Freitag, 11. März 2011

Oelmann, Vera: Der Feind ist jung und schön

 
Einmal habe ich den Feind aus der Nähe gesehen. Er war jung und schön und hatte große dunkle Augen, die ganz erstaunt in den Himmel sahen. So, als erblicke er dort etwas sehr Schönes und Wunderbares. Und ich hoffe noch heute, dass er es wirklich gesehen hat.
 
Er lag mit ausgebreiteten Armen auf dem Hahnweg direkt vor der Tür des kleinen Zöllnerhäuschens meiner Großmutter in Braubach am Rhein. Von seiner Leiste führte eine dünne rote Spur bis zum Rinnstein und weiter bis zum Gully.
 
Es war im Frühjahr 1945, unmittelbar vor dem Ende des zweiten Weltkriegs. Uns Kindern war es strikt versagt, nach den Straßenkämpfen vor die Tür zu gehen, weil wir die vielen Toten nicht sehen sollten. Am Morgen ist jemand vom Bürgermeisteramt mit einem Sprachrohr durch die Stadt gegangen und hat dieses Verbot verkündet. Aber ich habe das Fenster und den grünen Holzladen in der Wohnstube geöffnet und mir den Franzmann angesehen. „Franzmann“. So nannten sie damals die Franzosen, die über den Rhein gekommen waren um zurückzuschlagen für das, was die deutsche Wehrmacht in Frankreich angerichtet hatte.
 
Ganz lange habe ich ihn mir angeschaut, den jungen toten Soldaten, und ich fand überhaupt nichts Feindliches an ihm. Im Gegenteil. Ein bisschen sah er aus mit seinen halblangen dunklen Haaren, dem feinen Gesicht und der schmucken Uniform wie der Prinz, der Dornröschen vom hundertjährigen Schlaf erweckt hatte und der sich nun selbst nach dem Kampf mit der Dornenhecke ein wenig ausruhte.
 
Es war zum ersten Mal in meinem damals fünfjährigen Leben, dass ich einen Jungen so ausgiebig und lange betrachtete. Und es war in der Tat noch ein Junge, denn er zählte kaum 17 Lenze. „Das soll der Feind sein?“ Ich konnte es gar nicht glauben. Und wenn ich mir in späteren Jahren mein Leben vorstellte, wenn ich Geschichten und Gedichte schrieb, so sah der jugendliche Liebhaber, der Held darin immer ein wenig aus wie jener junge tote Soldat.
 
Großmutter ertappte mich bei meinen heimlichen, versonnenen Betrachtungen. Aber sie schalt nicht mit mir, weil ich gegen das Verbot einfach das Fenster geöffnet hatte. Sie schaute auf den toten Jungen und ich sag, dass ihre Augen ganz feucht wurden. „Dieser verdammte Krieg,“ entfuhr es ihr zornig. „So ein junger Bursche! So ein Bub! Mein Gott, die arme Mutter! Es ist eine Schande!“
„Aber,“ so sprach sie weiter und es klang als ob sie sich selbst trösten müsse, „seine Seele ist nun im Himmel. Ja, seine Seele ist bei Gott.“
„Und da ist immer Frieden”, fügte sie nach einer Weile leise hinzu.
 
„Meinst du denn, Großmutter, dass Soldaten auch in den Himmel kommen? Sie schießen doch die Menschen tot!“ Sie sah mich groß an, indem sie mir über das Haar strich, ihren Arm um mich legte und mich an sich drückte. „Aber gewiss, Kind. Natürlich kommen sie in den Himmel! Da bin ich ganz sicher. Denn schau, dieser Junge ist bestimmt nicht aus Übermut in den Krieg gezogen und aus Lust am Töten. Wahrscheinlich wurde er ebenso gezwungen wie so viele unserer Männer.“ „Wieso gezwungen, Großmutter?“ Fragend sah ich sie an. „Man kann doch niemanden zwingen, zu schießen. Der braucht das doch einfach nicht zu tun. Ich jedenfalls würde das nicht tun, auch wenn man mir das noch so oft befiehlt!“ Großmutter nickte: „Wenn alle so denken würden, Kind gäbe es keine Kriege. Das wäre schön. Aber leider denken nicht alle so. Schau mal, selbst ihr Kinder zankt und streitet euch ja auch ab und zu und manchmal schlagt ihr euch sogar. Wenn einer anfängt zu schlagen, schlägt der andere zurück, weil er kein Feigling sein will. Damit fängt es an. Dann greifen die Freunde ein, um zu helfen und am Ende weiß keiner mehr so ganz genau, worum eigentlich gestritten wird. Siehst du, das ist dann auch schon ein kleiner Krieg.“
 
Das verstand ich. „Und bei den Erwachsenen ist das ebenso?“ „Ja, jedenfalls sehr ähnlich. Nur viel, viel schlimmer, denn die Erwachsenen kämpfen nicht nur mit den Fäusten, sondern mit Panzern und Flugzeugen, mit Bomben, Raketen, Kanonen, Giftgas und Gewehren. Wenn die Großen, die ein Land regieren, sich streiten, geht es meistens um Macht, um Geld, um Landbesitz oder um den Glauben. Dann kämpfen aber nicht die Regierenden gegeneinander, sondern sie befehlen ganz einfach ihren Untertanen, das für sie zu tun. Das ist ja das Verbrechen. Sie geben einfach den Befehl, Krieg zu führen! Und wehe, jemand weigert sich, in den Krieg zu ziehen! Befehl ist Befehl, da müssen alle gehorchen. Und wenn einer nicht mitmachen will, dann ist er ein Befehlsverweigerer, ein Deserteur, dann wird er eingesperrt oder sogar getötet.“
 
