Samstag, 20. August 2011

Rainer Güllich: Das Lichtspieltheater


Eine Fantasie

Eine kleine Stadt im Hessischen. Die Nationalsozialisten waren an der Macht.
Samuel und Aron, zwei Jungen im Alter von zwölf Jahren, waren in der Stadt unterwegs und interessierten sich für das Gehabe der Machthaber in keiner Weise. Was sie interessierte, war das Lichtspieltheater, das demnächst in ihrer Kleinstadt eröffnet werden sollte. Samuel hatte von dieser Art Etablissement schon reden gehört. Auch gelesen hatte er davon. Doch am meisten davon hatte er von Aron erfahren. Der hatte sich schon ein „Lichtspiel“, wie er es nannte, anschauen können. Das war aber schon vor einigen Jahren gewesen, und zwar in einem Wanderkino. Transportfahrzeuge für diese Wanderkinos waren meist als Lieferwagen umgebaute viersitzige Personenwagen. Die Filme wurden in Landgasthöfen, Versammlungshallen oder Scheunen vorgeführt. Aron hatte mit seinem Vater in einer Scheune einen Film anschauen können. Der Film war zwar vollgepfropft mit nationalsozialistischer Propaganda, aber das interessierte nicht, was interessierte, dass waren die bewegten Bilder.
Aber nun in einem eigens dafür eingerichteten Lichtspielhaus einen Film zu sehen, war ein faszinierender Gedanke.
Samuel konnte sich nicht recht vorstellen belebte Bilder auf einer Leinwand zu sehen. So als hätte man die betreffende Szenerie in natura vor Augen. Mit Musik, die aus Lautsprechern kam, mit gesprochenem Wort. Aber Aron hatte durch seine Erzählung in Samuel ein Feuer entfacht. Samuel musste unbedingt ein „Lichtspiel“ sehen.
Doch wie sollte ihnen dies je gelingen. Sie trugen seit einiger Zeit diesen gelben Stern auf der Brust, der verhinderte, dass sie zu diesem „Lichtspiel“ eingelassen werden würden. Sie waren Juden und jüdischen Mitbürgern war es untersagt, an einer kulturellen Veranstaltung teilzunehmen.
Den Stern aber abzulegen bedeutete Gefahr für die gesamte Familie. Das hatten ihnen ihre Eltern deutlich machen können.
Aber was hatten Wünsche nicht für eine Macht über Zwölfjährige. Sie standen beide vor dem „Apollo“. So nannte sich das Lichtspieltheater. In Schaukästen konnte man die Bilder, des auf dem Programm stehenden Filmes, anschauen. Gebannt schauten sich die beiden Zwölfjährigen die Fotos an. Da war ein Bild wie Siegfried den Drachen tötete. Ein anderes Bild zeigte Kriemhild, wie sie den Kopf des getöteten Hagen in Händen hielt. Ja, „Die Nibelungen“ wurden gespielt.
Gelesen, ja verschlungen hatten sie „Die Nibelungensage“ nicht nur einmal, nein mehrmals war die Sage mit heißen Köpfen gelesen worden.
Keine Frage. Diesen Film mussten sie sich anschauen. Sie besprachen sich. Ja, morgen würden sie wiederkommen. Ohne den verhassten Stern auf der Brust.

