Donnerstag, 1. September 2011

Mario Tomašegović: Sieben Kerben


„Meiner ist fünfundzwanzig Zentimeter“, tönte Goran, „habt ihr nur Zierfische zu bieten?“
Die Männer um ihn herum schielten auf ihre Stiefel.
„Ihr Luschen, solange keiner einen größeren aus dem Meer zieht, dürft ihr mich Poseidon rufen.“ Goran reckte einen Köcher wie ein Zepter in die Höhe. Blau-silbern glitzerte darin eine Sardine.
Das Meer war aufgewühlt und warf Schaumkronen gegen die Küste, die Luft war frisch und salzig und roch nach gegrilltem Fisch.
Goran schulterte seinen Rucksack und trottete über die Hafenpromenade zum „Matrosen“. Er fand einen Tisch im Freien.
Die ersten Sonnenstrahlen des Frühlings kribbelten auf seinem Gesicht. Warm und weich wie Annas Küsse. Goran mochte das Hafenrestaurant mit dem Blick auf die „Insel der Verliebten“. Manchmal pflügten im Frühjahr Delphine durch die Bucht, schnellten meterhoch aus dem Wasser, stießen Klicklaute aus und begleiteten die Fischerboote. Sein Großvater hatte ihm auf vielen Fahrten beigebracht: Füttere die Delphine, dann füttern sie dich.
Goran erinnerte sich gut an einen nebelverhangenen Morgen. Stundenlang begleiteten sie eine Gruppe Tümmler, bis sie auf einen Makrelenschwarm stießen. Die Augen seines Großvaters leuchteten. Er entkorkte einen „Plavac“ und stimmte das „Lied von Maria“ an.
Der Kellner unterbrach die Melodie aus einem anderen Leben. Räuspernd stellte er ein Glas Weißwein ab.
Goran gab ihm die Sardine. „Sag Ante, er soll mir einen Traum zaubern.“
Er lehnte sich zurück und musterte die Gäste. Im Schatten einer Dattelpalme saß ein Priester. Vor ihm eine Ausgabe der „Katholischen Wochenchronik“ und ein Likör.
Im Anfang war die Lüge und die Lüge war bei Gott und Gott war die Lüge. Goran sah sich verstohlen um, als hätte er eine Todsünde begangen. Er wischte sich Schweiß von der Stirn und mit ihm den ketzerischen Gedanken.
Am Eingang hockte ein alter Mann, in den Händen eine Mandoline. Ein schlohweißer Bart und langes, zerzaustes Haar verliehen ihm das Aussehen eines Propheten. Er erinnerte Goran an die Skulptur des Jeremias am Portal der Kapelle von St. Michael.
Der Alte wischte sich mit dem Handrücken die Nase ab und übte einige Akkorde. Er summte eine Melodie und spielte die ersten Töne von „Maria“. Eine männliche Stimme erschallte. „Maria, deine Augen wie zwei glühende Sterne, glitzern wie Diamanten aus der Ferne, dein Lachen wie die Sonne, deine Lippen eine Wonne. Eine Liebesgöttin entsteigt dem Meer, entfacht aus Leidenschaft ein Heer. Wie ein Rausch kommst du über mich, Passion Maria nenn’ ich dich.“
Der Kellner knallte dem Alten eine Literflasche selbstgebrannten Slibowitz auf den Tisch und der Mandolinenspieler verstummte.
Goran nickte ihm anerkennend zu. Wer war seine Maria, fragte er sich und dachte an Anna und die Nächte auf der „Insel der Verliebten“. Sah ihre leidenschaftlichen Augen, schmeckte das Salz auf ihren Brüsten, hörte ihr Keuchen unter dem Mandelbaum. Wie lange war es her?
„Hier kommt die leckerste Sardine zwischen Zadar und Zaton.“
Ante, der Koch des „Matrosen“, riss Goran aus seinen Tagträumen.
Er stellte den Teller auf den Tisch und zog die struppigen Augenbrauen nach oben. „Mit Knoblauch und Rosmarin mariniert, ein paar Tropfen Olivenöl und dann zart gegrillt. Dazu frischer Mangold und Pellkartoffeln!“
„Komm in dreißig Minuten wieder“, raunte Goran „dann verrat’ ich dir, ob du gefeiert oder gefedert wirst.“
Der Koch zog eine beleidigte Miene und verschwand.
Die Sardine schmeckte nach der unendlichen Weite des Meeres. Mangold und Kartoffeln schmolzen auf der Zunge, kitzelten Kindheitserinnerungen wach. Goran am Strand mit dem Großvater. Die aufgehende Sonne an einem kühlen Morgen. Der Gesang der Matrosen. Frische Miesmuscheln. Der Geschmack von Freiheit.
Goran fühlte sich lebendig und leicht und unbesiegbar. Jeder Atemzug hielt, was das Leben versprach.
„Kamerad, is‘ noch frei?“
Eine müde Stimme drang an Gorans Ohr. Ein von Brandnarben durchzogenes Gesicht tauchte auf. Ein Gefühl der Beklommenheit klebte auf der Stirn wie die Schweißperlen auf dem kahlrasierten Schädel.
„Setz dich“, erwiderte Goran, „du bist eingeladen.“
„War tagelang jagen, hinter’m schwarzen Fluss. Hab’ jede Nacht von `nem kühlen Glas Wein geträumt.“ Der Junge wischte sich mit dem Ärmel über Mund und Stirn. Das linke Auge zuckte wie ein Metronom. „Wo jagst‘n du?“, fragte er. Mit Daumen und Zeigefinger formte er einen Kreis, sah hindurch, als zielte er durch ein Fadenkreuz.
