Die Blicke in den verdammten Spiegel tun ihr weh – jeden Morgen.
Ruhig und regelmäßig tippen die Zeigefinger. Wie selbständige Wesen, die wissen, was zu tun ist. Sie hat nie gelernt, mit allen Fingern zu schreiben, wollte es nicht. Sie denkt langsam, so kommt sie nicht in die Verlegenheit, dass die Finger schneller schreiben könnten, als ihre Gedanken Formen annehmen.
Der schwache Anschlag der PC-Tastatur behagte ihr nicht, das harte Tackern der alten Schreibmaschine ist ihr lieber, wie alles, was einmal war, ihr mehr gefällt, auch nie eintauschen würde - bis auf jene Zeit.
Sie schimpft leise, der Kaffee wird zu schnell kalt. Sie fliegen auf den Mond, aber eine Tasse, die das bittere Gesöff lange genug heiß hält, erfinden sie nicht. Auch das Ticken der Wanduhr stört sie heute morgen. Bei nächster Gelegenheit wird sie sich so ein neumodisches Ding kaufen, das die Zeitsignale von einem Satelliten bekommt, das nicht zu hören ist, wenn die Stunden, Minuten und Sekunden vergehen - und sie nicht stets daran erinnert, wie begrenzt ihre Lebenszeit ist.
Wie beruhigend war das Hin und Her des Uhrpendels in ihrer Kindheit, wie sanft das feine Klicken an den Enden des Ausschlags. Ein Ereignis war es, als sie das erste Mal die Gewichte ziehen durfte, Mutter führte dabei ihre Hände. Noch lange hatte sie das Rasseln in den Ohren. Es zeigte den Beginn eines neuen Lebensabschnitts an, den sie nicht hatte erwarten können.
Immer häufiger wandern ihre Gedanken in letzter Zeit ab, wandern ab ins Irgendwo ihrer Erinnerungen und finden nur schwer zurück, enden immer wieder in der Sackgasse jener Schreckenszeit.
Ärgerlich nimmt sie den Faden des Geschriebenen wieder auf:
... missmutig wischt sie mit einem Stofftuch über ihre Stirn. Die Sommer werden jedes Jahr heißer, die Regenfälle seltener und heftiger. Die Welt rückt mit ihren zunehmenden Problemen zusammen, und wenn es zu eng wird, fallen die Menschen übereinander her, bis sie - ermüdet vom Kampf - auf Versöhnung drängen, nicht verstehend, was die Feindseligkeit ausgelöst hatte – bis zum nächsten Gewaltausbruch.
Das monotone Schlagen der Bahnräder behagte ihr erst, machte sie später schläfrig, dann wütend. Sie ist froh, den Bahnhof zu verlassen und den Sandweg des Waldes zu betreten. Eine sonderbare Stille liegt über allem. Nach dem Lärm in der Bahn, dem Schlagen der Türen an den Haltestellen und dem Lachen und Schreien junger Leute, fällt es ihr besonders auf. Kein Blatt regt sich, kein Vogel singt. Es ist Hochsommer ... Die Erinnerung an die Bahnfahrt im Viehwaggon treibt Schweiß aus allen Poren. Sie stößt heftiger als sonst den Stock in den Boden, um mit dem Geräusch zu beweisen, dass alles in Ordnung ist, dass sie noch im Leben steht. Noch!
Mit Überlegung hatte sie den Weg gewählt. Ein mühsamer, erinnerungsschwerer Weg. Sie kennt ihn, als Kind war sie diesen Pfad oft gegangen. Erst mit den Eltern, dann verbotener Weise allein. Er führt zu einer Schlucht mit grandioser Aussicht.
In ihrer Kindheit war es ein schmaler Weg, sie mussten hintereinander laufen. Heute ist er breit, hat zwei tief eingefahrene Spuren, um den Waldarbeitern und dem Förster Zeit zu sparen. Zeit aufsparen, wofür? Schneller an den Abgrund zu kommen?
Sie hat beschlossen, es wird ihr letzter Weg sein.
Das Schleifen ihrer Schuhe ärgert sie. Sie kann die Füße nicht mehr vom Boden heben. Heute verstimmt es sie besonders, verstärkt den Entschluss den letzten Schritt in die Schlucht ohne Zögern zu tun, dem Schmerz der Gicht und den Erinnerungen an den Krieg und das Lager ein Ende zu setzen.
Schon als Kind war es ihr Traum, einmal wie ein Vogel zu fliegen, den Luftzug auf dem Gesicht, die Haare wie Federn im Wind wehen zu fühlen.
Ihr Blick streift das Gelb einer Wiesenblume, ein Stück weiter freut sie ein ganzes Feld gelber Blumen. Blühender Holunder säumt den Wald. Sie vergisst den Schmerz in den Gliedern und genießt die Wärme der Sonne. Drüben, fast am Horizont, glitzert der Fluss wie Silber, weckt in ihr endlose Erinnerungen an ihre Kindheit – bis die anderen die Macht nutzten, um Krieg zu führen, Macht über Leben und Tod hatten.
Prachtvoll schmeichelte das dunkle Grün des Sommerlaubs am Ufer. Ihre Mutter leuchtete im Weiß ihres Kleides, der breite, geflochtene Hut zauberte hin- und herschwimmende Lichtpünktchen auf ihre Wangen. Sie ist früh gegangen, viel zu früh, hat das Lager nicht überlebt. Vielleicht gibt es im nächsten Leben ein Wiedersehen? Vielleicht ...
Sie unterbricht das Tippen, sieht auf die Uhr. Ihr Nachbar wird nach ihr sehen. Ein junger, hübscher Mann mit blauen Augen und blondem Haar. Sie erfreut sich an seiner Schönheit, denkt keinen Moment an eine Liaison – oder fast keinen Moment – schließlich kann sie ein teures Gemälde, eine wertvolle Skulptur auch nicht erstehen, nur bewundern. Dessen ungeachtet weckt sein Anblick Momente der Angst ...
Sie beschließt das Ende der Geschichte zu ändern. Der Sturz in die Schlucht kann warten – bis zu irgendeinem anderen Morgen.
(20,1 P.)
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