Donnerstag, 10. März 2011

Michael Obert: Das Projektil

 
Ich sah das Mündungsfeuer, die Kugel, wie sie auf mich zukroch, langsam auf mich zukroch, sich ihren Weg durch die Dämmerung fraß, eine Made in morschem Holz, sah ihren Kopf – silbern, geriffelt, leicht verrußt –, sah diesen Kopf vor mir, so nah, dass meine Augen sich kreuzten und ihn verdoppelten, sah ihn, sah ihn nicht, spürte, wie das Glück in mich eindrang, wo mein Nasenrücken in die Stirn tauchte, unter der er sich fortsetzte wie ein Eisberg unter polaren Wassern, in einer unsichtbaren Linie, der das Projektil folgte, während Eis splitterte, eine Robbe schrie und sich kochendes Wasser eitergelb färbte, dann brombeerschwarz, aufgeladen vom magnetischen Feld völliger Fremde, einer Rundung jenseits des Verstands, jeden Verstands und jeden Verstehens, jenseits des Diesseits, und mein sinkender Körper blätterte in den Seiten des Kalenders, Tage, die kühler werden mit jedem Millibar, das sich zusätzlich auf die Brust legt – dann erst hörte ich den Knall. Ich habe immer gewusst, dass in Kandahar, Afghanistan, mein Leben sich wenden würde.

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