Donnerstag, 16. September 2010

Petra Urban: Süße Milch


Als sie sich zum ersten Mal begegnet waren, hatte er warme Milch mit Honig getrunken. Ihre Freundin hatte ihr unsanft in die Seite gestoßen. „Und das will ein Mann sein!“, hatte sie geflüstert, „Pfui Teufel!“
Er hatte allein am Tisch gesessen und schien die Bemerkung nicht gehört zu haben. Plötzlich aber hatte er sich umgedreht und sie angelächelt.
Am nächsten Tag war sie ihm wieder begegnet, vor dem Bahnübergang. Als sich die Schranke öffnete, war sie einfach neben ihm hergelaufen, hatte ihn gefragt, ob er zu Besuch sei, und sich bemüht, Schritt mit ihm zu halten. Er hatte ihr von der Stadt erzählt, in der er lebte, von der Villa mit dem Garten und von seinen Eltern, die ihn hierher aufs Land zu seinem Onkel geschickt hatten, weil sie meinten, es wäre im Moment besser für ihn. Sie hatte ihm von ihrer Mutter erzählt, die Schneiderin war und mit der sie, seit dem Tod des Vaters, allein lebte.
Vor dem Tor des Gutshofes hatte sie ihm verlegen lächelnd die Hand hingestreckt und gefragt, ob er sie am Abend zum Tanz begleiten würde. Erstaunt schaute er sie an, mit einem Blick, der nicht zu verstehen schien. Sein Zögern aber machte ihr Mut. „Ich hole Sie um sieben Uhr ab“, hatte sie gesagt und war davon gerannt.
Am Abend trug sie ihr blaues Seidenkleid, Kniestrümpfe und eine weiße Strickjacke. Unterm Arm klemmte eine alte Handtasche ihrer Mutter.
„Guckt mal, die bringt den Krüppel mit!“, brüllte jemand, als sie den geschmückten Festsaal betraten.
„Für solche wie den ist hier kein Platz!“, schrie ein anderer.
Sie hatte die Stimme sofort erkannt. Es war der Sohn des Fleischers, der seit Kurzem eine braune Uniform trug. Schützend hatte sie sich vor den Rollstuhl gestellt. Aber irgendwer schubste sie zur Seite, spuckte aus vor ihr und brüllte ihrem Begleiter ein dröhnendes „Heil Hitler!“ ins Ohr.
Eilig hatten sie den Saal verlassen, waren durch den Abend geirrt, erschrocken und schweigsam zuerst, später dann hatten sie ihre Worte wiedergefunden, am Bach unter den Bäumen gesessen und über die Zukunft geredet.
Sie ging ins Schlafzimmer hinüber. Er lächelte im Schlaf. „Du wirst gesund, mein Liebster, ich weiß es, alles wird gut!“, flüsterte sie.
Auf der Straße schellte der Milchmann. Sie nahm die verbeulte Kanne vom Schrank, das Geld, das abgezählt daneben lag, und lief hinaus.
„Da habt ihr den verdammten Krieg überstanden“, sagte der Mann, „und jetzt das. Wird er wieder gesund werden?“
„Ja“, sagte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
Von allen Seiten strömten jetzt Frauen herbei, viele von ihnen verwitwet, alt und krummbeinig, in verschlissenen Kitteln, dunkle Kopftücher im Haar. Nur wenige waren jung wie sie, gingen mit federnden Schritten, die Milchkannen hin- und her schwenkend.
Sie wusste, alle diese Frauen würden ihr hinterher schauen und mitleidig die Köpfe schütteln.
Sie ging ins Schlafzimmer und blieb vor seinem Bett stehen. „Ich habe dir frische Milch geholt“, sagte sie leise und beugte sich zu ihm hinab, um seinen Atem zu spüren.
Damals, in jener Nacht am Bach, hatte er ihr erzählt, dass er bald studieren würde, um Rechtsanwalt wie sein Vater zu werden und für Gerechtigkeit zu kämpfen.
„Wie will der denn kämpfen, ohne Beine?“, hatte ihre Mutter gesagt und abgewinkt.
Und dann war plötzlich Krieg gewesen.
„Der junge Herr ist in die Stadt zurückgekehrt“, hatte man ihr auf dem Gutshof gesagt und ihr die Wange gestreichelt.
Sie hatte ihm Briefe geschrieben, aber er hatte nicht geantwortet. Einmal war sie sogar hingefahren, heimlich, mit dem Zug, ohne jemandem davon zu erzählen, aber das Haus mit dem Garten hatte leer gestanden.
Sie hatte angefangen, ein Tagebuch zu schreiben. Nur für ihn, weil sie wusste, dass er irgendwann kommen und es lesen würde. Und er war gekommen. Mitten in der Nacht. Sie war aus dem Schlaf hochgeschreckt, weil er vor ihrem Fenster ihren Namen gerufen hatte. Im Schlafanzug war sie hinaus auf die Straße gelaufen. Ihre Mutter hatte die Hände vor der Brust zusammengeschlagen. „Willst du uns ins Elend stürzen, Mädchen?“
„Er bleibt!“, hatte sie gesagt und ihn im Keller versteckt, hinter den Regalen mit den Einmachgläsern. Lange, bevor er gekommen war, hatte sie diesen Platz für ihn hergerichtet.
Zwei Mal waren Männer aus der Stadt da gewesen, mit einem schwarzen Auto vorgefahren, hatten nach ihm gefragt, ihr gedroht, aber sie hatte die Nerven bewahrt, die Männer sogar durchs Haus geführt. Das Versteck war unentdeckt geblieben.
In den Nächten, wenn das Dorf schlief, war sie zu ihm hinunter gegangen, hatte ihm Milch mit Honig gebracht, erzählt, was in der Welt passierte, welche Farbe der Himmel hatte und wie die Bäume dufteten. Dabei hatten sie sich an den Händen gehalten, Gebete in die Dunkelheit geflüstert und über ihre Zukunft geredet.
Sie stand immer noch vor ihm, die Milchkanne in der Hand. „Schlaf nur, mein Liebster, ich weiß, dass du gesund wirst.“ Dabei strich sie ihm übers Haar und küsste ihn zärtlich. Dann ging sie in die Küche, die Milch zu wärmen.


(21,7 P.)

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