Es ist soweit. Heute, genau um zwölf Uhr mittags sind nach dem Haarschneiden alle Innenkommandos vollständig angetreten. Mich haben sie dieses Mal auch mitgenommen, Befehl ist Befehl, das gilt auch für mich, den Barbier. Auf einer der höher gelegenen Terrassen und für jedermann sichtbar, steht er, der Galgen.
Der Galgen; ein knapp vier Meter hohes Gerüst mit einer rohgezimmerten, kastenartigen Plattform darunter, an der seitlich ein klobiges Pedal angebracht ist. Tritt der Scharfrichter auf dieses Pedal, klappt der Kastendeckel herunter. Und wer gerade mit dem Strick um den Hals auf dem Deckel steht, stürzt dann einen Meter tiefer und bricht sich dabei das Genick.
Inzwischen hat es sich herumgesprochen: Ein junger polnischer Freiheitskämpfer soll hier und heute auf einen Sondererlass des deutschen Führers gehängt werden. Er steht auch bereits unten, neben dem Kasten, mit nacktem Oberkörper, auf dem kaum Haare zu sehen sind, weil sie erst vorgestern von mir geschnitten worden sind, in einer verschmutzten, graublau gestreiften Hose. Barfüßig, die Hände sind ihm hinter dem Rücken zusammengebunden worden. Das Gemurmel wird leiser, hört gleich darauf ganz auf, denn der Kommandant tritt vor und beginnt mit befehlsgewohnter, lauter Stimme den Erlass aus Berlin mit dem Todesurteil und den Angaben von Gründen zu verlesen. Es sind viele und jeder einzelne davon reicht bereits für den Tod. Er kommt nie in meine Stube zum Rasieren oder Schneiden, ich werde täglich zu ihm geführt.
Plötzlich gerät er ins Stocken.
Einige Seiten des Urteils scheinen abhanden gekommen zu sein. SS-Männer werden losgeschickt, um sie zu suchen. Nach ein paar Minuten kehren sie unverrichteter Dinge im Laufschritt zurück; der Schlüssel zum Aktenschrank ist im Moment unauffindbar. Der Kommandant teilt mit, dass wir den Rest der Vergehen dieser «Kreatur» später zu hören bekommen. Er sagt nicht «Untermensch», auch nicht «Kommunist» oder «Antifaschist», nein, er spuckt das Wort «Kreatur» regelrecht aus in Richtung des Delinquenten.
Dann gibt er dem Henker ein Zeichen.
Der Pole fragt in kaum verständlichem Deutsch, ob er die Stufen hinaufsteigen soll.
«Ja, natürlich - worauf wartest du noch?", erwidert der SS-Mann, der ihm lächelnd und aufmunternd zugleich mit dem Gewehrkolben auf die Schulter schlägt.
Wortlos steigt der Junge die hölzernen Stufen hinauf. Zwei mit dieser Aufgabe betraute Häftlinge legen ihm schnell und ohne ihn anzusehen die Schlinge um den Hals und treten dann zu uns in die Reihe zurück. Die unnatürliche Stille schmerzt wie ein Schnitt mit dem Rasiermesser. Sekunden dehnen sich zu Ewigkeiten. Der Pole hat die Augen fest zusammengekniffen. Er steht vollkommen still, nicht einmal sein Brustkorb bewegt sich beim Atmen. Vielleicht atmet er gar nicht mehr, vielleicht will er versuchen, auf eine andere, eigene Art seinem Schicksal zu entfliehen.
Es gelingt ihm nicht.
Plötzlich geht ein SS-Mann auf die Plattform zu und tritt energisch auf das Pedal. Der Junge verschwindet mit einem polternden Geräusch bis zu den Knien im Kasten. Allem Anschein nach berührt er mit seinen Fußspitzen den Boden, denn das Seil ist nicht straff gespannt, wie ich erkennen kann. Seine Augen sind weit aufgerissen. Er versucht unbeholfen, wieder auf den Kasten zusteigen. Der SS-Mann mit dem Gewehr in der Armbeuge stürzt hinzu und stößt einige Latten des Kastens zur Seite. Jetzt sehen wir, dass der Junge tatsächlich auf den Zehenspitzen steht. Sein Gesicht wird erst dunkelrot, läuft dann blau an. Sein Körper, seine Oberarme und Beine zucken konvulsivisch. Zischende, gurgelnde Laute kommen aus seinem Mund, während seine Augen nach wie vor unnatürlich groß sind. Ich stehe in der ersten Reihe, blicke in sein Gesicht, aber er sieht mich nicht.
Durch die Reihen der stummen Zuschauer geht ein Raunen, als ob der Wind durch meine Friseurstube bläst, abgeschnittene Haare umherwirbelt und dann wieder achtlos zu Boden taumeln lässt, um in einer anderen Richtung, in einer anderen Ecke dasselbe Spiel zu wiederholen. Nach endlosen Minuten wird von irgendjemand ein Befehl gebrüllt. Zwei Helfer des Henkers eilen zu dem Jungen. Einer hebt ihn vorsichtig auf, der andere schwingt den Strick mit einer Schlinge noch einmal über den Galgen und zerrt ihn fest. Dann stoßen sie ihn gemeinsam wieder herunter – ohne ein einziges Wort miteinander zu wechseln. Nur einen Blick haben sie miteinander ausgetauscht. Einen Blick, dem ein stummes Zählen folgte.
