Mittwoch, 28. Juli 2010

Helga Fricker: Kindheit.


Ein warmer Tag im Februar 1945 auf einem Bauernhof in Niederbayern. Die Bäuerin, hochschwanger, versucht ihr drittes Kind, ein kleines eineinhalb Jahre altes Mädchen, das schreit, zu beruhigen. Es gelingt ihr nicht. Sie hat wenig Geduld und wenig Zeit. Der Großvater im Zimmer über der Küche ist bettlägerig; er hat schon ein paar Mal ungeduldig mit seinem Stock auf den Boden geklopft, damit man es in der Küche hört und kommt. Wenn die Kinder älter wären, könnte man eines hinaufschicken, den Großvater zu fragen, was er braucht. Er will nicht, dass die Magd kommt, sie verstehen sich weder sprachlich noch vom Temperament her. Sie ist ein Flüchtling, hat mit ihren 24 Jahren anderes im Kopf als den alten Mann, der diesen unverständlichen niederbayrischen Dialekt spricht und unfreundlich ist. Die Bäuerin will mit ihrem Bauch nicht schon wieder die Treppe hinauf rennen. Wenn sie wüsste, warum das Kind schreit. Hat doch getrunken. Vielleicht hat es Bauchweh von der verdünnten Kuhmilch, die sie dem Kind mit Haferflocken angedickt hat. Als ihr Mann in die Küche kommt, legt sie ihm das Kind in den Arm. Gern trägt er es und wiegt er es bis es einschläft. Er mag kleine Kinder, ist ein geduldiger Tröster.
Als das Kind in seinem Arm einschläft, ist er richtig glücklich. Er bettet es aufs Sofa,
dreht einen Stuhl mit der Lehne so davor, dass das Kind im Schlaf nicht herunterfallen kann. In diesem Augenblick kommen die sogenannten Fremdarbeiter von den Feldern zurück. Lärmend. Er versteht nicht, was die Polen sagen. Wenn sie bloß nicht das Kind wieder aufwecken. Er wendet sich an einen, von dem er glaubt, dass er gut deutsch kann. Schreit nicht so! Weckt mir das Kind nicht auf!
Der junge Pole, müde und durstig von der Arbeit, gibt das an seine Kumpel weiter. Wut und Zorn. Was hat ihnen dieser Bauer für den sie schuften zu sagen? Der hat Frau und Kind, sie haben nichts. Alles weit weg. Alles verloren. Wer wird bei ihnen zuhause die Arbeit machen und Kinder auf den Arm nehmen? Sie gestikulieren. Verstärken sich in ihrem Zorn. Einer wird angerempelt, stolpert. Wer war das? Der Bauer, dieser Ausbeuter? Darf der sich das erlauben, jetzt, wo der Krieg bestimmt bald zu Ende sein wird und vielleicht sogar Gerechtigkeit wieder hergestellt werden wird? Das müssen sie sich jetzt nicht mehr gefallen lassen. Den machen wir heute noch kalt sagt einer.
Dann auf einmal Sirenengeheul. Fliegeralarm. Alle drängen in den Kartoffelkeller. Man wird sich doch nicht in diesen letzten Monaten oder Wochen von Bomben umbringen lassen, die für die Deutschen gedacht sind.
Das Kind schläft auf dem Sofa. Die Bäuerin fährt mit dem Fahrrad zu einem Bekannten. Schildert die Stimmung auf dem Hof. Die wollen meinen Mann umbringen. Die sind wütend und aufgebracht. Ihr Mann ist in den nahen Wald gerannt. Dort will er erst mal bleiben. Seine Frau kennt das Versteck.
In der folgenden Woche fahren Lastwagen vor. Sie nehmen die sogenannten Fremdarbeiter mit. Die Bäuerin ist erleichtert.
Ich bin das kleine Mädchen von damals. Ich lebe noch. Ich weiß nicht, wohin die jungen Männer aus Polen gebracht wurden.    


(18,6 P.)

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