Samstag, 28. Mai 2011

Thom Delißen "Retours"


Im August 2010
Der Wind packte den Wohnwagen auf dem kleinen Feld bei dem Städtchen Barcieux, einem Vorort von Paris, und ließ ihn, so schien es zumindest der neunjährigen Suna, zittern wie einen jungen Hund.
„Baba erzähl weiter!“
Die Großmutter warf einen besorgten Blick aus dem kleinen Plastikfenster.
„Solch eine Nacht, kleine Suna … mmh, das war es damals auch. Weißt, anfangs hatten wir uns nichts gedacht. Sie schienen sich ja nur um die Jiddisch-Leut zu kümmern.“
Sie zog das blaue gehäkelte Schultertuch enger, als ob sie frieren würde, nahm einen Schluck Tee aus der alten Tasse mit den vielen abgestoßenen Ecken.
„Porajmos, das Verschlingen hat man es später genannt. Oui.“
Sie streichelte Suna über die schwarzen Haare.
Das Mädchen sah ihre Oma neugierig an. Sie meinte in ihren Augen zu erkennen, wie sie in ihren Gedanken weit zurück flog, in die Zeit. Die Zeit, von der sie so selten sprach.
Suna drängte: „Bitte Baba!“
„Ach, das ist nichts für kleine Mädchen vor dem schlafen gehen.“
Suna zog einen Flunsch. Die Baba sah in die Runde, 3 Paar Kinderaugen hingen an ihren Lippen. Sie seufzte.
„Als der Mann mit dem Bärtchen an die Macht kam, da kam mit ihm unser Unglück. Es war eine Nacht wie diese. Oui. Wir hatten am Abend zwei Igel gebraten, ein wenig Salat aus dem Wald dazu. Papa hatte Brot im Dorf besorgt. Das hat geschmeckt, sag ich euch!“
Rupeno und Jos, die beiden Burschen, waren sehr still. Sie wussten um die Geschichte der Sinti und Roma, damals im besetzten Frankreich. Die Baba erzählte weiter.
„Papa hatte mir erzählt, die kleinen Igel, die wir in nasse schwere Erde gepackt hatten, würden gar nichts spüren, von der Glut, in der wir sie legten. Ganz im Gegenteil, sie würden einschlafen, sich sogar freuen, dass sie mit ihrem Körper etwas gegen unseren Hunger tun könnten.“
„Aber …“ begann Suna mit einem Einwand.
„Psch!“ winkte die alte Frau ab.
„Sie haben jedenfalls ausgezeichnet geschmeckt, mit den frischen Baguettes. Ich durfte sogar vom Wein trinken, mir wurde ein bisschen schwindelig.“
Wieder nahm sie einen Schluck von dem Tee, der schon lange nicht mehr dampfte.
„Den ganzen Abend hatten wir auf meine älteren Brüder gewartet, Papa hatte sie alle drei in die Stadt geschickt, zu sehen, ob sie nicht einige Nägel für die Hufe unseres treuen Kasimir, einem sehr alten Schimmel, der immer brav unseren Wagen gezogen hatte, besorgen könnten. Doch sie kamen nicht. Nie mehr sah ich sie wieder.“
Sie nickte traurig und Suna hielt den Atem an.
„Irgendwann stand euer Urgroßvater auf, trat mit seinen schweren Stiefeln gegen das Holz im Feuer, dass die Funken nur so stoben.
Sorgen hat er sich gemacht, wütend mumelte er Verwünschungen, die ich nicht verstand.“
„Sie waren in die Stadt gegangen, deine Brüder? Hat es denn im Dorf nichts gegeben?“ fragte Rupeno.
Die Baba schüttelte den Kopf. „Nein im Dorf fand an diesem Tag ein Fest statt, doch nicht deswegen gab es keine Hufnägel. Es war …“ Sie zögerte.
„Es war, weil sie uns nicht ausstehen konnten, keiner von denen. Und der Mann mit dem Bärtchen hat ihnen noch Mut gemacht. Immer. Wir wären nichts wert, Gesindel, Herumtreiber, Gewohnheitsverbrecher, Gemeingefährliche. Ich habe einmal mitbekommen, wie sie meinen Vater und meine Brüder, sie wollten damals, ein paar Monate vor diesem Abend, nur ein wenig Mehl kaufen, aus einer Gemeinde prügelten. Mich ließen sie nur zufrieden, weil ich noch so ein kleines Mädchen …“