Am nächsten Nachmittag verließen beide Jungen das Mietshaus, in dem sie mit ihren Eltern lebten. Einen gelben Stern trug keiner mehr von ihnen auf der Brust. Sie liefen auf dem Trottoir die Straße hinunter. Auf der Straße kamen ihnen drei Lastwagen der deutschen Wehrmacht entgegen. Mit aufgesessenen bewaffneten Soldaten. Sie schauten den, an ihnen vorbeifahrenden Fahrzeugen erstaunt hinterher. Diese hielten am Wohnhaus der Jungen an, die bewaffneten Mannschaften sprangen ab und formierten sich vor den Lastwagen. Auf Geheiß des kommandierenden Unteroffiziers stürmten die Soldaten in das Haus.
Samuel und Aron nahmen an, dass es sich um eine der Aktionen gegen ehemalige jüdische Kaufleute handelte, die immer häufiger durchgeführt wurden. Durch fingierte Anzeigen, in denen Ihnen vorgeworfen wurde Diebesgut zu besitzen, wurden ihnen ihre letzten Wertgegenstände entrissen.
Dass sie hier Zeugen einer der gefürchteten Judendeportationen waren, die in den Vernichtungslagern endeten, wurde ihnen nicht bewusst. Auch nicht, dass diese Aktion ihre eigenen Familien betraf.
Samuel und Aron folgten der im Bogen verlaufenden Straße und verloren die Wehrmachtsfahrzeuge aus den Augen.
Zehn Minuten später befanden sie sich an der Kasse des „Apollo“. Die Kartenverkäuferin war eine junge Frau mit dunklen Haaren und schwarzen Augen. Sie begrüßte sie sehr nett. „Schön, dass ihr den Weg hierher gefunden habt. Freut mich Euch hier begrüßen zu können.“
Aron und Samuel schauten sich verdutzt an. Es war selten, dass sie so angesprochen wurden.
„Ihr seid genau zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort“, fuhr die junge Frau fort. Jeder Tag früher oder später wäre falsch gewesen.“
Dies klang merkwürdig und geheimnisvoll. Ein fragender Blick beider Jungen ging in Richtung Kartenverkäuferin.
Sie gab ihnen jedoch nur die Karten, sagte bestimmend: „Geht nur hinein.“
Aron und Samuel gingen verwirrt in den Kinosaal und nahmen in einer der ersten Reihen Platz. Die geheimnisvollen Worte der Kartenverkäuferin waren jedoch sofort vergessen. Beide bestaunten die weichen Kinosessel, die mit rotem Samt bezogen waren. Links und rechts an den Wänden konnten sie die leuchtenden, glitzernden Lampen bewundern. Der dunkelrote Teppichboden dämpfte die Schritte der anderen eintretenden Kinobesucher. Die Stimmen der Kinogäste drangen nur leise an ihre Ohren. Ehrfurchtsvoll bestaunten beide den herabwallenden Vorhang, der die Kinoleinwand bedeckte.
Erwartungsvoll warteten beide Jungen auf den Beginn der Vorstellung. Und die begann.
Sie sahen den Auszug des jungen Siegfried aus seinem Elternhaus, sahen ihn mit dem Drachen kämpfen, sahen, wie er sein Schwert Balmung gewann, sahen, wie er mit den Burgundern gen Osten zog und sahen den Untergang der Nibelungen.
Als der Film endete, saßen sie wie betäubt in ihren Sesseln. Doch die Vorstellung war noch nicht zu Ende. Es kam noch die Vorschau auf den in der nächsten Woche anlaufenden Film. Mit dem Titel: „Der Weg in die Freiheit“. Selbstverständlich schauten die Freunde weiter zu. Der Film handelte von einer Gruppe Auswanderer, die den heimatlichen Boden verließ, um im verheißungsvollen Amerika ihr Glück zu suchen.
Sie sahen wie die Auswandererfamilie, anscheinend Großvater, Großmutter, deren Sohn, dessen Ehefrau und deren beider Kindern das Auswandererschiff bestieg. Als der Großvater, ein gütig erscheinender Mann mit klarem Blick, kurz geschnittenem Haar und gestutztem Bart, die Gangway betrat, hatte Samuel das Gefühl diesen Mann zu kennen. Er sah aus wie einer seiner Ahnen. Den kannte er aber nur von einem Bild, das bei seinem Großvater im Wohnzimmer gehangen hatte. Ein Ölgemälde, eine Auftragsarbeit eines unbekannten Künstlers.
Der alte Mann auf der Kinoleinwand drehte sich herum und blickte direkt zu Samuel und Aron in den Kinosaal.
„Aron und Samuel“, sprach er die beiden in bestimmenden Ton an. „Ihr solltet mit uns kommen. Nur mit uns, hier und jetzt, könnt ihr die Freiheit gewinnen.“
Aron und Samuel sahen sich erstaunt an. Wie auf Kommando erhoben sie sich, wie hypnotisiert schritten sie auf die Kinoleinwand zu, verschwanden in ihr und fanden sich plötzlich bei der Auswandererfamilie auf der Gangway des Schiffes wieder. Die Auswanderer umarmten Aron und Samuel zur Begrüßung. Beide fühlten sich geborgen und sehr gut aufgehoben. Das Schiff legte ab und die Reise in die Freiheit begann.
Für die anderen Kinobesucher schloss sich der Vorhang, das „Lichtspiel“ war beendet. Zwei mehr die gerettet waren.


(20,6 P.)

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