Eins – zwei – und los.
Doch wieder bricht sich der Junge das Genick nicht, aber nun hängt er frei am Strick.
Sein Gesicht wird schnell dunkelblau, fast schwarz durch das angestaute Blut: vor unseren Augen wird er in Zeitlupe erwürgt. Langsam dreht er sich hin und her, hundertachtzig Grad nach links, hundertachtzig Grad nach rechts und wieder zurück und wieder hin und her, begleitet von Lauten, die von keinem Menschen stammen können. Mir wird schlecht, ich kann kaum noch atmen, möchte zurück in die Friseurstube, Haare schneiden, Bärte rasieren, Schweiß von Lebenden in mich aufnehmen. Stattdessen stehe ich gelähmt in der Reihe, rieche Blut, Urin, Ausdünstungen des Todes des Jungen da oben.
Er müsste eigentlich tot sein, aber er ist es noch nicht.
Alle starren ihn an. Ich kann es nicht mehr, blicke über ihn hinweg. Zwei Mann stehen jeweils oben in den Wachtürmen. Die meisten blicken eher gelangweilt nach unten. Vor dem elektrisch geladenen Stacheldraht liegt eine Division der SS hinter ihren Maschinengewehren. Blutjunge Burschen, die meisten davon keine zwanzig Jahre alt. Ich sehe wie in einem Teleskop, wie sie krampfhaft versuchen, einen unbeteiligten, heroischen und mannhaften Gesichtsausdruck zu bewahren. Nur das Glitzern in ihren Augen verrät sie. Sie sind Kinder, Geschöpfe des Wahnsinns und durch ihren Eid auf den Führer emotionslose Bestien.
Es wird totenstill.
Der Pole beginnt zu würgen, zu röcheln. Plötzlich krampft er sich zusammen, als ob elektrischer Strom durch ihn geleitet würde. Dann, nach einer Viertelstunde – das Schauspiel ist noch in vollem Gange – erhalten wir plötzlich und unerwartet den Befehl zum Wegtreten. Beim Abmarschieren kommen wir am SS-Henker vorbei, vor dem wir in Haltung vorübergehen müssen.
Mützen ab.
Die meisten von uns nehmen die Mütze ganz unverhohlen nicht vor dem Henker, sondern vor seinem Opfer ab, das nicht mehr wahrnimmt, dass es von Hunderten seiner Schicksalsgefährten mit einem letzten Gruß geehrt wird
Eine paar Minuten später müssen wir zur Arbeit antreten. Der polnische Junge dreht sich noch immer hin und her, zuckt mit den Armen, mit den Beinen. Sein Gesicht ist jetzt fahlgrau. Die Zunge hängt ihm seitlich aus dem Mund. Ein SS-Mann mit schwarzen, glänzenden Stiefeln und silbergrauen Totenköpfen, mit Pistole und Alpenjägermütze versehen trotz der Hitze, schreitet gähnend davor auf und ab. Ich kenne ihn, er ist krank, leidet unter Haarausfall, weil eitrige Krätze seinen Hinterkopf auffrisst und er deshalb nie ohne Kopfbedeckung herumläuft.
Das Sterben hat eine dreiviertel Stunde gedauert.
Dann, kurz bevor die anderen in die Steinbrüche ausrücken, höre ich Gesprächsfetzen von den zwei Soldaten, die am Lagereingang, unweit von meiner Friseurstube, Wache stehen.
«Es war der Falsche, hast du schon gehört? Er war gar nicht der Pole, sondern ein kommunistischer Bolschewik ... Sie haben wieder einmal den Falschen aufgehängt!»
«Na und?», gibt der andere Soldat mit gelangweiltem Tonfall zurück, «Ist doch egal. Hauptsache, wir haben es bald hinter uns. Sollen sie doch alle verrecken, die Kommunisten, Juden, Zigeuner und Untermenschen. Heil Hitler!»
Ich balle meine Faust und gehe weiter auf meine Friseurstube zu, so wie jeden Tag. Noch zehn Stunden bis zum nächsten Schlaf. Noch zehn Sekunden, bis ich den deutschen Soldaten neben mir haben werde; ich kenne ihn gut, er ist abartig veranlagt, fasst unter dem Rasiertuch immer nach hinten zwischen meine Beine. Er grinst mich an, freut sich auf seinen nächsten Besuch bei mir.
Ich lächle zurück.
Noch vier Schritte, bis ich ihm die arische Kehle durchschneiden werde.
Mit einem einzigen letzten Schnitt, mit einem scharf geschliffenen, deutschen Rasiermesser.
Noch drei.
Noch zwei.
Vergib mir, Jahwe, vergib mir. Shalom.
Jetzt.
(21,0 P.)
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