Freitag, 19. August 2011

Frank Haberland: Menschenwerk


Sie rannte, stolperte, lief weiter.
Mörtelsplitter prasselten gegen ihre Fersen. Rauch hing zwischen den Ruinen. Mündungsblitze und Explosionen durchzuckten die Nacht. Emmas Muskeln schmerzten.
Aber sie rannte. Rannte weg vor dem Krieg.
Als er noch weit entfernt gewesen war, hatte sie ihn gefeiert. Hatte den Soldaten Küsse ins Gesicht gedrückt. Hatte den Sieg gefordert. Jeder hatte das. Und wer nicht, der war verschwunden.
Aber der Krieg ist ein verräterischer Freund, der sich gegen jene wendet, die ihn heraufbeschworen haben. Jetzt war er über ihr, hinter ihr!
Sie warf den Kopf zurück. Die beiden Verfolger waren brüllende Schatten in den Aschewolken. Emma verstand die Sprache nicht. Aber das brauchte sie gar nicht. Wenn sie kommen, musst du weglaufen. Sonst zerreißen sie dich. Verschütten dein Hirn und deine Därme auf den Asphalt und schänden deine Leiche.
Erst waren es düstere Gerüchte gewesen. Unheilsnachrichten aus den Ostgebieten, die sie nicht geglaubt hatte. Dann war die Rote Armee nach Berlin gekommen. Und Emma hatte nicht mehr glauben müssen. Sie hatte gesehen, gehört, gefühlt, geschmeckt – den Blutdampf in der Luft, die Detonationen in der Stadt, die Schreie in den Straßen.
Sie wusste nicht, wie sie den Sturm aus Artilleriegranaten und Bomben, aus Geschossen und Sprengköpfen überlebt hatte. Es konnte nur Zufall sein. Blind war das Morden in Berlin. Blind und ohne Gewissen. Und wer sich nicht in den Dreck verbluten wollte, den hängten die SS-Männer an den Laternen auf. Fleischgirlanden aus Kindern und Greisen.
Das Geröll unter ihren Füßen gab nach. Sie knickte weg. Schmerz sprang ihr Bein empor und explodierte im Hirn. Sie rollte den Trümmerhaufen hinab. Zerbrochene Ziegelsteine folgten ihr. Eine Sekunde oder eine Ewigkeit lag sie einfach nur im Schutt. Zu keiner Bewegung fähig. Lass sie doch kommen, flüsterte eine Stimme. Dann hast du deinen Frieden.
Nicht so. Nicht so!
Sie griff in ein Scherbennest, drückte sich trotzdem hoch. Ertrug den Schmerz. Musste ihn ertragen, wenn sie nicht zu Tode vergewaltigt werden wollte. Wie ihre Cousine. Erinnerungsfetzen tanzten in ihrem schmerzdumpfen Hirn: Ein Geruch von Sommergewitter. In der Luft der Regen ahnungsvoll. Bewegung in türmenden Wolken. Eine Detonation warf Dreck in die Luft. Klumpen von Straßenbelag und Erde prasselten nieder. Vielleicht ein Blindgänger, eine Mine, eine Granate, die irgendwo gelegen hatte und sich nun entschieden hatte, zu explodieren.
Es gab keine Geräusche mehr. Emmas ganze Wahrnehnung war zu Lichtsplittern auf der Netzhaut zerfallen. Nur der Schmerz bewahrte sie vor einem Abgrund aus Bewusstlosigkeit.
Plötzlich war da ein Mann. Panik spülte die Benommenheit fort. Er packte sie, hob sie hoch. Sie wehrte sich. Trat, biss, kratzte. Ein Schlag traf sie gegen die Schläfe. Ihr Körper gab auf.


Ihr Bewusstsein war so plötzlich zurück, als hätte jemand eine Lampe eingeschaltet.
Zuerst nahm sie den Schimmelgeruch wahr. Sie befand sich in einem Keller. Im Rücken hatte sie eine Wand. Und vor sich … zwei Männer.
Die Mörder hatten abgewartet, bis Emma zu sich gekommen war. Jetzt grinsten sie.
„Bitte … bitte nicht.“ Ihre Stimme zerbrach. Wie ihr Denken, ihr Hoffen, ihr Fühlen. Sie wusste, was geschehen würde. Stoß und Schrei und Schmerz und Scham und Schrecken. Und dann der Tod.
Und sie verstand: Sie hatte ein falsches Leben geführt. Die falschen Menschen geliebt. Die falschen gehasst. Also würde ihr falsches Leben in diesem Kellerloch enden.


