Mittwoch, 26. Oktober 2011

Manuela Jäkel: Frau Boisenbergs Nummer





Die Boisenbergs verbringen bei gutem Wetter jeden Nachmittag in ihren Liegestühlen auf dem gepflegten Rasen hinter der weißgetünchten Villa.Die Liegestühle stehen immer an derselben Stelle, dicht nebeneinander, so dicht , dass die Armlehnen sich berühren. Von den dunkelroten Marmorplatten der Terrasse führen zwei Reifenspuren zum Ruheplatz Frau Boisenbergs. Dort hebt ihr Mann sie aus dem Rollstuhl und lässt sie vorsichtig auf die Liege gleiten, bevor er sich neben sie setzt. „Lass mich doch im Rollstuhl sitzen, das tut deinem Rücken nicht gut, mich dauernd zu heben,“ sagt sie oft. „Aber hier,“ sagt dann Herr Boisenberg und klopft auf seine linke Brustseite, „hier tut’s mir gut, also mache ich’s, solange ich kann.“ Die Meinung der Nachbarschafft ist allerdings, dass seine Fürsorge Herrn Boisenbergs Geldbeutel gut tut. Seine Frau ist sechs Jahre älter als er. Ihr Vater war Chefarzt an einer renommierten Klinik und das Haus, der gepflegte Garten und die kostbaren Marmorplatten gehören genau genommen ihr. „Wenn die mal das Zeitliche segnet, und glauben Sie mir, so wie die aussieht dauert es nicht mehr lange, ist er ein gemachter Mann.“ Das ist Klaras Meinung und der Metzgersfrau widerspricht selten einer. Der, der es wahrscheinlich getan hätte, Herr Boisenberg selber, geht selten einkaufen. Sophie, die Kleine von Bergers mit den Korkenzieherlocken, macht hin und wieder ein paar Besorgungen für die Boisenbergs. Größere Lieferungen werden ins Haus geschickt. Das Ehepaar geht nie auf Besuch und niemand aus dem Ort ist jemals in der Villa gewesen. So sind sie mit den Jahren zum beliebtesten Thema bei den Klatschmäulern der Kleinstadt avanciert. Bis die Aussiedler kommen. Direktor Siebel muss trotz schwerer Proteste seiner Anwälte die ungenutzte Fabrikhalle zur Verfügung stellen. Plötzlich ist wieder Leben in dem alten Gemäuer, huschen Schatten hinter den beschlagenen Fenstern umher, fremde Gerüche und Gesänge dringen auf die Straße. Manchmal geht eines der Fenster auf und blasse Gesichter blicken ernst in die fremde Welt. Lächeln tun sie nur manchmal, wenn die Lennstedter Kinder auf ihrem Schulweg vorbeikommen. Dann winken sie und die Kinder winken zurück. Bis es die Eltern verbieten. Einige sprechen im Rathaus vor, ob es da denn gar keine Möglichkeit gäbe. „Jetzt denken Sie nichts Falsches, Herr Bürgermeister, ich habe ja nichts gegen die persönlich, aber so viele und so dicht dran, verstehen Sie? Neulich stand einer drüben beim Kinderspielplatz und hat die ganze Zeit zu den Schaukeln rübergesehen ...“ Der Bürgermeister rückt unbehaglich an seiner Krawatte und schüttelt bedauernd den Kopf.
Bald sind sie überall: Auf dem Spielplatz, an der Bushaltestelle, auf der Hauptstraße und natürlich beim Einkaufen. Kinder starren, Jugendliche kichern hinter vorgehaltener Hand und Frauen sehen schnell zur Seite, wenn die Fremden im Supermarkt erscheinen, in den Hosen, Röcken und T-shirts aus der kirchlichen Kleiderkammer, blasse Gesichter unter dunklen Haarschöpfen, denen man die slawische Abstammung deutlich ansieht, zu deutlich für die Bewohner einer süddeutschen Kleinstadt. „Irgendwie anders eben.“ Klara spricht es aus, während sie drei Pfund Schweinebraten einpackt und die Kunden im Laden nicken beifällig. Ansonsten versucht man „die aus der Fabrik“ so gut es geht zu ignorieren.
Dann passiert der Vorfall mit den Siebel-Kindern. An der Kasse im Supermarkt gibt es diese leckeren Kaugummis, mit denen man Riesenblasen machen kann. „Bitte greifen Sie zu!“ steht auf einem überdimensionalen Plastikschild. Und der fünfjährige Norbert Siebel greift zu. Im nächsten Augenblick sieht Wilfried, sein älterer Bruder, einen großen Mann in schwarzer Lederjacke auf sie zukommen. Er handelt instinktiv. Seinem Bruder das Päckchen entreißen und es in den Korb eines fremden Mädchens fallen lassen, ist eins. Schon ist der Hausdetektiv da. „Die war’s!“ Wilfried weist energisch auf das zitternde Wesen mit den wasserblauen Augen. „Die war’s, die war’s,“ echot Norbert fröhlich. Alle Augen sind auf das Mädchen und einen hageren Mann gerichtet, an dessen Hosenbeine sich das Kind geklammert hat. Schon geht der Detektiv auf die Fremden zu.
