Sonntag, 23. Januar 2011

Susanna Piontek: Andere Umstände

 Als Aaron am Abend nach Hause kam, merkte er sofort, dass irgend etwas nicht stimmte. Es war alles ruhig. Zu ruhig. Nicht das übliche Geschrei der beiden Töchter. Nicht die liebevollen, doch manchmal auch ungeduldigen Versuche von Hannah, die beiden Kleinen davon zu überzeugen, dass es wieder einmal Zeit war, ins Bett zu gehen.
Hannah?” fragte Aaron in die Stille. Keine Antwort.
Wo mochten sie und die Kinder sein? Er bemühte sich, die aufkeimende Unruhe niederzukämpfen. Vielleicht hatte sie den Bus genommen und war mit den Mädchen zu ihren Eltern nach Haifa gefahren. Aber um diese Uhrzeit? Aaron dachte über andere Möglichkeiten nach, als er das Geräusch hörte. Ein Schluchzen, das aus dem Badezimmer kam.
Hannah?” fragte er noch einmal und drückte mit klopfendem Herzen die Türklinke zum Badezimmer runter.
Dampfschwaden ließen seine Brille beschlagen und raubten ihm die Sicht. Seine Frau saß in der Badewanne, das dunkle nasse Haar klebte an ihrem Kopf, das Gesicht war gerötet und vom Weinen verzerrt. Trotz der Hitze zitterte sie.
Aaron legte seine Brille beiseite und kniete sich an den Rand der Wanne. Als er eine Hand ins Wasser tauchte, schrie er kurz auf und zog sie erschrocken zurück. Hannah schaute mit tränenüberströmtem Gesicht ins Leere und sagte kein Wort. Erneut tauchte er die Hand ins Wasser, langsamer und nun wissend, wie heiß es war. Trotzdem fiel es ihm nicht leicht, sie im Wasser zu behalten. Schwer atmend legte er sie auf ihren Bauch, diesen geschwollenen heißen Leib.
Hannah, Liebling, was ist mit dir? Warum weinst du? Warum ist das Wasser so heiß? Wo sind die Kinder?”
Noch immer schaute sie ihn nicht an. Wie bei einem Gebet bewegte sich ihr Oberkörper vor und zurück, vor und zurück. Aaron konnte nicht erkennen, ob die Perlen, die an Hannahs Wangen hinunterrannen, Wasser, Schweiß oder Tränen waren. Von ihrem Kinn und ihrer Nasenspitze tropfte es. Sanft drehte er ihr Gesicht in seine Richtung.
Bitte sag mir, was los ist. Bitte!” Panik breitete sich in ihm aus.
Du musst raus aus dem Wasser. Sofort. Es ist viel zu heiß für das Baby. Nun komm.” Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, zog er den Stöpsel aus dem Abfluss.
Das gurgelnde Geräusch schien seine Frau in die Realität zurückzuholen. Heiser stieß sie seinen Namen hervor und klammerte sich an ihn. Aaron hielt seine zitternde Frau fest und richtete sich gleichzeitig auf, darauf bedacht, ihr beim Aufstehen zu helfen. Beim Verlassen der Wanne stützte sie sich schwer auf ihn und stand schließlich keuchend und immer noch zitternd auf dem blauen Frotteeteppich, der die Form einer Wolke hatte.
Merkwürdig, schoss es Aaron durch den Kopf. Warum war dieser Teppich blau und nicht weiß, wie es sich für eine Wolke gehörte? Gleichzeitig musste er daran denken, dass kleine Kinder auf ihren Bildern auch oft blaue Wolken malten, während der sie umgebende Himmel weiß blieb.
Weil Hannah reglos dastand, begann Aaron sie abzutrocknen und sprach dabei beruhigend auf sie ein. Schließlich half er ihr in den Bademantel und legte einen Arm um ihre Schulter.
Behutsam führte er sie vom Bad ins Schlafzimmer. Hannah setzte sich auf den Bettrand, und Aaron kniete vor ihr nieder, während er ihre Beine umklammerte und ihren Blick suchte. Besorgt fragte er nochmals:
Hannah, willst du mir nicht endlich mal sagen, was los ist?”
Seine Frau beruhigte sich nur langsam, das Zittern hatte kaum nachgelassen. Die schweren Brüste über dem gewölbten Bauch klafften aus dem offenen Bademantel. Ihr Körper glühte von dem heißem Wasser.
Ihre Stimme war leise, als sie zu sprechen begann. Die Kinder waren bei ihrer Cousine Lea einige Straßen weiter. Hannah war am späten Nachmittag von der Arbeit nach Hause gekommen. Sie hatte sich auf die Couch im Wohnzimmer gesetzt, sich ein Glas Saft eingeschenkt und wollte nur kurz verschnaufen und die Post durchsehen, ehe sie die Mädchen abholte. Das Kuvert war unschuldig weiß und einen Moment hatte Hannahs Herz ausgesetzt, als ihr Blick auf den Absender fiel. Ihre Hände hatten so stark gezittert, dass sie kaum in der Lage gewesen war, den Umschlag zu öffnen. Wie ein Mantra hatte sie die Worte Bitte nicht” wiederholt, voller düsterer Ahnung. Dreimal las sie den Brief und wollte nicht glauben, dass es sie getroffen hatte. So etwas passierte doch immer