Donnerstag, 20. Oktober 2011

Katharina Jäschke: Früher-dort



Auf ihrem täglichen Gang über die endlos flache, küsten­grüne, bis zum Horizont einsehbare Weidelandschaft Nord­deutschlands begleitet die Frau stets das stille Glockengeläut des alten Breslauer Domes. Tag für Tag, Jahr um Jahr geht die Frau hier. Sie ist alt geworden und scheint wie das pastellblass verlaufende Sonnenlicht am Abend langsam zu erlöschen.
Pflichtbewusst hebt sie ihre müden Füße, Schritt für Schritt. Noch immer trägt sie ihre Nachtschatten farbenen Kleider, beschützt von einer ärmellosen Kittelschürze, früher aus grob gewebtem Leinen, heute aus leichtem, in der Sonne stumpf glänzendem Nylon. Abwechselnd erblühen darauf weiße Blümchen auf rosarot, lindgrün oder veilchenblau. Unverän­dert blickt die Frau aus traurig wissenden Augen, steif und unnahbar. Sorgfältig formt sie die weißer gewordenen Haare am Hinterkopf zu einem winzigen, altmodisch gewordenen Dutt. Tief haben sich Falten der Bitternis in ihr bleiches Gesicht gelegt.

Noch immer schiebt sich am Morgen der apfelsinenrote Sonnenball über die tiefe Horizontlinie, spiegeln die Wolken­streifen dieses frühe Licht wie ausgelaufenen roten Wein, und noch immer besänftigen oder bejubeln die am Abend aus dem scheinbaren Nichts erstrahlenden Planeten die Mühsal und die Freuden eines jeden Tages. Auch die alte Frau geht noch immer, ihre Schritte hallen über die Wiesen, so als schreite sie über einen gepflasterten Weg. Noch strebt sie voran. Stolz und verschlossen hütet sie ihr Geheimnis um viele vergan­gene, niemals zu heilende Verletzungen, die sie tief in sich vergraben hat. Ihr Blick scheint oft abwesend und erstarrt, nie schaut sie besänftigend, gütig oder freut sich lachend, schrankenlos. Manchmal scheinen ihre Schritte kürzer und schwerer zu werden, aber noch immer läuft sie ihren täglichen Gang.
Über die Deiche weht oft ein starker Wind aus Nordwest, trägt Wasser für die kommenden Sturmfluten herbei, aber je stärker der Wind drückt, um so deutlicher kann sie von Osten her die verklungenen Glocken hinter unsichtbaren Bergen hören.

Seit dem letzten Jahr wird die alte Frau oft von einem Kind begleitet. Es stolpert, rennt und umspringt die schweigsame Frau, greift immer wieder schutzsuchend nach ihrer großen, starken Hand. Ab und zu weht dann ein flüchtiges Lächeln über ihr Gesicht. Aber selten nur hält sie an, um sich von dem Kind am Wegrand Entdecktes zeigen zu lassen. Schau einmal, die Schafe. Schau einmal, eines ist schwarz. Und ein winziger junger Zeigefinger bohrt sich forschend in die Luft, weist hinüber, auf die von Wasseradern durchzogene Land­schaft, auf die Weide, zu den Deichen.

Gleichmütig, unbeirrt setzt die Frau ihren Gang festen Schrittes fort. Sie geht so, wie sie immer, seit ihrer Mädchen­zeit, gegangen ist. So, als müsste sie noch heute ein tägliches Ziel unbedingt und pünktlich, ohne vom Weg abzuweichen, erreichen.

Manchmal redet die Frau in einer dem Kind unbekannten Sprache, erzählt ihm Geschichten von einem fremden, fernen, scheinbar untergegangenen Land. Das Kind nennt es: früher dort. Gemeinsam entdecken sie dieses Land mit den anderen Sommern und den anderen Wintern, erkunden es wie eine noch unerforschte, kristallglitzernde Höhle. In diesem früher dort finden die fremden Laute ein freundlich tönendes Echo und sie verhallen schwerelos, wie ein bunter Regenbogen. Aber schon das plötzliche nahe Bellen eines Hundes kann das Kind wieder von der Frau entfernen, es blickt auf und sieht in eine lockende Zeit voller Lärm, vertrauter Stimmen, reizvoller Gerüche und greifbarer Dinge.
Oft beobachtet das Kind die alte Frau, wenn sie mit Menschen redet, die wie sie aus diesem fernen Land stammen. Es hört die Worte, deren Sinn es nur bruchstückweise erraten kann. Neugierig saugt es diesen melancholischen, rätselhaften Klang in sich auf. Es beobachtet, wie die Alte immer wieder die gleichen Geschichten erzählt, die in dem fremden Land mit den vielen unbekannten Menschen spielen. Das Kind ahnt, dass die fröhlichen Geschichten immer nur ein zusammenhangloser Abschnitt aus einer vergangenen Zeit, dass sie lückenhafte, kleine junge Lebensfetzen der alten Frau sind, dass in die Fröhlichkeit ein nicht zu zerreißendes Netz aus Wehmut und Bitternis gewoben ist und dass die fehlenden Mosaiksteine unaussprechlich und unerfragbar sind und nur in dieser ihm so fremd klingenden Sprache andeutungsweise genannt werden dürfen.
Das Kind steht abseits, die Höhle ist jetzt verschlossen. Es fühlt sich schuldig, weil es Worten lauscht, die Schlimmes bezeichnen und vorsichtig Schmerz andeuten, Worte wie: der Krieg, der Russe, der Pole, die Flucht, damals, früher dort. Unerlaubte Worte sind es, Worte nur für Erwachsene.

Das Kind wird die alte Frau noch einige Monate auf ihrem Weg begleiten, wird dann, wie ein Junge Jahre zuvor eine Zeit lang auf einem kleinen Fahrrad neben der Alten radeln, dann aber immer seltener neben ihr zu sehen sein und eines Tages ganz ausbleiben. Auch für dieses Kind wird die Zeit beginnen, in der es den ewig gleichen Erzählungen der Alten nur noch ungeduldig lächelnd folgen wird. Eines Tages wird das Kind es zum ersten Mal wagen, den vorsichtigen Redestrom der Alten schon am Anfang zu unterbrechen, um den Schluss, den es nun schon oft gehört haben wird, vorwegnehmend selbst zu erzählen. Das Kind wird davonstürmen, sich nicht mehr in der Höhle verkriechen, es wird leben wollen in seiner eigenen, lebendigen Welt.

Noch immer geht die alte Frau ihren Weg, einsam hört sie die verklungenen Glocken vom Breslauer Dom. Täglich noch trotzt sie dem Wind des norddeutschen Flachlandes. Ihr Kleid ist schwarz geworden, nur die bunten Farben ihrer Schürze wechseln, wie der Mond vom Neumond zum Vollmond und wieder zum Neumond wird.
Sie zählt die Verstorbenen, trifft immer seltener Lebende, um sich mit den von ihrer Kindheit her vertrauten Klängen zu umhüllen. Immer weniger wird sie von früher erzählen und das Glockengeläut vom Breslauer Dom wird schwächer gegen den scharfen Nordwestwind zu hören sein. Bald wird es verstummen und die alte Frau wird nicht mehr die frisch ausgehobenen Gräber zählen, sie wird endlich angekommen sein.



 Frau Katharina Jäschke Wiesbaden;


Text aus dem Schreibwettbewerb Friedenslesung 2011 des Kulturring in Berlin e.V.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen