Die Menschen neben ihr klatschten. Die ältere Frau hatte die Hände in den Manteltaschen versenkt und den Kopf gebeugt, um sich vor Wind und Regen zu schützen. Sie hatte Tränen in den Augen.
Am Podium erhob der Sprecher die Arme, als er seine Rede beendete. Die Frau hatte ihm zugehört. Den folgenden Vorträgen schenkte sie kaum Beachtung. Die Worte nahm sie wahr, aber sie konnte sie nicht begreifen. Zwischendurch vernahm die Frau nur noch den euphorischen Applaus der Menschenmenge.
Alle, die hier standen, waren gegen den Krieg. Die Frau war auch gegen den Krieg, gegen jeden Krieg. Seit Wochen gab es nur noch ein Thema. „Angriff gegen den Irak.“ Nachdem die Flugzeuge in die Zwillingstürme in New York geflogen waren, wusste sie, dass es Krieg geben würde.
„Das gibt Krieg“, sagte ein Bekannter, als er die Nachricht hörte, und er sprach das aus, was die Frau befürchtete. Für sie war ein Weltkrieg wahrscheinlich. Ein Krieg, den sie als Kind erleben musste. So etwas wollte sie nicht noch einmal ertragen. Tagelang ließ sie keine Nachrichten aus. Sie verstärkten das Gefühl: Krieg, wieder Krieg!
„Na, stell dich nicht so an, reagiere doch nicht so dramatisch, zu uns kommt der Krieg doch nicht“, sagte jeder zu ihr, mit dem sie über ihre Befürchtungen sprechen wollte. Nach einigen Tagen redete sie mit niemanden mehr über ihre Ängste.
Jetzt stand sie noch zitternd zwischen den Menschen, die dem Aufruf zur Demo gefolgt waren, einem Protestmarsch gegen den Krieg, wie er in vielen Städten stattfand. Immer denkbarer wurde ein Angriff. Die Frau beachtete auch die nächsten Redner nicht. Bei dem Aufruf sich zur Lichterkette aufzustellen, wurde ihr bewusst, dass sie frierend auf dem Burgplatz stand. Sie entfernte sich wie ein Schlafwandler in die Finsternis und konnte die Angst vor dem Krieg nicht mehr ertragen. Sie fröstelte, es war kalt und unbegreiflich dunkel. Sie verstand nicht, warum jetzt? Warum in unserer Zeit, in
einer Zeit des relativen Friedens? Drei Bahnen ließ sie an der Haltestelle vorüber fahren, bevor sie in der Lage war das Trittbrett mit dem Fuß zu berühren, die Haltegriffe zu fassen und einzusteigen. Sie hatte keine Kraft. Überall las sie das Wort Krieg. Es stand den Menschen auf der Stirn, aber sie schienen es nicht zu merken. Die Buchstaben warfen Blasen, flossen auseinander und wurden zu blutroten Lettern. Die Luft roch nach Krieg, sie atmete Krieg. Wie mit einem schwarzen Stift schienen die Worte an sämtliche Wände geschrieben. Als sie ausstieg und in ein Schaufenster schaute, begegnete sie ihrem Spiegelbild, begegnete sie sich. Sie sah einen verängstigten, grimmigen Menschen. Die Frau versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht. Chaos war in ihr. Sie fühlte sich so hilflos. Immer diese Angst. Am schrecklichsten war die Furcht vor der Dunkelheit. Sie bemühte sich, klar und bewusst zu denken, aber ihre Gedanken verloren sich in der Marschmusik, die sie aus einem Cafe hörte und die sie so hasste. Marschmusik, die Bilder in ihr aufleben ließen, die sie nicht sehen wollte.Soldaten, hunderte, tausende Soldaten, müde, ausgehungert und wie Roboter der Musik folgend. Sie wusste nicht, wo sie diese Bilder gesehen hatte, aber sie hatte sie gesehen. Ihr Denken stand still vor Angst. Weglaufen konnte sie nicht, abgestumpft war sie nicht. Die Welt hatte sich verändert, so kam es ihr vor. Sie selbst hatte sich verändert. Langsam ging sie durch die Fußgängerzone. Nur mit kleinen Schritten kam sie voran. Atemschwaden dampften ihr aus dem Mund, vermischten sich mit dem Regen und trübten ihren Blick. Eine junge Frau begann ihre Fenster zu putzen. Es nieselte immer noch. Die alte Frau erschrak, weil doch alles wie immer schien. Mütter zerrten Kinder hinter sich her und schleppten Einkaufstüten. Die putzende Dame schloss das gesäuberte Fenster.
Ich muss vorsorgen, dachte die Frau, während sie versuchte, die zerrissenen Fäden ihrer Gedanken zu verknüpfen. Bekleidung, etwas Warmes zum Anziehen müsste ich haben, waren ihre Überlegungen. Sie erinnerte sich an ihre Albträume nach dem letzten Weltkrieg. Diese Träume von Flucht, in denen sie immer nach einem warmen, langen Mantel suchte, den sie mitnehmen wollte -auch im Hochsommer -, aber sie fand keinen Mantel. Dieser Krieg wird ja nicht lange dauern, versuchte sie sich zu trösten, nur, sie fühlte keinen Trost. Die warme Zudecke, die sie besaß, die war ihr eine Beruhigung, über die freute sie sich.
Lebensmittel, kam es ihr in den Sinn, könnte sie kaufen. Konserven, Tütensuppen, so etwas kann man gut lagern, gleichzeitig wusste sie, dass dieses Vorhaben keine Lösung war.
Während sie ihren Überlegungen nachhing, spielte ihr Fuß mit einer Papiertüte, die sich vor ihr aufgebläht hatte. Blitzschnell entriss der Wind sie ihr und wirbelte sie herum. Die Tüte begann zu tanzen. Die Frau konnte die Schrift des Bäckers lesen. Der Wind griff den Beutel von der Seite an, wirbelte ihn hoch, riss ein Stück ab. Er spielte mit dem Papier. Es sah so leicht aus, wie die Tüte über dem Boden schwebte. Auch ihr wurde es leichter. Das Spiel der Natur begeisterte die Frau. Sie sah so lange zu, bis die Tüte völlig zerfetzt war. Der Wind zeigte ihr die Kraft des Unsichtbaren. Sie hatte ein wenig von dieser Kraft gespürt.
Sie ging in ein Geschäft, das gerade schließen wollte, und verlangte alle Teelichter, die vorrätig waren und die größte Packung Streichhölzer. Dreihundert Teelichter konnte sie bekommen. Verwundert blickte die Verkäuferin die Frau an und meinte:
„Für ein Gartenfest ist es aber zu kalt.“ Sie antwortete:
„Nein, kein Gartenfest, es ist wegen dem Krieg:“
Die Verkäuferin schüttelte den Kopf, als hätte sie ihre Kundin nicht verstanden, als wäre Krieg für sie ein Fremdwort, als wäre die Frau verrückt. Vielleicht war sie es auch. Es beruhigte sie, ein wenig Licht zu haben, ein kleines Licht für dreihundert Tage.
Als sie nach Hause ging, erstrahlten im Wasserstaub die leuchtenden Farben eines Regenbogens. Die Wolken schienen bleicher. Sie bedeckten halb den Mond. Die andere Hälfte war von Röte übergossen. Sie erinnerte an einen weit entfernten Brand.
Sie wartete auf den Krieg, Tag für Tag. Die Ungewissheit war so peinigend, dass sie fast hoffte, er würde endlich beginnen, dieser Krieg. Nach einigen Wochen war es soweit,
„der Krieg im Irak hatte begonnen“, lautete die Schlagzeilen. Die peinigende Ungewissheit, der tiefe Abgrund der Angst, wich der Realität. Am Abend nahm sie zehn Teelichter, entzündete eines nach dem andern, schaute in die Flämmchen, bis alle verloschen waren.
