Donnerstag, 29. Juli 2010

Angelika Neumann: Leben danach

Seit zwei Stunden saß die Großmutter stumm im Sessel und träumte. Wenn sie so da saß, ihre Augen geschlossen zum Himmel richtete, durfte Susann sie nicht stören. Dann träumte sie von einer glücklichen, farbenprächtigen Welt. Von einer Welt, die sie als junge Frau noch kennen gelernt hatte, bevor der Atomkrieg ausgebrochen war. Der blaue Planet verwandelte sich binnen kurzer Zeit in ein Reich des Todes.

Susann hatte die Welt von ihrer Großmutter nie kennen gelernt. Sie kannte nur die jetzige, die vergiftete, mit ihren verkrüppelten Gestalten in der der Tod allgegenwärtig war. Es war eine Welt ohne Jahreszeiten, denn jeder Tag war gleich, grau und trüb.
Großmutter hatte ihr oft von früher erzählt, von dem Land wie es einst aussah. Einige Fotos aus dieser Zeit besaß sie noch. Sie waren das kostbarste was sie aus dieser Zeit besaß.
Auf einen der Fotos war ein Garten mit lauter bunten Blumen und Bäume voller Früchte, die Susann nie kennen gelernt hatte. Die Blumen waren Gerbera, Astern und Rosen, die Früchte Äpfel, Pflaumen und Kirschen. Wenn alles auf dem Foto schon so wunderschön aussah, wie schön musste alles in Wirklichkeit gewesen sein.
Einmal, da war Susann gerade 6 Jahre alt, in einem Alter, wo sie noch sehr wenig über die Welt wusste, fragte sie ihre Großmutter, ob sie nicht dorthin fahren konnten, wo der wunderschöne Garten war. Da weinte die Großmutter sehr und meinte nur, das geht nicht. Dann forderte sie Susann auf, aus dem Fenster zu sehen, denn dort wäre der Garten.
Susann schaute hinaus. Sie sah nur aschgraue Erde, gespenstig aussehende Bäume mit verkrüppelten Früchten und kahle Äste, so etwas wie Blumenstängel aber ohne Blüten.
Damals war Susann wütend über die Antwort ihrer Großmutter. Erst viel später begriff sie, dass dort, wo sie hinsah, einst der herrliche Garten war.
Großmutter träumte und Susann dachte nach, über ihr Leben, und darüber, dass sie in zwei Tagen 15 Jahre alt werden würde.
Das kostbarste in ihrer Welt war trinkbares Wasser. Früher soll es davon genug gegeben haben. Man brauchte nur den Wasserhahn aufzudrehen, dann floss es reichlich und jeder konnte es trinken.
Das Wasser, das die Menschen heute tranken, wurde entgiftet. Es flöss nicht aus dem Wasserhahn, denn die Herstellung war sehr teuer. Die Menschen bekamen es daher nur auf Zuteilung.
Großmutter hustete. Sie litt an Lungenkrebs und Hautkrebs. Der Hautkrebs hatte sie völlig entstellt. Von einen ihrer Jugendfotos wusste Susann, dass sie einmal sehr schön gewesen war.
Die Kinder, die jetzt geboren wurden, haben keine Schönheiten an sich kennen gelernt. Alle waren leidend und durch Gendefekte entstellt.
Als Susannes Mutter erfuhr, dass sie schwanger war, wollte sie das Kind nicht haben, weil sie wusste, sie würde wie alle anderen Frauen, doch nur ein verkrüppeltes Kind zur Welt bringen. Aber die Ärzte sagten, sie müsse das Kind bekommen, damit der Mensch nicht ausstarb.
Irgendwann, vielleicht in 2000 Jahren, wenn die Radioaktivität so gering geworden ist, dass sie den Menschen nicht mehr schadete, würden auch wieder gesunde Menschen geboren, daran sollte sie jetzt denken.
Die Mutter von Susanne starb, als sie gerade zwei Jahr alt war. Sie hatte es nicht verkraftet, ein verkrüppeltes Kind zur Welt gebracht zu haben. Susann fehlte ein halber rechter Arm, eine Niere arbeitete nicht richtig und sie hatte nur ein Bein. Ihr Vater starb drei Jahre später an Leberkrebs. Seitdem lebte sie bei der Großmutter.