Goran schaute in glasige Augen, wie er sie tausendfach gesehen hatte, seit dem Tag als alles begann. Leer und starr. Wie die Augen einer Sardine, wenn man sie aus dem Netz zieht und sie nach Luft schnappt. Er schluckte eine Antwort runter. Es ging nie zu Ende. Ein Leben im Fadenkreuz. Ein Leben, an dem der Gestank des Todes klebte.
Der Kellner brachte ein zweites Glas. Goran schenkte ein. Einige Tropfen verspritze er auf den Boden. Als Gabe an die Heiligen. Wie sein Großvater es immer getan hatte.
„Lass uns auf’n Jubiläum anstoßen.“ Der Junge hob sein Glas.
Den linken Arm stieß er in die Höhe. Es fehlte die Hand.
„Vor zweihundert Tag‘n hab’ ich sie verloren.“ Er küsste den Stumpen und streckte ihn in Richtung des Geistlichen. „Gepriesen sei der Herr!“
Der Priester bekreuzigte sich. Aus der Innentasche der Soutane zog er einen Rosenkranz und legte ihn auf den Schoß.
Goran wischte sich mit einer Serviette Schweiß von der Stirn. Er rieb die vernarbten Striemen am Hals. „Aus welchem Dorf kommst du?“, fragte er.
„S’ existiert nicht mehr.“ Der Junge blickte in das Weinglas, als würden darin Bilder der Vergangenheit auftauchen. „Mit der Ziegenherde war ich ob‘n in den Hügeln. Plötzlich `s schrille Pfeifen und die Einschläge. Hab’ mich versteckt. Überall Explosionen und Feuer. Die Häuser brannten lichterloh. Die Luft glühte. Die Hitze drang bis zu meinem Versteck und verbrannte mir die Haut. Stundenlang Blitze. Stundenlang. Mate, Ante, Mutter, Vater, suchte in den Trümmern, meine Hand, ich…“ Der Junge biss sich auf die Unterlippe. Das Glas in seiner Hand zersplitterte und schnitt sich tief ins Fleisch.
Goran sprang auf und verband die Wunde mit einer Serviette. Er legte dem Jungen einen Arm um die Schulter.
„Wir haben alle unseren Scheiterhaufen.“ Goran richtete die Worte an die verdreckten Jackenknöpfe des Jungen, als fürchtete er, bei einer Lüge ertappt zu werden. „Entweder lernen wir, mit dem Feuer zu leben oder wir verbrennen.“ Die Striemen an seinem Hals schwollen an und pulsierten. „Die Dinge sind nicht so, wie wir sie sehen und empfinden, sie sind so, wie der Tod sie uns lehrt.“
„Der Tod is‘ mein einziger Freund“, platzte es aus dem Jungen heraus, „mich hat er am Leben gehalten.“ Er hob sein Gewehr vom Boden und knallte es auf den Tisch. Mit den Fingerkuppen fuhr er über dünn eingeritzte Kerben am Kolben. „Hab’ sieb‘n g‘schafft“, zitterte er, „sieb‘n Schatten für meine Hand.“ Schweißtropfen rannen über sein Kinn und fielen auf seinen Schoß. Trotz der Hitze knöpfte er die Jacke bis zum Kragen zu. Mit dem Daumen strich er über die letzte Kerbe. „Sieb‘n“, flüsterte er.
Goran starrte auf den Stumpen und kratzte die Striemen am Hals.
Der Kreislauf der Erniedrigungen fand kein Ende. Seit dreihundertsiebzehn Tagen spuckte das Leben ihm Verachtung ins Gesicht. „Was hat das sinnlose Töten uns eingebracht?“, fragte er und rieb sich die geröteten Augen, „die Tage hinter uns das Grauen, die Tage vor uns eine Lüge. Wir sind eine verbrannte Generation.“
Müde schulterte er sein Gewehr und den bleischweren Rucksack. Fischkonserven, Brotwecken, ein Messer, Ersatzpatronen und ein Band von Pablo Neruda als Begleiter durch einen ewigen Alptraum.
„Leb wohl.“ Er reichte dem Jungen die Hand.
Der machte eine abfällige Geste und streckte dem Geistlichen den Stumpen entgegen.
Goran rannte zum Strand. Die Striemen am Hals brannten wie Feuer. Er spürte den Gürtel, der sich immer enger um seine Kehle schnürte. An jenem Morgen als ihn das Grauen in den Abgrund riss, er den Tod mehr als das Leben liebte. Er lief schneller und sah die bleichen Hände, die ihn vom Balken schnitten und mit Leben bestraften und er stürzte durch die Dämmerung der Zeit und kniete auf einem Felsen.
Anas Stimme wie ein Echo über dem Meer seiner Verzweiflung: Warum immer der gleiche Wahnsinn und heuchlerische Parolen von Ehre, Vaterland und Heldentum, Lügen als Wahrheit verpackt und zum Spottpreis verscherbelt, erfunden von dreckigen Saubermännern, die die Jugend in einen schäbigen Tod schickten, erfunden, um ihre Taschen mit dreckigem Geld zu füllen, erfunden, um ihre dreckige Gier nach Macht zu befriedigen, und warum Ströme von Tränen und Blut vergießen und warum das Leben nicht mit Liebe statt mit Hass krönen?



(21,7)

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