser als das, was wir kennen. Und damit ist es nun vorbei.“
Deborah schob einen Faserstrang zur Seite. "Das ist doch eine Frage der Nachrichten, die sie bekommen. Die Koom wussten doch bisher den Wert ihrer Individualität überhaupt nicht zu schätzen.“
Uljana wandte ihren Blick wieder von dem Bild des Fabelwesens an der Wand ab. Mochte dieser Drachenhund doch seine Feuerzunge herausstrecken. "Die haben bestimmt mehr Individualität wie die meisten von uns zusammen. Aber darum geht es dir doch gar nicht. Mit Individualität meinst du doch bestimmt dasselbe wie unsere Lehrer damals mit Freiheit. Weißt du noch, was du selbst mir mal dazu erklärt hast? Freiheit hat nur, wer genug Geld hat?“
Deborah legte ihr Besteck zur Seite: "Siehst du, und die Koom hatten vorher überhaupt kein Geld. Also konnten sie keine Freiheit, Individualität oder was auch immer haben.“
Uljana unterbrach sie wütend: "Verscheißern kann ich mich alleine. Ich mein, die Koom haben sich wohlgefühlt so, wie sie gelebt haben.“
„Weil sie nichts Besseres kannten.“
Uljana stand auf und räumte die Teller zusammen. "Ich wäre froh, wenn ich nichts Besseres, wie du es nennst, zu kennen brauchte. Es ist einfach ungerecht. Unser Leben früher auch. Du kannst nicht Gemeinschaften nach dem Überfluss bewerten, den sie auf Kosten Anderer verschleudern.“
Deborah lächelte sie an: "Nein? Wonach dann?“
Uljana kam wieder aus der Küchenbucht zurück und warf sich schwungvoll in einen der Schalensitze. "Оkay. Spielen wir mal durch: Was braucht man denn wirklich so zum Leben?" Sie hob die Hände, um demonstrativ an den Fingern abzuzählen: "Was gegen Hunger und Durst, eine Wohnung, wo sich nicht alle gegenseitig auf der Pelle hocken, das Gefühl, sicher zu leben, Gesundheit, sinnvolle Beschäftigung für jeden, damit er sich wertvoll fühlt und nicht als Assi, gute Bildung, damit du auch wirklich viel Sinnvolles machen kannst, Kultur, damit du mit all deinen vielen Sinnen auch richtig was genießen kannst, Informationen, weil du sonst nichts vernünftig mit entscheiden kannst - eben Möglichkeiten, dich selbst als denkendes und fühlendes Wesen zu entwickeln und zu genießen. ... Hab ich was vergessen? Das kannst du nicht abmessen, sondern entweder hast du es nicht oder du begreifst es nicht oder du hast es im Ganzen. Ich glaube, die Koom hatten das alles schon im Ganzen vor deinem Breckoro.“
Deborah versuchte sich in aller Ruhe zu konzentrieren. "Sieh mal: Was denkst du, sichert ein vernünftiges Leben besser? Unser System mit Märkten und freien einzelnen Individuen, die sich ihren Anteil an der Gesamtmenge des Reichtums erarbeiten können oder deine Kollektivsoße?“
Uljana hatte sich aufgerichtet: "Debbie, ich meine nicht nur für einige, sondern für alle! Das kann nicht funktionieren, wenn die Fabriken einzelnen gehöen. Wahrscheinlich sogar überhaupt nicht, solange alles über Geld geregelt wird. Und was heißt überhaupt erarbeiten? Hat sich dieser Maratin wirklich zehntausend mal mehr erarbeitet als zehntausend andere Menschen?“
Deborah beugte sich ruckartig vor. Nun sehr ungehalten antwortete sie ungewohnt laut: "Aber ohne Geld, ja? Das macht doch faul. Hast du doch an deinen Koom gesehen, wie schnell sie besiegt wurden. Weil sie einfach schwächer waren.“
„Trotzdem war ihr Leben vernünftiger. Die kannten einfach keinen Krieg. Wenn ich deshalb schwächer wäre, wie du es nennst, würde mich das stolz machen." Während sie das sagte, presste Uljana den Lo-Ball in ihrer Kittelschürze zusammen.
