Sonntag, 13. März 2011

Oliver Meiser: WAS ZIVILES...

 
Ein Lausbub tobte wild im Stadtpark herum. Mit seinem Schwert aus Holz schlug er beherzt auf die Büsche und freute sich, wenn sie ihre gerade erst ausgetriebenen Blätter ließen oder ein brütender Vogel aufgeschreckt von dannen flog.
Da sah der Junge ein sechzehnjähriges Mädchen im Rollstuhl sitzen, das, lesend, die Frühlingssonnenstrahlen genoß. Er machte halt, stützte sich auf sein Schwert und fixierte das Mädchen frech.
„Muß das fade sein, so herumzusitzen!“, sagte er, mit einem Ausdruck des Mitleids und gleichzeitiger, eiskalter Verachtung. 
„Gar nicht fade!“, antwortete das Mädchen selbstbewußt, während sie ihre Lektüre auf den Schoß sinken ließ und den Jungen anlächelte.
„Ist dein Buch denn wenigstens spannend?“, wollte der Junge neugierig wissen. Er reckte den Hals und kniff die Augen zu, um etwas vom Inhalt des Buches zu erfassen.
„Ich lese Frühlingsgedichte. Das ist schön!“, sagte das Mädchen, gut gelaunt, und zeigte die Titelseite ihres Buches.
„So was ist doch furchtbar langweilig! In Wirklichkeit willst du auch herumtollen, so wie ich!“, behauptete der Junge steif.
„Will ich nicht! Ich bin ja schon von Geburt an gelähmt und kenne das Leben nicht anders!“, entgegnete das Mädchen trotzig, obwohl bitterer Schmerz ihre Seele durchfuhr.
„Egal! Jeder normale Mensch will vernünftig laufen können! Statt dessen mußt du doofe Gedichte lesen – weil du nämlich nicht viel anderes kannst!“, spottete der Junge und stieß zur Bekräftigung seiner Behauptung sein Holzschwert in das Blumenbeet neben dem Weg.
„Ich bin aber kein normaler Mensch und es ist doch einerlei, ob man vernünftig laufen, stehen oder sitzen kann: Hauptsache vernünftig!“, gab das Mädchen zu denken.
„Trotzdem: Aus dir wird nie etwas!“, feixte der Junge herablassend.
„Woher willst du das denn wissen!“, entrüstete sich das Mädchen.
„Aus dir kann gar nichts werden! Weil du ja nur dasitzen kannst und dazu auch noch ein Mädchen bist! Du weißt das auch genau. Sonst würdest du jetzt nicht gleich heulen!“, behauptete der Junge.
„Aus mir wird wohl etwas! Ich werde eine Dichterin! Aber davon verstehst du Dumpfbacke ja sowieso nichts!“, verteidigte sich das Mädchen gekränkt und kämpfte nun wirklich mit den Tränen.
„Puh, ist das alles öde! Ich jedenfalls werde mal Soldat und erobere die ganze Welt!“, prahlte der Junge.
„Dann paß bloß auf, daß du nicht irgendwann auch im Rollstuhl sitzt!“, schimpfte plötzlich ein alter Mann, der auf einer Bank gegenüber saß und das Streitgespräch  der beiden interessiert mitverfolgt hatte. Das eine Hosenbein des Mannes hing schlaff herunter und an der Bank lehnten zwei Krückstöcke. „Ich war nämlich Soldat!“, erzählte er. „Aber weil ich es werden mußte, nicht etwa, weil ich es damals gewollt hätte! Lieber wäre ich etwas anderes geworden!“, fügte er verbittert hinzu.
„Was denn?“ fragte der Junge neugierig.
„Ach, ich weiß auch nicht. Alles andere! Sogar Müllmann, Kanalarbeiter oder Kloputzer! Hauptsache irgend etwas Ziviles!“, antwortete der Veteran.
„Was kann man denn sonst noch so werden, wenn man kein Soldat werden soll? Ich meine, außer Müllmann, Kanalarbeiter oder Kloputzer? Möglichst etwas, womit man die ganze Welt erobern kann?“, fragte der Junge weiter.