Wie gern hätte Susann ihren Eltern gesagt, dass sie trotz ihrer Gebrechen froh war zu leben. Sie hätten ihnen erzählt, dass sie einen Jungen kennen gelernt hatte, den sie sehr mag und der sie mag und dass sie heiraten wollten und viele Kinder zur Welt bringen wollten, in der Hoffnung, dass eines ihrer Kinder überleben würde, damit der Mensch nicht ausstirbt.
Manchmal lief Susann in Gedanken durch einen Wald mit lauter verkrüppelten Bäumen, die kaum Blätter an den Ästen trugen, über aschgrauen Boden, hin zu den Feldern. Sie wurden Tag und Nacht bewacht. Hier wuchs Korn, oder so etwas Ähnliches. Zur Aussaat kamen die Menschen und legten jedes Korn einzeln in die Erde, damit keines verloren ging. Später, wenn die Saat aufgegangen war, kamen sie wieder, um jeden Unkrautstängel einzeln herauszuziehen. War das Korn ausgereift, kamen die Menschen wieder, um jeden Halm einzeln zu bergen. Wenn das Korn ausgedroschen war, wurde daraus karges, bitteres Brot gebacken. Ein Brot, das nicht schmeckte, ein krank machendes aber sättigendes.
Als Großmutter noch gut zu Fuß war, fuhr Susann in ihrem Rollstuhl oft mit ihr zu den Feldern und half ihr bei der Arbeit. Sie reichte ihr dann die Körner.
Es war für Susann dann immer wieder aufregend, wenn die Älteren von früher erzählten, von Menschen und Dingen, die ihnen damals wichtig waren.
Susann versetzte sich in die Zeit zurück, von der sie so viel gehört hatte. Sie lief über blühende Wiesen, Schmetterlinge flogen von Blume zu Blume, in der Ferne plätscherte ein Bach. Sie las in ihrer Phantasie die Romane von Tucholsky, Strittmatter, sah Theaterstücke von Shakespeare und Goethe, lauschte den Sinfonien von Mozart und Händel, wandelte durch prunkvolle Schlösser, ging durch die Bildergalerien, philosophierte mit Studenten über die Zukunft der Menschheit, wie es sein würde, wenn alle Völker untereinander in Frieden zusammen lebten, ja sie stellte sich vor ein Teil dieser Welt, der Welt ihrer Großmutter zu sein.
Doch alles wovon sie träumte gehörte zur Vergangenheit. Es hatte für die Menschen jetzt keine Bedeutung mehr im Kampf um das tägliche Überleben.
Aufgewühlt durch ihre Träume fuhr Susann mit ihrem Rollstuhl zum Fenster, in der Hoffnung da draußen in dem Garten vielleicht doch ein kleines grünes Pflänzchen zu entdecken, um so der anderen Welt nahe zu sein. Lange schaute sie hinaus und suchte mit ihren Augen jeden noch so kleinen Winkel ab. Da, war da nicht etwas, Grünes? Tatsächlich, ein ganz kleines grünes Blättchen schob sich unter einem kahlen Ast hervor. Aufgeregt, versuchte sie sich in ihren Rollstuhl aufzurichten, um es näher zu betrachten. Sie bewegte sich dabei so heftig, dass sie vor Schmerz einen kleinen Schrei von sich gab und sie befürchtete, dass sie die Großmutter dabei geweckt hatte. Es war ein stechenden Schmerz in ihrer Brust.

Wenige Augenblicke später. Grabesstille breitete sich im Raum aus, die nur durch das Röcheln der alten Frau unterbrochen wurde.

Als die Großmutter nach einer Stunde aufwachte und zu ihrem Enkelkind herüber schaute, sah sie, dass Susann schlief. Ihr schien es, als ob sie lächelte. Sie lächelte noch im Tod.



(18,7 P.)

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