Deborah lehnte sich zurück: „Wo hast du denn das nun wieder her?“
„Das finde ich einfach logisch, Debbie. Oder findest du Krieg vernünftig?“
„Uli, du weißt, was ich davon halte, wenn Menschen andere umbringen.“
Nun verschränkte auch Uljana die Arme vor der Brust. Dann stützte sie sich mit den Ellenbogen auf dem flachen Tischchen ab. "Und ich seh das so: Wenn du eine Fabrik besitzt, in der Waffen produziert werden, dann ist für dich vernünftig, dass die jemand braucht, und damit ist für dich eben Krieg vernünftig. Wen der vernichtet, ob Frauen und Kinder oder ob es nachher überhaupt noch Kinder gibt, das ist dir erstmal egal. Das muss dir sogar egal sein. Sonst gehst du natürlich unter.“
„Aber in diesem Krieg hier sind ja wohl außer bei eurer Befreiung kaum Kinder vernichtet worden.“
Uljana, nun noch heftiger: "Na, weil die Koom gar keinen Krieg geführt haben.“
„Weil sie nicht in der Lage waren, einen Krieg zu führen."
Entrüstet hob Uljana ihre Stimme. Und du meinst, die bessere Gesellschaft ist die, die Krieg führen kann?“
„Jedenfalls besser, als sich nicht verteidigen zu können.“
Uljana hatte die Arme wieder auseinander genommen und sich aufgerichtet. "Wie toll. Ich möchte aber, dass ein jeder so denken darf, dass er allen nützt. Und sich dafür nicht zu verteidigen braucht.“
„Wieso? Darfst du denn hier nicht denken?“ fragte Deborah spitz.
Darauf erwiderte Uljana: "Verstehst du mich nicht oder willst du mich nicht verstehen? Ich habe sogar Angst, das, was in meinem Kopf herumspukt, zu Ende zu denken. Damit passe ich natürlich nicht in unsere kleine Menschengesellschaft hier. Und in die Weihwelt auch nicht."
„Erklär sie mir doch, deine Traumwelt!“
Nervös ging Uljana in die Küchenecke, ließ das Wasser laufen, wischte über einen sauberen Teller, legte ihn zur Seite. "Мensch, Debbie, einmal angenommen, ich hätte früher ungeheuer viel in die Entwicklung gesteckt, um einen Schädling zu bekämpfen - mein Geld, verstehst du? - und dann hörte ich, dass mein Zeug die Umwelt zerstört. Sollte ich da sagen, tut mir Leid, vergessen wir die Sache? Oder wäre ich mir nicht auch vernünftiger vorgekommen, wenn ich ahnungslose Abnehmer gefunden hätte, weit genug von mir oder meinen eigenen Kindern entfernt, die mir meine Forschung und noch etwas mehr bezahlten? Damit die draufgehen und nicht mein Geld? Weißt du, ich versteh die Typen, die das gemacht haben. Die haben ganz vernünftig an sich selbst gedacht. Ich will aber nicht so werden. Wir haben erlebt, wie es ausgegangen ist, aber hier fangen wir genauso an, kaum dass wir angekommen sind. Ohne mich, bitte! Und trotzdem will ich kein Verlierer sein.“
„Ach Uli, wenn die Welt doch so einfach wäre: Da die Guten, dort die Bösen. Aber du musst doch leben, wo du hinein geboren bist. Auch deine Koom werden sich anpassen. Verlass dich drauf. Schließlich haben die Weih die Macht.“
Einer der kleinen Teller war Uljana aus der Hand gefallen. Er zerbrach nicht; nur die Kante, mit der er auf den Boden aufgekommen war, knickte an. Ganz kurz dachte Uljana, dass die Teller wohl aus diesen merkwürdigen Farnen hergestellt wurden. "Nein, die Koom werden sich nicht anpassen, Debbie! Ein paar vielleicht. Es gibt überall Anschleimer. Aber die meisten werden es nicht. Die haben natürlich ganz tief drin Generation für Generation erfahren, dass es anders geht. Die verwandelt kein Geld mehr in reißende Wölfe."
„Uljana! Bin ich ein reißender Wolf für dich?“
„Ach, Debbie, so hab ich das doch nicht gemeint. Aber ich möchte trotzdem nicht werden wie du. Ich möchte mich nicht anpassen an die Wölfe. Egal wie sie aussehen. Ob wie Menschen oder wie Pondos.“
Anstatt, wie sonst, wenn sie unterschiedliche Ansichten gehabt hatten, zum Schluss ihre Mum zu umarmen, stürzte Uljana aus dem Zimmer. Deborah lief ihr nicht hinterher. Sie rief sie auch nicht. Sie hielt sich nur die Hände vors Gesicht. So weit war es also gekommen. Zum ersten Mal sagte ihre Tochter, sie wolle nicht werden wie sie. Aber hatte sie das nicht vor vielen Jahren auch zu ihren Eltern gesagt? Klar. Nur hatte sie zu denen vorher ein weniger enges Verhältnis gehabt als Uli zu ihr. Und ihre Eltern hatten Recht behalten. Wie hatten sie gesagt? Wir verdienen das Geld, damit du dir diese Flausen leisten kannst. Du wirst sehen, wenn du erst einmal Kinder hast, sieht du das ganz anders …
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