Mir stockte der Atem, und empört rief ich dazwischen: „Das ist ja fürchterlich, Großmutter! Das ist ja eine richtige Gemeinheit, ein Verbrechen!“ „Ist es auch, Kind. Dein Vater zum Beispiel würde doch jetzt auch viel lieber mit dir spielen, zur Arbeit gehen und Geld für euch verdienen oder im Garten Blumen und Gemüse pflanzen, anstatt draußen an der Front zu kämpfen. Aber er muss. Denn im Kampf hat er wenigstens noch eine kleine Chance, am Leben zu bleiben. Wenn er sich geweigert hätte, wäre er schon verhaftet worden, vielleicht sogar schon tot. Glaub mir“, fügte sie hinzu, „eigentlich wollen die wenigsten Soldaten töten. Sie wollen beschützen. Nämlich das, was sie lieb haben: ihre Kinder, ihre Frauen, ihre Tiere und natürlich auch ihr Land, ihre Stadt und das Haus, in dem sie wohnen. Ja, wenn sich alle Väter der Welt gemeinsam weigern würden, in den Krieg zu ziehen, dann gäbe es vielleicht eine Chance, in Frieden zu leben. Aber das bleibt wohl immer ein schöner Traum, denn die Menschen sind sich selten einig.“
 
„Aber der junge Soldat dort ist doch noch gar kein Vater, Großmutter. Er sieht ja aus wie ein Schulbub. Warum war der denn im Krieg?“ wagte ich einzuwenden. Großmutter schluckte. „Ja, das ist er sicher auch noch. Es ist ganz schrecklich! Weißt du, wenn die erwachsenen Männer in so einem fürchterlichen Krieg verwundet, gefangen genommen oder sogar tot und nicht mehr für den Krieg zu gebrauchen sind, dann holen sie einfach die Kinder, die noch zur Schule gehen oder die jungen Burschen, die gerade damit begonnen haben, einen Beruf zu erlernen oder zu studieren.“
 
Ganz interessiert und sehr aufgeregt lauschte ich dem, was Großmutter sagte, während ich meine Augen nicht von dem toten Jungen wenden konnte. Richtig zornig wurde sie, als sie
fortfuhr: „Wer sich Krieg ausdenkt, ist ein Verbrecher! Er muss entweder den Teufel im Leib haben oder sehr krank im Kopf sein. In jedem Fall gehört er weggesperrt! entweder ins Gefängnis oder in eine Heilanstalt. Denn Krieg ist immer eine ganz entsetzliche Sache. Für alle, die damit beginnen und für alle, die hineingezogen werden. Und meistens trifft es dann auch noch die Unschuldigen, die gar keinen Krieg wollten, die Frauen, die Kinder und diesen Bub da!“ Großmutters Augen blitzten. Erstaunt sah ich sie an. So kannte ich sie gar nicht. Sie die immer so gern lachte und uns Kindern Geschichten und Märchen erzählte, die mit uns sang und tanzte, sah plötzlich selbst aus wie eine mutige Kämpferin. Aber ich merkte sehr wohl, dass sie auf ihre Art für etwas sehr Gutes, nämlich für eine friedliche Welt kämpfte.
 
Nach einer Weile des Schweigens, in der sie erschöpft die Augen schloss und vor sich hin nickte, so als müsse sie das, was sie von sich gegeben hatte, sich noch einmal selbst bestätigen, sagte sie leise: „Krieg ist die Hölle auf Erden!“ Fast drohend schaute sie nach oben und fügte flüsternd hinzu: „Und der liebe Gott wäre kein lieber Gott, wenn er die Menschen, die auf Erden schon die Hölle erlebt haben, nicht bei sich aufnähme.“
 
Dann holte Großmutter eine wollene Decke und ging hinaus, um sie über dem toten Jungen auszubreiten. „Es wird kalt werden heute Nacht“, meinte sie „und wir wollen doch nicht, dass er friert.“
 
Zwei Tage später wurde er abgeholt. Man trug in der Wolldecke durch die Sommergasse hinunter in die Rheinstraße. Dort stand ein großer Lastwagen mit vielen Toten. Niemand weiß genau, wohin sie gebracht wurden.
 
 
Nachwort
 
Vor einiger Zeit erzählte ich einer Freundin von diesem traurigen Erlebnis aus meinen Kindertagen. Sie meinte, dass es eigentlich schade sei. Schade, dass ein Mensch, den meine Gedanken nach so langer Zeit, nach über sechzig Jahren noch immer begleiten, nichts davon weiß. „Oh doch,“ sagte ich nur, „er weiß es. Da bin ich mir ganz sicher. Er weiß es bestimmt, denn er ist jetzt hier. Ich spüre es ganz genau.“ Sie sah mich an und verstand. 

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