Dienstag, 18. Oktober 2011

Lotte Brügmann-Eberhardt: "Weltfrieden"

Ich schrieb „Weltfrieden“ auf und wusste nicht,
wie abstrakt dieses Wort ist.

I
Damals hatte jeder von uns ein Freundebuch. Seitenweise, bücherweise Freunde – stolze Sammlungen von menschlichen Briefmarken gingen auf dem Schulhof um. Ich liebte diese Fragenkataloge, die alles und nichts von einem wissen wollten. Zwischen Lieblingssänger und Leibgericht war die Welt noch in Ordnung und ist sie auch heute noch.
Ich blättere durch die Seiten mit gesichtslosen Menschen, Freunden – „Foto reich ich nach“. Noch heute warte ich auf eines ihrer Gesichter, das nachgereicht wird, Augen lächeln mich an und sagen, welche Farbe am besten riecht. Und vielleicht würden sie zugeben, dass die Dinge anders gekommen sind als erwartet, dass „Weltfrieden“ ein viel zu unvernünftiger Begriff für die Mein-größter-Wunsch-für-die-Zukunft-Zeile ist. Auch ich hatte dieses furchtbar abstrakte Wort aufgeschrieben. Ich muss lachen, wenn ich es heute lese.

Merkwürdig, was für eine Art Realismus uns die Welt lehrt. Die Vernunft verbietet selbst das Sich-Wünschen. Fast unvernünftig, sich etwas nicht zu wünschen, nur weil die Vernunft sagt, es sei aussichtslos – so nimmt die Vernunft uns die Aussicht auf Erfüllung und unsere Liebe zur Vernunft nimmt die Aussicht auf die Aussicht auf Erfüllung. Unsere Wünsche bleiben unerfüllt, das Unerfüllbare wird zur Posse. Der Mensch als vernunftbegabtes Wesen lernt, über das Wort „Weltfrieden“ und die, die es ernstgemeint in den Mund nehmen, zu lachen.
Er lacht über sich selbst.

II
Heute lache ich über Filme, in denen es ein Happyend gibt, schalte aber die Nachrichten weg, um sie zu sehen. Ich will keinen Krieg sehen, keine Aufstände und Attentate. Ich will nichts wissen von Hass und Menschenverachtung, will keine Terroristen und Staatsoberhäupter, will nicht die verlogene Wahrheit, will wahre Lügen. Will mich von den Medien betrügen lassen, will Weltfrieden. Konsumierbaren Weltfrieden. Nicht den, den ich als Kind wollte, nicht den, an den man glauben kann.

Wenn einer im Film sterben muss, das ist Film, das ist nicht echt, alles Ketschup. Wenn einer in den Nachrichten sterben muss, wenn ganz viele sterben müssen, das kann man nicht abschalten. Man kann die Unmenschlichkeit nicht abschalten.
Es gibt keine Fernbedienung, auf der „Weltfrieden“ steht.


Wir müssen die Welt mit unserer Vernunft erfassen oder mit der Television. Müssen versprachlichen und abstrahieren, müssen in Formeln fassen und deuten, müssen filtrieren und umschreiben, müssen ausradieren und neukreieren – die Augen vor dem Eigentlichen verschließen. Was-ist-wenn-Fragen, philosophische Dilemmata, unlösbare Gleichungen – die eine-Millionen-Euro-Frage lautet: „Gibt es den Weltfrieden? – ja, nein, vielleicht, ich mag Toastbrot.“ Ich überlege, ich schließe aus, ich kombiniere:

Es gibt kein Synonym.
Es gibt keine Relativierung.
Es gibt keinen Beweis für seine Existenz.
Also gibt es keinen Weltfrieden.

Ich löse die Frage, von meinem virtuellen Gewinn kaufe ich mir virtuelles Glück. Wen stört es, dass es keinen Weltfrieden gibt, wenn man Pay-TV haben kann. Mein Lieblingsfilm, meine Lieblingsserie – Lachend folge ich dem Regenbogen in mein Lieblingsleben. Ich reibe an einer Wunderlampe und habe drei Wünsche frei. Ich weiß nicht, was ich mir wünschen soll, jetzt, da ich zwischen 200 Sendern wählen kann.

III
Das alte Freundebuch liegt aufgeschlagen vor mir. Ich lache, „Weltfrieden“ ist so ein abstraktes Wort. Fast alle meiner dokumentierten Freunde haben es aufgeschrieben. Ich wünschte, sie hätten ein Foto nachgereicht, damit ich in ihren Augen sehen könnte, dass sie es wirklich ernst meinten. Das wäre besser als Fernsehen, das wäre echt. Ich frage mich, ob ich einen von ihnen wiedererkennen würde – auf dem Foto erkenne ich mich selbst nicht. Auch meine Schrift hat sich verändert, meine Worte und die Gedanken zwischen den Worten. Heute würde ich nicht mehr „Weltfrieden“ in die Mein-größter-Wunsch-für-die-Zukunft-Zeile schreiben.

Der Flaschengeist wartet geduldig auf meine Antwort. Was wünsche ich mir? Ich will nicht, dass er über mich lacht. Mich auslacht für meine Wünsche. Die Werbung lebt vor, was man sich zu wünschen hat, den Rest zeigen Filme. Lieblingsfilm, Lieblingsserie.

Mein Freundebuch ist nie ganz voll geworden. Ich habe nie gut genug gesammelt. Eines Tages ist man zu alt für Freundebücher. Wenn ich die Nachrichten anschaue, denke ich, es wäre sicherer, wenn man wieder eins hätte. Was wäre wenn – und ich weiß nicht einmal, ob sie eine Lieblingsfarbe hatte. Ich nehme mir vor, die Welt zu verändern und gebe mein Freundebuch an jemanden, den ich „Freund“ nenne.

Freund“ ist ein furchtbar abstraktes Wort.

Als ich es zurückbekomme, lese ich in der Mein-größter-Wunsch-für-die-Zukunft-Zeile:

  1. dass es noch Menschen gibt, die sich Weltfrieden wünschen.
  2. dass niemand über Menschen lacht, die sich Weltfrieden wünschen.
  3. dass Menschen, die sich Weltfrieden wünschen, nicht über sich selbst lachen.

Ich begreife, dass das fast erfüllbarer Weltfrieden wäre – vernünftiger Weltfrieden, doch der Flaschengeist ist verschwunden, kein Pay-TV, keine virtuelle Millionen, denn meine Antwort war falsch:

Es gibt keinen Beweis für seine Existenz, aber jemanden, der sich „Freund“ nennt und eine Anleitung hat. Vielleicht scheitert sein Experiment, vielleicht liegt er falsch, vielleicht ist es unvernünftig – vielleicht gibt es Weltfrieden.











Lotte Brügmann-Eberhardt Kiel


Text aus dem Schreibwettbewerb Friedenslesung 2011 des Kulturring in Berlin e.V.

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