Sonntag, 15. August 2010

Matthias Rische: Fräulein Lisbeths Füße


Sie saß Tag und Nacht in ihrer kleinen Höhle. Den Sonnenschein erblickte Lisbeth nur durch einen schmalen Spalt weit oben in der Felswand. Doch das hereinfallende Licht reichte kaum aus, um auch nur die eigene Hand vor den Augen erkennen zu können – geschweige denn Wärme zu spenden. Und so brannte in der kleinen Höhle - Tag wie Nacht - ein kleines Feuer.

Lisbeth wusste weder wie alt sie war, noch wie sie dorthin kam. Vermutlich ward sie in dieses Höhlchen hinein geboren.
Das Mädchen konnte sich auch nicht erinnern, jemals Eltern besessen zu haben. Jemanden der sich um sie sorgte oder ihr half im Leben zurecht zu kommen.
Allerdings musste sie sich nicht selbst versorgen. – Immer wenn ihr Magen zu knurren begann, kam durch den Spalt etwas Essbares geflogen. Mal waren es Nüsse, mal Kamillenblüten oder Wurzeln. Wer der hilfreiche Spender war, erfuhr sie nicht. Auch hinterfragte sie es nicht. Es reichte ihr zu wissen, dass es weit oben etwas gab, auf das sie sich verlassen konnte.

Lisbeth hatte nie den Drang verspürt ihre Behausung zu verlassen. Auch einsam fühlte sie sich nicht – sie hatte immer genug zu tun: Die Finger- und Fußnägel mussten regelmäßig abgeknabbert werden, sie musste das Feuer in Gang halten und regelmäßig die Höhlenwände mit Erde bestreichen, damit die Wärme gehalten wurde.

Lisbeth sprach nicht viel (mit wem hätte sie dies auch tun sollen?). Nur ab und zu drängte sie es danach, ihre Stimme zu hören. Wenn sie diese einsetzte, klang die wie das Schaben ungeknabberter langer Nägel über feuchte Felswände.
Mmh Mmh Mmh, Grmpf Schlz Jupp!“
Wenn sie ein neues Wort kreiert hatte, ertönte lauthals lachend eine helle Mädchenstimme und das Echo tanzte freudig minutenlang zwischen engen steinernen Mauern hin und her.
Sie war wohl eines der glücklichsten Wesen auf – oder besser –unter dem Erdboden.

Eines Tages jedoch war die letzte Schicht Erde für den Anstrich ihrer Heimstatt aufgebraucht. Der Boden gab nach und Lisbeth fiel einen halben Meter tief – ehe sie, wie auf einer hölzernen, glatt gechmirgelten Rutsche durch ein dunkles Tunnelsystem mit überhöhter Geschwindigkeit einem hellen Licht entgegen schoss.
Dabei verspürte sie überhaupt keine Angst. Lediglich ein ungewohntes Kribbeln im Bauch und ein nasses Höschen zeugten davon, dass das Mädchen Neuland betrat.
Betrat ist vielleicht falsch ausgedrückt – sie wurde mit aller Macht hineingeschleudert. Schließlich setzte sie unsanft auf. Mit ihrer Wahrnehmung hatte sie - kurz nach der Landung - erhebliche Schwierigkeiten.
Zum Einen lag es an dem grellen, sie in die Augen stechenden Licht, was ihr eine Orientierung nur schwer ermöglichte – zum Anderen war da diese nie erlebte Weite.
Fräulein Lisbeth schaute sich um, nachdem sich ihre grüne Iris an das grelle, warme Sonnenlicht gewöhnt hatte. Sie befand sich in einem riesigen grünen Tal, umgeben von einem unglaublich hohen Gebirgsmassiv. In einiger Entfernung erblickte sie Lehmhütten.
Sonst gab es noch viele Bäume, welche – hier und da ein wenig Schatten spendend - die unterschiedlichsten Früchte trugen. Und Lebewesen auf vier Beinen.
Langsam erhob sie sich. Sie war in ihrem Leben nie viel gelaufen. Es war nie nötig und möglich gewesen. Sehr wacklig und mit tippelnden Schritten drehte sie sich lächelnd immer wieder um sich selbst. Bis ihr schwindlig wurde und sie lang in das weiche Gras fiel.
Da lag sie nun, schaute in den Himmel und freute sich ihrer neu gewonnenen Freiheit.

Iiaaah, Iiaaah!“, tönte es plötzlich und etwas rau-feuchtes strich immer wieder über ihre Fußsohlen und kitzelte ihre Füße.
Jupp!“, dachte sie und streichelte den Vierbeiner.
Der jedoch, war gar nicht gewillt und gewohnt, derartige Zärtlichkeiten über sich ergehen zu lassen und trat energisch auf Lisbeths linken Fuß. Das Fräulein winselte kurz und rieb sich ihr Gebein. Es schmerzte arg.
Nichts desto trotz ergriff sie den Schwanz des vierbeinigen Ungeheuers und zog sich an ihm hoch. Kaum dass sie aufrecht stand, schlug das Vieh aus und Lisbeth wurde auf einen Baum voller roter Früchte geschleudert.
Nachdem sie sich von ihrem Schrecken erholt hatte, machte sich ihr Magen bemerkbar. Ob vor Schmerz oder Hungergefühl, vermochte das Mädchen nicht zu unterscheiden..
Achtlos schlug sie sich den Bauch mit kernigem Obst voll.
Angst verspürte sie nach wie vor keine, aber sie konnte der Feindseligkeit der freien, weiten Welt nichts Erquickliches abgewinnen. Ihre Höhlenwände konnte sie herzen und behandeln wie es ihr gefiel, die wehrten sich nie.
Aber ein leichtes unbehagliches Gefühl schlich sich dann doch ein, als es in ihrem Magen fürchterlich zu rumoren begann.
Das Mädchen beobachtete das Grummeln, Murmeln und Knarren argwöhnisch. Plötzlich stieg doch eine größere Unruhe in des Mädels Seele und Gedärm auf, welche sich in einem kernigen, knallenden, die Hose durchschlagenden Furz entlud und Lisbeth mehrere hundert Meter hoch in die Luft katapultierte.
Nach Rutschen, Laufen und Springen, flog sie nun auch noch. Sie landete hart in einer engen Felsspalte.

Die Landung bereitete dem famosen - aber irrsinnigen - Gefühl unendlicher Freiheit ein jähes, schmerzhaftes Ende – gleichzeitig jedoch wusste sie, dass sie angekommen war. Angekommen, wo sie - ihrer Meinung nach - hin gehörte.
Während Lisbeth – Finger und Zehen fest in den Stein bohrend – die Wand hinab kletterte, hielt sie ihren Blick fest auf die immer kleiner werdenden Sonnenstrahlen geheftet.
Als das Fräulein wieder festen Boden unter den Füßen spürte, das Tageslicht sich zur Gänze verabschiedet hatte, huschte ein Lächeln über ihr junges, hübsches Gesicht.
Für Sekundenbruchteile erstrahlte die kleine Höhle in hellem –aus dem Inneren geborenen Glanz.
Sie setzte sich auf den Rest ihres Höschens und betrachtete ihre Füße. Der Linke war geschwollen, der Rechte zerkratzt. Zärtlich strich sie über die zerschundenen Laufwerkzeuge und sprach zu sich selbst: „WORF RGAU TMJES SCHTUR PNEUM!"
Nie wieder werdet ihr mich so weit tragen müssen!


(20,0)

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