Am Podium erhob der Sprecher die Arme, als er seine Rede beendete. Die Frau hatte ihm zugehört. Den folgenden Vorträgen schenkte sie kaum Beachtung. Die Worte nahm sie wahr, aber sie konnte sie nicht begreifen. Zwischendurch vernahm die Frau nur noch den euphorischen Applaus der Menschenmenge.
Alle, die hier standen, waren gegen den Krieg. Die Frau war auch gegen den Krieg, gegen jeden Krieg. Seit Wochen gab es nur noch ein Thema. „Angriff gegen den Irak.“ Nachdem die Flugzeuge in die Zwillingstürme in New York geflogen waren, wusste sie, dass es Krieg geben würde.
„Das gibt Krieg“, sagte ein Bekannter, als er die Nachricht hörte, und er sprach das aus, was die Frau befürchtete. Für sie war ein Weltkrieg wahrscheinlich. Ein Krieg, den sie als Kind erleben musste. So etwas wollte sie nicht noch einmal ertragen. Tagelang ließ sie keine Nachrichten aus. Sie verstärkten das Gefühl: Krieg, wieder Krieg!
„Na, stell dich nicht so an, reagiere doch nicht so dramatisch, zu uns kommt der Krieg doch nicht“, sagte jeder zu ihr, mit dem sie über ihre Befürchtungen sprechen wollte. Nach einigen Tagen redete sie mit niemanden mehr über ihre Ängste.
Jetzt stand sie noch zitternd zwischen den Menschen, die dem Aufruf zur Demo gefolgt waren, einem Protestmarsch gegen den Krieg, wie er in vielen Städten stattfand. Immer denkbarer wurde ein Angriff. Die Frau beachtete auch die nächsten Redner nicht. Bei dem Aufruf sich zur Lichterkette aufzustellen, wurde ihr bewusst, dass sie frierend auf dem Burgplatz stand. Sie entfernte sich wie ein Schlafwandler in die Finsternis und konnte die Angst vor dem Krieg nicht mehr ertragen. Sie fröstelte, es war kalt und unbegreiflich dunkel. Sie verstand nicht, warum jetzt? Warum in unserer Zeit, in
einer Zeit des relativen Friedens? Drei Bahnen ließ sie an der Haltestelle vorüber fahren, bevor sie in der Lage war das Trittbrett mit dem Fuß zu berühren, die Haltegriffe zu fassen und einzusteigen. Sie hatte keine Kraft. Überall las sie das Wort Krieg. Es stand den Menschen auf der Stirn, aber sie schienen es nicht zu merken. Die Buchstaben warfen Blasen, flossen auseinander und wurden zu blutroten Lettern. Die Luft roch nach Krieg, sie atmete Krieg. Wie mit einem schwarzen Stift schienen die Worte an sämtliche Wände geschrieben. Als sie ausstieg und in ein Schaufenster schaute, begegnete sie ihrem Spiegelbild, begegnete sie sich. Sie sah einen verängstigten, grimmigen Menschen. Die Frau versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht. Chaos war in ihr. Sie fühlte sich so hilflos. Immer diese Angst. Am schrecklichsten war die Furcht vor der Dunkelheit. Sie bemühte sich, klar und bewusst zu denken, aber ihre Gedanken verloren sich in der Marschmusik, die sie aus einem Cafe hörte und die sie so hasste. Marschmusik, die Bilder in ihr aufleben ließen, die sie nicht sehen wollte.Soldaten, hunderte, tausende Soldaten, müde, ausgehungert und wie Roboter der Musik folgend. Sie wusste nicht, wo sie diese Bilder gesehen hatte, aber sie hatte sie gesehen. Ihr Denken stand still vor Angst. Weglaufen konnte sie nicht, abgestumpft war sie nicht. Die Welt hatte sich verändert, so kam es ihr vor. Sie selbst hatte sich verändert. Langsam ging sie durch die Fußgängerzone. Nur mit kleinen Schritten kam sie voran. Atemschwaden dampften ihr aus dem Mund, vermischten sich mit dem Regen und trübten ihren Blick. Eine junge Frau begann ihre Fenster zu putzen. Es nieselte immer noch. Die alte Frau erschrak, weil doch alles wie immer schien. Mütter zerrten Kinder hinter sich her und schleppten Einkaufstüten. Die putzende Dame schloss das gesäuberte Fenster.
