Ich sitze hier und lebe.
Irgendwie habe ich das Recht zu leben.
Ich schlucke.
Woher?
Pampige, klebrige Gehirnmasse in meinem Kopf.
Ich könnte töten, wenn ich wollte.
Ich könnte über Leben und Tod entscheiden.
Ich könnte mich umbringen.
Ich könnte jemand anderen umbringen.
Ich könnte die Mücke in meinem Zimmer umbringen, anstatt sie einzufangen und nach draußen zu bringen.
Aber ich tue es nicht.
Weil es dafür keinen Grund gibt.
Und wenn es einen gäbe, wüsste ich nicht, woher ich das Recht hätte.
Ich kann über Leben und Tod entscheiden.
Der Satz durchschneidet mein Gehirn wie ein scharfes Messer.
Dunkelgraue Klumpen sinken in meinen Hals, setzen sich dort fest.
Mir wird schlecht.
Mir wird übel.
Ich versuche zu atmen, aber es klappt nicht mehr so gut, nur noch stoßweise, Rauchwölkchen in meinem Mund. In meinem Kopf ist kein Platz frei, ich presse die Fingerspitzen gegen die Schläfen, massiere sie.
Bittere Stiche in der unteren Bauchgegend.
Es gäbe nichts Schlimmeres als Diebstahl, Diebstahl sei die einzige Sünde, sagt Amirs Vater im Film „Drachenläufer“. Alles andere sei nur eine Variation davon.
Wenn ich jemanden töte, stehle ich ihm das Recht zu leben.
Die Menschen stehlen, um einen besseren Nutzen für sich zu haben.
Ich fühle mich verwerflich.
Ich schäme mich, ein Mensch zu sein.
Ich schäme mich, hier zu sitzen und zu leben.
Während anderswo getötet wird.
Rote Blitze in meinem Kopf.
Die klebrige Masse verschwindet trotzdem nicht.
Ich erinnere mich an gestern Abend.
Als ich gebannt vor dem Fernseher gesessen und „Drachenläufer“ gesehen habe.
Als mir Tränen in den Augen standen.
Als ich das plötzliche Bedürfnis hatte, die Welt zu umarmen, ihr zu helfen, jemanden zu sagen, dass ich ihn liebe.
Als ich das Bedürfnis hatte, all mein Geld zu spenden, in Hilfsorganisationen mitzuwirken.
Als ich mich so unendlich klein gefühlt habe, weil ich erkannt habe, dass ich nie etwas schaffen kann, das der ganzen Welt hilft.
Es gibt noch Menschlichkeit auf dieser Welt.
Und Gerechtigkeit.
Das zeigt der Film.
Und das lässt hoffen.
Amir reist nach Jahren zurück nach Kabul, um etwas wiedergutzumachen.
Mein Herz lacht, weil er es wiedergutmachen will.
Weil so Gerechtigkeit eintritt.
Ich liebe Gerechtigkeit.
Nicht jede Art, aber die, die mir das Gefühl gibt, dass alle es guthaben.
Amir kommt in dem Kinderheim an.
Die Kinder rennen weg vor dem Auto, ein paar Letzte humpeln auf Krücken mit nur einem Bein hinterher.
Meine Augen werden groß. Ich versuche, sie zuzudrücken, aber ich kann nicht wegsehen.
Amir möchte seinen Neffen aus dem Kinderheim holen, ihn mit nach Amerika nehmen, ihm eine bessere Zukunft geben.
Er steht da und unterhält sich mit dem Leiter des Kinderheims, streitet sich mit ihm.
Im Hintergrund wachsame, ängstliche Kinderaugen.
Meine Nase kitzelt. Ich spüre salziges Wasser in den Augen.
Das Kinderheim ist furchtbar arm, der Leiter hat selbst fast nichts und er bekommt Geld von jemanden, der dafür ein paar Kinder nimmt.
Mir wird schlecht.
Ich schlucke, versuche, den Kloß wegzuschlucken, aber es funktioniert nicht.
Wie kann man so sein?
Fragezeichen überall in meinem Kopf.
Amir schreit den Leiter an und er schreit zurück, was solle er denn machen, wenn der Mann eins nicht bekomme, nähme er sich zehn.