Sie brach ab. Eine dicke Träne rann ihre faltige Wange hinunter. Suna beugte sich zu ihr hinüber und wischte sie sanft ab.
„Du brauchst nicht weiter erzählen, wenn du nicht magst, Baba.“ sagte sie und schluckte schwer. Sie wollte doch so gerne hören, wie es weiterging!
Nun hab’ ich schon begonnen.“
Die Oma lächelte. „Ist schon so lang her, mein Mädel. Schon so lang.“
Sie richtete sich ein wenig auf, holte Atem, um weiter zu erzählen.
“Euer Urgroßvater, mein Vater, Mihai hieß er, trat also gegen das Holz, die Funken stoben und flogen in die Nacht, wo sie sie im Ungewissen verloschen. Doch seine Söhne hat es nicht zurückgebracht. Ich habe es damals nicht verstanden, versteh es heut noch nicht. Niemand hat je erfahren, was aus ihnen geworden ist.“
Wieder wandte sie ihren Blick zu dem Fenster des Campingwagens. Bltze zuckten.
„Ein Gewitter gab es damals auch, ja. Ich hatte Angst, aber Papa hat mich nicht getröstet, er wartete auf seinen Andrej - auf Niko und Luka. Zornig war er.“ Sie nickte. „Und Mama war damals schon so lange tot, dass ich mich ihrer nicht erinnern konnte. Schließlich kroch ich in mein Schlafeck unter die Decke. Bei dem Donner fürchtete ich mich zwar, doch wenigstens war es trocken, in unserem Wagen.“
Sie wandt ihre Finger zu einem Knoten. Draussen setzte prasselnder Regen ein.
„Auch damals regnete es, wie aus Kübeln. Dies Geräusch auf dem Holzdach hat mich in den Schlaf gewiegt. Und der Wein tat das seine.“
Sie lachte leise, ein trauriges Lachen.
„Deswegen durfte ich ihn wohl trinken. Ich schlief ein, obwohl ich mir schreckliche Sorgen machte, um die drei.“
Sie senkte den Kopf. „Aufgewacht bin ich von einem furchtbaren Poltern an der Tür. Erst meinte ich, es seien die Burschen, die endlich heingekommen waren. Doch in der Dämmerung, die schon angebrochen war, konnte ich erkennen wie mein Vater beschwörend den Zeigefinger an die Lippen legte.
Wütende, laute Stimme klangen vor dem Wagen. Dann waren da plötzlich viele Männer, draussen. „Aufmachen! Polizei!“ haben sie gerufen.“ Die alte Frau ahmte die herrischen Rufe nach. „Plötzlich waren sie in unserem Wagen Sie schlugen meinen Papa, er hat sich nicht gewehrt. Wieder ließen sie mich nur zufrieden, weil ich noch so klein war.“
Ihre Finger krampften sich um die alte Tasse.
„Ich bin ohnmächtig geworden, so muss es gewesen sein. Denn als ich aufwachte, war da kein Papa mehr. Sie setzten mich mit vielen anderen aus unserem Clan, denn natürlich waren wir nicht alleine auf unserem Lagerplatz, in einen Zug.“
Ihre rechte Hand fuhr mit einer heftigen Bewegung auf den Tisch nieder.
“So. Genug für heute. Ihr geht jetzt schlafen!“
„Aber Baba!“ Suna war enttäuscht. Was ist dann passiert? Was passierte deinem Vater?“
Die Großmutter schüttelte den Kopf. „Das ist eine andere Geschichte. Vielleicht morgen.“
Suna erwachte gegen vier Uhr morgens. Sie hörte wütende Stimmen, draussen vor dem Wagen. Dann hämmerte jemand wild gegen die Tür. „Aufmachen! Polizei!“


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