Ich muss vorsorgen, dachte die Frau, während sie versuchte, die zerrissenen Fäden ihrer Gedanken zu verknüpfen. Bekleidung, etwas Warmes zum Anziehen müsste ich haben, waren ihre Überlegungen. Sie erinnerte sich an ihre Albträume nach dem letzten Weltkrieg. Diese Träume von Flucht, in denen sie immer nach einem warmen, langen Mantel suchte, den sie mitnehmen wollte -auch im Hochsommer -, aber sie fand keinen Mantel. Dieser Krieg wird ja nicht lange dauern, versuchte sie sich zu trösten, nur, sie fühlte keinen Trost. Die warme Zudecke, die sie besaß, die war ihr eine Beruhigung, über die freute sie sich.
Lebensmittel, kam es ihr in den Sinn, könnte sie kaufen. Konserven, Tütensuppen, so etwas kann man gut lagern, gleichzeitig wusste sie, dass dieses Vorhaben keine Lösung war.
Während sie ihren Überlegungen nachhing, spielte ihr Fuß mit einer Papiertüte, die sich vor ihr aufgebläht hatte. Blitzschnell entriss der Wind sie ihr und wirbelte sie herum. Die Tüte begann zu tanzen. Die Frau konnte die Schrift des Bäckers lesen. Der Wind griff den Beutel von der Seite an, wirbelte ihn hoch, riss ein Stück ab. Er spielte mit dem Papier. Es sah so leicht aus, wie die Tüte über dem Boden schwebte. Auch ihr wurde es leichter. Das Spiel der Natur begeisterte die Frau. Sie sah so lange zu, bis die Tüte völlig zerfetzt war. Der Wind zeigte ihr die Kraft des Unsichtbaren. Sie hatte ein wenig von dieser Kraft gespürt.
Sie ging in ein Geschäft, das gerade schließen wollte, und verlangte alle Teelichter, die vorrätig waren und die größte Packung Streichhölzer. Dreihundert Teelichter konnte sie bekommen. Verwundert blickte die Verkäuferin die Frau an und meinte:
„Für ein Gartenfest ist es aber zu kalt.“ Sie antwortete:
„Nein, kein Gartenfest, es ist wegen dem Krieg:“
Die Verkäuferin schüttelte den Kopf, als hätte sie ihre Kundin nicht verstanden, als wäre Krieg für sie ein Fremdwort, als wäre die Frau verrückt. Vielleicht war sie es auch. Es beruhigte sie, ein wenig Licht zu haben, ein kleines Licht für dreihundert Tage.
Als sie nach Hause ging, erstrahlten im Wasserstaub die leuchtenden Farben eines Regenbogens. Die Wolken schienen bleicher. Sie bedeckten halb den Mond. Die andere Hälfte war von Röte übergossen. Sie erinnerte an einen weit entfernten Brand.
Sie wartete auf den Krieg, Tag für Tag. Die Ungewissheit war so peinigend, dass sie fast hoffte, er würde endlich beginnen, dieser Krieg. Nach einigen Wochen war es soweit,
„der Krieg im Irak hatte begonnen“, lautete die Schlagzeilen. Die peinigende Ungewissheit, der tiefe Abgrund der Angst, wich der Realität. Am Abend nahm sie zehn Teelichter, entzündete eines nach dem andern, schaute in die Flämmchen, bis alle verloschen waren.
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