Ich will Geld schicken, ich will meine sämtlichen Ersparnisse in dieses Kinderheim, Waisenhaus stecken.
Amir will ein Kind mitnehmen, aber was ist mit den Tausenden von anderen?
Die das gleiche Schicksal haben?
Ich werde immer kleiner da auf dem Sofa, kann kaum noch zwischen den Kissen hervorlugen und ich schäme mich dafür, dass ich überhaupt hier so friedfertig sitze und es so gut habe.
Mir wird heiß und kalt gleichzeitig.
Warum nimmt er nicht noch andere Kinder mit?
Bietet noch Mehreren die Chance auf eine bessere Zukunft?
Warum lässt er nicht Geld hierherschicken?
Das wäre zwar nur Geld, aber immerhin ein Anfang.
Aber nein, er nimmt nur seinen Neffen mit.
Er muss zwar um ihn kämpfen, aber er hilft nur ihm.
Ist das richtig?
Ich sitze hier in diesem reinen weißen Raum und denke darüber nach.
Der Stift vor mir scheint mich hämisch anzugrinsen.
Ich stehe auf, gehe zur Terrassentür und blicke nach draußen, atme tief ein und aus.
Die Luft riecht bitter und feucht, faulig süß, vereinzelt tropfen Regentropfen auf die Holzterrasse. Irgendwo schlägt eine Autotür zu, der Himmel ist grau und wolkenverhangen.
Wieviel ist ein Menschenleben wert?
Kann man sie gegeneinander aufwiegen?
Ich lehne mich gegen die Tür, habe Angst einzuknicken.
Wie krank ist es, über so etwas nachzudenken?
Kann Amir glücklich sein, weil er eine alte Schuld beglichen, weil er einen einzigen Jungen gerettet hat?
Nach dem, was er gesehen hat?
Macht ihn diese Tat zu einem besseren Menschen?
Wieviel zählt das Leben eines Jungen im Vergleich zu den vielen anderen Kindern, die im Waisenhaus bleiben mussten?
Ist es besser, wenn ein Mädchen anstelle von zehn missbraucht wird?
Zählt dieses eine Menschenleben weniger als zehn Menschenleben?
Ich möchte laut losheulen, gegen die Wand treten, meine Wut hinausschreien.
Ich dachte immer, Menschenleben wären unbezahlbar.
Ich balanciere auf dem Übergang zwischen Terrasse und Innendielen.
Wenn in einem Flugzeug eine schwere Seuche ausgebrochen ist, können dann dieses Flugzeug und die Menschen darin geopfert werden, um zu verhindern, dass die Seuche die ganze Menschheit befällt?
Sind diese Personen weniger wert?
Ich schüttele mich, beuge mich nach unten, stütze mich auf meinen Knien ab, atme schwer. In meinem Kopf dreht sich alles.
Ist es ungerecht, einem Bettler etwas zu geben? Ungerecht gegenüber den anderen Bettlern, die nichts bekommen, ungerecht gegenüber den Menschen, die arbeiten, ungerecht gegenüber mir, die ich das Geld ehrlich verdient habe?
Ich schieße imaginär in meinen Kopf.
Wie kann ich nur über so etwas nachdenken.
Ich laufe imaginär gegen die Wand, schiebe mir Bretter in den Schädel.
In mir brummt es vor lauter Tränen, die sich dort ansammeln. Eine Sintflut in mir, die einfach nicht herauskann. Mein Bauch bläht sich auf, ich scheine alles nur noch verschwommen zu sehen, dabei sehe ich es doch so unglaublich klar.
Wie konnte es überhaupt passieren, dass sich die Welt so entwickelt hat, dass ich über so etwas nachdenken muss?
Ich beobachte eine Fliege, die im Raum umherfliegt. Ich bin so unglaublich stolz, dass ich sie leben lassen kann.
Es ist nicht deine Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist, es wär nur deine Schuld, wenn sie so bleibt, lautet ein Songzitat.
Ich tapse trunken zum Tisch zurück, lasse mich schweratmend auf den Stuhl fallen. Der Stift lächelt mich an.
Ich greife danach und beschließe, nach dem Songzitat zu leben.
(20,4 P.)
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