Halt!“ Eine Stimme donnert durch den Verkaufsraum, dass die Marmeladengläser klirren. Niemand hat vorher Herrn Boisenberg bemerkt. Nun steht er vor Wilfried Siebel und brüllt mit einer Stimme, die ihm nicht zu gehören scheint: „Schämst du dich nicht? Dein Bruder stiehlt und du schiebst die Tat einer Unschuldigen in die Schuhe, die sich nicht wehren kann, weil sie unsere Sprache nicht spricht! Pfui Teufel, sag ich, pfui Teufel!“ Und der ruhige, zurückhaltende Mann aus der Nordstadtvilla spuckt tatsächlich auf den Kachelboden im Supermarkt. Doch damit nicht genug. Er geht zu den Fremden hin und lächelt Vater und Tochter freundlich an. „Entschuldigen Sie bitte!“ Gemeinsam verlassen sie die Einkaufshallen. „Recht gehabt hat er ja,“ verkündet Klara am nächsten Tag jedem, der es wissen will, „aber entschuldigen muss man sich bei denen nun nicht gerade. Sonst kriegen die hier noch Oberwasser!“
Von nun an hilft der Fremde den Boisenbergs öfter im Garten. Herr Boisenberg hat im Schuppen ein Brett aufgetrieben und es an zwei Seilen in den Kirschbaum gehängt. Darauf sieht man die kleine Davina oft schaukeln, während ihr Vater die Beete umgräbt. Manchmal spielen sie auch mit Frau Boisenberg am Gartentisch „Mensch-ärgere-dich-nicht“. Als alles zu spät ist, wird sich keiner erinnern wer das Gerücht in Umlauf gebracht hat, aber schließlich ist der neue „Hilfsgärtner“ junger Witwer und er hat so etwas Wildes im Blick. Sie ist zweifellos alt und invalid dazu, aber trotzdem doch gepflegt und natürlich ungeheuer wohlhabend. „Der Alte kann einem beinahe Leid tun,“ meint Ella aus dem Schuhgeschäft, „und dabei hat er den Kerl mit seinen stechenden Augen selber ins Haus gebracht. Die Russen sollen ja brutal sein, aber mancher gefällt’s halt.“ Frau Berger, ihre Freundin, schüttelt nur fassungslos den Kopf. „Auf jeden Fall wird Sophie da nicht mehr hingehen. Wer weiß, was noch alles passiert!“
Es passiert am Samstag Nachmittag.
Sophie wird auf dem Heimweg vom Spielplatz überfallen. Der Täter zerreißt ihr Kleid und nur weil sie wie am Spieß schreit, lässt er von ihr ab. Das Mädchen steht unter Schock und kann keinerlei Beschreibung abgeben. In dieser Nacht marschieren hundert Lennstedter Bürger zur Fabrik. Boisenbergs beobachten die Szene vom Fenster aus. „Asylanten raus, Sexualschweine nach Haus!“ skandieren die Menschen. Dann klirren die ersten Scheiben. „Mein Gott, Davina ist doch da drin!“ Frau Boisenberg umklammert die Armlehnen ihres Rollstuhls. „Und die anderen Kinder, mein Gott, sie werden doch den Kindern nichts tun, oder?“ Ihr Mann nimmt ihre Hand. Schweigend starren sie hinaus. Niemand kann später erklären, warum die Polizei erst eine Stunde später eintrifft. Nur mit Mühe kann sie die Menschen auseinander treiben. Ein Notarztwagen kommt mit heulenden Sirenen heran. Automatisch macht man die Gasse zur Fabrik frei, aber die Ambulanz hält vor der Villa. Frau Boisenberg wird herausgebracht, mit kalkweißem Gesicht folgt ihr Mann der Trage. Im Schein des zuckenden Blaulichts kann man lesen, was an die weiße Fassade der Villa gesprüht steht: RUSSENLIEBCHEN. Auch wer dafür verantwortlich ist, wird niemals geklärt werden. Frau Boisenberg stirbt in der gleichen Nacht an Herzversagen.
Am Morgen erscheint ein Kriminalkommissar im Haus der Familie Berger und informiert Sophies Eltern offiziell über die Festnahme eines Jugendlichen aus der Nachbarschaft. Der Sohn aus gutem Hause hat den Überfall beim Spielplatz bereits gestanden. Es war eine Art Mutprobe, um in die begehrte Clique aufgenommen zu werden.
Eine Woche später wird Frau Boisenberg beigesetzt. „Unter großer Anteilnahme der Bevölkerung“ wird es am nächsten Tag im Stadtanzeiger heißen. „Man muss natürlich hin,“ da sind Klara und Ella sich einig. Die meisten Bewohner haben übergroße Kränze und Blumensträuße bestellt. In der Kapelle stockt ihnen allerdings kurz der Atem. Vor dem Altar steht ein Rabbi. „Na, da soll doch...,“ stottert Direktor Siebel. „Ich hatte keine Ahnung, bei Gott, nicht die geringste,“ antwortet der Bürgermeister halblaut. „Das ist ja vielleicht ‚ne Nummer!“ hört man aus den Reihen der Jugendlichen. „Papa, woher weiß der das mit der Nummer?“ Das ist Sophies ernstes Kinderstimmchen. Sie hat darauf bestanden, heute dabei zu sein.
Welche Nummer meinst du?“ fragt ihr Vater zurück. „Natürlich die auf dem Arm von der Frau Boisenberg! Die geht nie wieder weg, auch nicht beim Waschen!“ Alle Augen sind plötzlich auf Sophie gerichtet, die die Aufmerksamkeit sichtlich genießt. „Die war als Kind in einem Lager, das sah fast so aus, wie die Fabrik hier. „Hiller, glaub’ ich...,“ die Kinderstirn legt sich einen Moment in Falten, dann kommt es stolz: „Jetzt weiß ich’s wieder: Hitler hieß der Besitzer von dem Lager!“ In diesem Moment beginnt der Rabbi die Trauerrede.





Text aus dem Schreibwettbewerb Friedenslesung 2011 des Kulturring in Berlin e.V.

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