Ein Schuss krachte.
Und noch einer.
Die Ohren klingelten Emma vom Lärm. Die Mündungsblitze hatten sie geblendet.
Aber sie lebte. Sie lebte! Und die Mörder waren tot. Emmas zitternder Blick suchte nach Erklärungen. Fand im Dunkel einen Umriss. Der wuchs zu ihr heran und war dann so nah, dass sie seinen Atem auf ihren Lippen spürte.
Das konnte keine Rettung sein.
Nicht in dieser Welt ohne Hoffnung, ohne Frieden, ohne Zukunft. Sie war gefangen in einer Nacht ohne Morgen. Jetzt bezahlte sie, weil sie den Krieg gewollt und den Frieden verhöhnt hatte.
„Ganz ruhig.“
Ihr Herz war ein Muskelklumpen aus Schmerz und Verwirrung. Der Mann sprach Deutsch. Ein Streichholz zischte. Blutrot glänzte das Gesicht auf, das vor ihr hing. Vielleicht jung – auf jeden Fall schmutzig.
„Sie haben mich gerettet.“
„War meine Pflicht.“ Er zupfte an den Stofffetzen, die vor langer Zeit eine gestärkte Wehrmachtsuniform gewesen waren. „Ich weiß, kläglich ist das.“
„Ich sah nie etwas Schöneres.“
Er berührte ihre Schulter. Ein wenig zu lange. „Nichts Schönes ist an meiner Uniform. Weil an keiner Uniform etwas Schönes ist.“ Er betrachtete die Leichen der russischen Soldaten. „Sie geben Männern eine Ahnung von Stärke. Ich weiß, was sie dann mit Frauen machen.“
„Im Moment wünschte ich, keine Frau zu sein – vor allem keine deutsche.“
Erst zu spät wurde ihr bewusst, dass diese Worte als Verrat gelten konnten. Aber der Soldat schaute Emma nur an. „Niemand will jetzt Deutscher sein. Es ist vorbei mit uns. Wir wollten die Welt totschlagen, jetzt schlägt die Welt uns tot.“
„Warum? Kennt sie keine Moral, keine Gnade?“
„Kannten wir auch nicht“, sagte der Soldat. „Da war ein Mädchen in einem russischen Dorf … bäuerisches Ding. Nicht hübsch eigentlich.“ Er starrte an Emma vorbei. „Und ich wollte auch nicht in das Haus. Zwei Frauen darin, ein Kleinkind. Es schrie. Ich hätte nicht reingehen brauchen. Die ganze Mannschaft hätte nicht. Keiner zwang uns, mich. Aber seit Monaten im Feld. Also gingen wir.“
Emma legte ihm die Hand auf den Arm. „Es ist vorbei. Vergessen Sie, was geschehen ist. Jetzt ist alles abgegolten.“
Er nahm ihre Hand. „Die eine Frau war alt, die andere jung. Karl war’s egal. Nur das Kind schrie ihm zu laut. Da hat er die Pistole benutzt. Die ganze Mannschaft war in der Hütte. Und an den Frauen. Als ich drankam, fand ich das Gesicht leer und die Augen eingeschlagen. Sie konnten nicht mehr weinen. Ihre Augen. Meine. Blicke dazwischen.“ Er hielt ihre Finger umklammert. Fest und schmerzhaft. „Ich konnte nicht mehr. Ich musste.“
Er ließ ihre Hand los und warf sich zurück. Schlug mit der Faust auf die Mauer ein. Die Knöchel platzen auf. Blut floss an den Backsteinen herab. „Ich wollte nicht. Vielleicht wollte keiner. Aber alle taten es.“
„Weil Krieg ist“, sagte Emma leise und wie eine Entschuldigung.
„Mit Menschen wie mir, wird immer Krieg sein“, er drückte die Pistole an seine Schläfe. „Der Krieg braucht uns. Dem Krieg decken wir den Tisch. Er ist immer hungrig. Er will die ganze Welt verschlingen. Der Krieg frisst, was im Frieden gedeiht und kotzt und scheißt und pisst Tod, Elend und Zerstörung. Ich mache Schluss damit.“
„Nein!“ Emma kroch vorwärts, wagte aber nicht nach der Waffe zu greifen. „Sie sind ein guter Mensch. Sie haben mich gerettet. Gott hat Ihnen die Möglichkeit gegeben, Ihre Fehler wieder gutzumachen. So wie Er mir ein zweites Leben durch sie schenkte. Sie sind mein Beschützer.“
„Im Frieden brauchen Sie keinen Beschützer.“
Emma zitterte. „Es ist aber kein Frieden.“
„Und wird nicht sein, so lange ich lebe!“
„Das ist doch töricht!“, schrie Emma. „Legen Sie die Waffe weg. Bleiben Sie bei mir.“ Sie streckte die Hand aus. Ihre Augen trafen sich. „Bitte. Wir haben eine Zukunft. Heute nacht wurden wir beide neugeboren.“
Die Pistole zitterte. Weil die Hand zitterte, die sie hielt. Der Mann nickte langsam. „Umkehr ins Glück?“
„Warum nicht?“
„Weil es den Frieden nicht umsonst gibt.“


Ein Schuss fiel.
Ein Schuss verhallte.
Und eine junge Frau, mit Kratzern im Gesicht und Schürfwunden und Ruß auf den Wangen und aufgesprungenen Lippen, kletterte aus einem Kellerloch und blinzelte in den Fleck Sonne, der sich vorbei schob an Trümmerbergen und den Gerippen der Häuser. Und die junge Frau richtete sich daran auf und ging hinein in den hellen Dämmer des neugeborenen Tages in ihr neugeborenes Leben an diesem 2. Mai 1945.


(20,1 P.)

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