Sonntag, 1. August 2010

Maria Tempel: Hartnäckige Kreuzschmerzen


Kinderlachen klang über die Erdbeerfelder: blutrote Spritzer im dunkelgrünen Meer, das - ansonsten schläfrig und träge, eingekesselt von kohlenmonoxidhustenden Autobahnen - in der drückenden Mittagshitze lag. Längst hatten die polnischen Saisonarbeiter, die kühle Morgenluft nutzend, das Feld von ihren rückenschonenden Liegekarren aus für heute abgeerntet. Seit einer Woche besaßen die Erntekarren erstmals Sonnenschutzdächer aus buntem Stoff, die dem morgendlichen Treiben den Anstrich eines Freizeitvergnügens gaben.
Schnatternde Schulkinder warfen auf ihrem Hinweg zur Schule neidische Blicke auf die Glücklichen, die den ganzen Morgen den Duft frischer Erdbeeren atmen durften. Sie selbst hingegen mussten in nach Druckerschwärze riechenden Geschichtsbüchern Hochglanzbilder ihrer zerbombten Stadt betrachten; aufgelockert durch ein Gespräch mit einem Zeitzeugen der Wende, während die Zeugen des untergegangenen Reiches langsam ausstarben.

Auf dem Heimweg jedoch warfen die Kinder ihre Fahrräder in die Holunderbüsche und zwängten sich durch ein Loch im Maschendrahtzaun, um die nachlässige Arbeit des Morgens gründlich zu vollenden. In der sanften Talsohle, die vom – aufwändig für 1,2 Millionen Euro renaturierten, jetzt mit gelbroten Bruchsteinen und grünem Gebüsch durchzogenen- trockenen Wildgraben beherrscht wurde, näherten sich langsam zwei Spaziergänger. Von ihnen drohte keine Gefahr, denn der Bauer wohnte weit weg und die polnischen Arbeiter würden erst am nächsten Morgen wiederkehren.

Unbeschwert sprangen die Kinder über die krümelig trockenen Felder, die Finger und Lippen rot verschmiert – bis der älteste Junge, er mochte 14 Jahre alt sein, plötzlich im Lauf inne hielt und sein Lachen abbrach. Eine schwere Regenwolke schob sich vor die Mittagssonne und verkündete vom Himmel herab das nahende Gewitter: was eine angenehme Abkühlung hätte sein können, ließ die Kinder, die sich jetzt hinter den erstarrten Ältesten scharten, plötzlich frösteln.
Aus der Erde ragte ein schlichtes Holzkreuz, ein Splitter, an dessen Fuß weiße Margeriten und blaue Natternköpfe in ihren gläsernen Särgen welkten.
Tomasz Rudzinski, * 28.09.1969 + 08.05.2005
Plötzlich wirkten die rotverschmierten Münder der Kinder wie das Lachen des Clowns, nachdem die Scheinwerfer verloschen sind.     


(19,3 P.)

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