„Na, vielleicht zum Beispiel Dichter, so wie die nette junge Dame dort!“, empfahl der Veteran, jetzt verschmitzt lächelnd, und erklärte: „Da eroberst du die Herzen vieler Menschen; wenn du bekannt wirst, vielleicht auf der ganzen Welt!“. Die Augen des Alten strahlten und auch die Miene des Mädchens erhellte sich wieder, während sie leicht errötete.
„Ist das denn was Ziviles?“, wollte der Junge wissen.
„Nicht nur zivil, sondern auch sehr zivilisiert!“, pflichtete der Veteran bei.
„Aber: Braucht man denn einen Dichter?“, fragte der Junge nach einem Moment des Überlegens.
„Und? Was glaubst du?: Braucht man denn unbedingt Soldaten?“, fragte der alte Mann zurück. „Die verbraucht man meistens nur: als Kanonenfutter für die Reichen und Mächtigen nämlich! Von so etwas hat zumindest meine Generation weiß Gott genug gehabt, auch wenn klar ist, daß bei diesen Sachen nur selten die da oben die alleinige Verantwortung tragen. Andernfalls gäbe es vermutlich keine Kriege und die Regierenden müßten ihren Händel persönlich mit Boxhandschuhen in irgendeiner Sporthalle austragen. Da sind halt immer die einen, die machen und die anderen, die mit-machen. Krieg oder Frieden fängt im Kopf von jedem Einzelnen an – noch lange bevor eine Waffe geschmiedet und ein Panzer zusammengeschraubt ist!....
Wenn ich so im Nachhinein überlege“, fuhr der Veteran nach einer Weile fort, „hatte ich eigentlich, muß ich sagen, bei dem ganzen Unfug noch Glück! Ich habe ja „nur“ ein Bein verloren. Damals  war ich erst neunzehn und dachte: Jetzt bricht die Welt, die äußerlich schon überall in Trümmern lag, für mich persönlich noch einmal extra zusammen! Denn vor dem Krieg kannte ich das Leben anders: Schwimmen, Radfahren, Fußball... Und ob man nicht vernünftig laufen kann, weil man gelähmt ist oder weil die Weltgeschichte nicht vernünftig gelaufen ist, sind doch noch einmal zweierlei sehr verschiedene Paar Stiefel. Wobei letzteres eigentlich kein Paar, sondern nur ein einzelner Schuh ist: Der andere ist ja“ – der Alte lachte zynisch – „ samt Bein irgendwo in Rußland geblieben...
Na ja, ich habe dann gelernt, daß man auch mit einem Bein schwimmen und radfahren kann. Nur mit dem Fußball war es etwas schwierig. Das Leben ging schon weiter, aber sein müssen hätte, was damals passiert ist, trotzdem nicht“.
Der Veteran sah, nach einer Pause des Schweigens, wieder hinüber zum Mädchen und erklärte:
„Lesen hat mir übrigens danach auch viel Trost gegeben; auch oder vor allem Gedichte. Aber manche Schriftsteller hätten wir besser schon mal vor dem Krieg gelesen! Vielleicht hätte jeder für sich gewisse Zeichen erkennen und irgendwie darauf reagieren können...“
Der Junge hatte sein Holzschwert schon längst vergessen, während das Mädchen ihr Buch angespannt umklammert hielt. Der alte, kriegsinvalide Mann nickte ihnen nun freundlich zu, griff nach seinen Krücken und begann sich zu erheben
 „Ihr beiden“, schlug er vor, „habt ihr nicht Lust, mit mir rüber zum Friedhof zu spazieren? Dann erzähl’ ich euch weiter, wie es damals so war und zeig’ euch, wo meine Kameraden liegen!“...

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