nur den anderen. Doch nicht ihr. Und nun war es ihr doch passiert. Ihr und Aaron. Schwerfällig hatte sie sich erhoben und ihre Cousine angerufen. Ohne ihr den wahren Grund mitzuteilen, hatte sie Lea nur gesagt, es ginge ihr nicht gut und sie wäre jetzt gern allein und würde sich etwas hinlegen wollen. Ob die Mädchen noch bis zum Abend bei Lea bleiben könnten? Aaron würde sie dann abholen. Nein, nein, sie brauche sich keine Sorgen zu machen. Es sei alles in Ordnung. Die Hitze und ihr stetig zunehmender Leibesumfang machten ihr zu schaffen. Sie sei erschöpft, und wenn sie jetzt Gelegenheit habe, sich auszuruhen, würde es ihr sicher bald bessergehen.
Hannah wunderte sich später zusammen mit Aaron, wie sie es geschafft hatte, ihren Zusammenbruch auf die Zeit nach dem Telefonat zu verschieben. Auf ihr Geheiß war Aaron ins Wohnzimmer gegangen und hatte den Brief geholt, den sie wieder zurück in das Kuvert geschoben hatte, als könne sie so die Annahme ungeschehen machen und das Verhängnis abwenden.
Als Aaron den Brief zu Ende gelesen hatte, war alle Farbe aus seinem Gesicht gewichen. Der Brief fiel zu Boden. Wieder vor ihr knieend, umschlang er seine Frau und presste das blasse Gesicht gegen ihren gespannten Leib. Der ungeborene und heiß ersehnte Sohn trat und strampelte im Bauch seiner Mutter. Hatte die Hitze des Wassers ihm geschadet?
Ich lasse ihn mir nicht wegnehmen”, flüsterte Hannah kaum hörbar. Das können sie nicht tun. Und wenn doch, dann sollen sie ihn nicht lebend bekommen.”
Aaron griff nach ihrer Hand und küsste die Innenfläche. Er stieß einen tiefen resignierten Seufzer aus, als er ihr fest in die Augen schaute.
So etwas darfst du nicht sagen, Hannah. Noch nicht einmal denken. Wir haben geahnt, dass es so kommen kann. Seit man auf dem Ultraschallbild erkennen konnte, dass es ein Junge wird, haben wir gewusst, dass es uns treffen kann. Auch wenn wir nicht darüber gesprochen haben. Wir haben Glück gehabt mit den Mädchen. Zweimal Glück. Und auch nur, weil es Mädchen sind. Wir sind nicht die einzigen, die es trifft.”
Aber ich will ihn nicht hergeben!” Sie schrie diese Worte fast und legte schützend ihre Hände auf den Bauch. Ich will nicht, ich will nicht.”
Aaron setzte sich neben seine Frau auf die Bettkante und nahm sie sanft in den Arm.
Bitte, Liebling, beruhige dich. Es hat keinen Sinn. Wir können nichts dagegen machen. Andere bekommen so einen Brief und wissen bis zur Geburt nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird. Wir können uns sogar psychisch darauf einstellen. Einem Arbeitskollegen und seiner Frau ist es auch passiert. Schon vor fünf Jahren.
Und? Wie kommen sie damit zurecht?” wisperte Hannah.
Gut”, versuchte Aaron ihr Mut zu machen. Viel besser als erwartet. David hat sich prächtig entwickelt. Erst vor kurzem habe ich mit Eliezer darüber gesprochen. Glaube mir, nach einer Weile denkst du nicht mehr daran. Immer wieder wird er darauf angesprochen, wie ähnlich David ihm sieht. Es weiß ja auch kaum jemand, dass er eines von diesen Tauschkindern ist.
Hannah, erinnere dich doch einmal, wie wir selbst die ganze Sache noch vor einigen Jahren gesehen haben. Dieses Gesetz wurde schließlich mehrheitlich verabschiedet. Weißt du noch, wie gejubelt wurde, als die Palästinenser zugestimmt haben? Und du kannst sagen, was du willst, es ist erfolgreich. Zusammen mit dem Rückzug aus den besetzten Gebieten hat es uns endlich Frieden gebracht. Das Los ist diesmal auf uns gefallen. Hannah, wir werden einen Sohn haben, wir werden ihn großziehen und ihn lieben, so wie wir unsere Töchter lieben. Und genauso wird irgendeine palästinensische Familie unseren Sohn lieben. Glaube mir. Die Lebensbedingungen drüben haben sich in den letzten Jahren so sehr verbessert. Und es ist unser Beitrag zum Frieden. Versuch es doch so zu sehen. Mittlerweile sind es schon Tausende Jungen, die nach der Geburt ausgetauscht wurden. Sie alle sind Friedenstauben. Sieh es doch so, Hannah. Es gibt keine Attentate mehr. Der Hass hat nachgelassen. Die Angst ist zu groß, die eigenen Söhne könnten getroffen werden. Auf beiden Seiten.”
Hannah lehnte müde ihren Kopf gegen Aarons Schulter. Das Baby strampelte nicht mehr so stark; sie fühlte eine große Ruhe über sich kommen.


enthalten in Kurzgeschichtenband "Ruehlings Erwachen", vbb-Verlag 2005.

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