Freitag, 1. April 2011

Manfred Schrempf (Österr.): Der erste Tanz



Die Kapelle spielte einen Foxtrott und die Musik legte sich melancholisch auf die gesamte Szenerie, hüllte jeden ein und erzeugte eine vertraute Distanzlosigkeit zwischen den Tänzern.
Das Licht war gedämpft und streifte nur hin und wieder die abwesenden Gesichter der Paare, wenn sie aneinandergeschmiegt langsam vorüber glitten, um gleich wieder der dunklen Menge entgegen zu streben, um wieder von ihr assimiliert zu werden.
Die Damen schienen willenlos in den Armen der Herren, welche sie hielten und führten und welche sie schweigend unterhielten.
Die rauchige Luft war schon tausendmal ein- und wieder ausgeatmet. Sie lag schwer im Saal. Es roch nach Parfüm und Schweiß, nach Zigaretten und Wein, roch nach Aufforderung und Bereitschaft.

Sie tanzten ihren ersten Tanz zusammen. Er hatte sie schon länger beobachtet, sie und ihre Freundin. Aber er war sehr jung und unerfahren und wenn er anfangs gedacht hatte, dass seine Uniform ihm genug Selbstbewusstsein geben würde, fühlte er sich jetzt nur verkleidet. Er fühlte sich im falschen Kostüm, welches Mannhaftigkeit und Mut versprach, Stärke und Selbstsicherheit. Er wusste nichts zu sagen.

Sie schwitzte leicht. Alle Sinne angespannt glitt sie mit ihm über den schmutzigen Tanzboden. Es war das erste Mal, dass sie zu so einem Vergnügen ging und obwohl sie relativ gut deutsch sprach, war ihr hier doch alles sehr fremd. Auch die Musik, die sie vereinzelt aus den Kinofilmen kannte. Eine ungewisse Schwermut bewegte sich mit den Tanzenden des Abschiedabends. Kein ausgelassener Ball, kein lautes Lachen, keine schmissige Musik. Man war lediglich zusammen, das war es, was wichtig war. Die Frauen wussten, was die Männer ahnten. Sie konnten das Kommende spüren. Und aus einem Gemisch von eigener Liebessehnsucht und uralten mütterlichen Gefühlen, waren sie ihren Tänzern jener Nacht so nahe, wie sie es nur sein konnten.


Er hatte einen gewissen Duft, den sie nicht als störend empfand, höchstens machte er sie neugierig auf den Menschen, welcher ihr im Leben wohl nicht noch einmal begegnen würde. Aber sie wollte keine Fragen stellen, nichts erfahren, nur seinen Vornamen merkte sie sich, sie hatten sich vorgestellt.

Liebe, an die er jetzt dachte, hatte er sich immer anders vorgestellt. In seiner Fantasie hatte Liebe immer mit Sommer zu tun, mit Wiesen und weißen Wolken, mit völliger Unbeschwertheit. Nichts davon war eingetroffen. Es war bald Winter und Unbeschwertheit konnte man weit und breit nicht finden, nur noch in den Augen sehr kleiner Kinder, die von nichts wussten, leuchtete sie noch. Aber auch das würde vergehen. Nicht daran denken, dachte er.
Er hielt seine Tanzpartnerin nah bei sich und je länger sie tanzten, desto enger hielt er sie. Er hielt sie so eng, wie er noch niemals eine Frau gehalten hatte und obwohl sie nicht sprachen, spürte er ihr Einverständnis. Er spürte es in ihren Bewegungen, in der Art, wie sie ihren Arm um ihn legte, spürte es in der Berührung ihrer Haare an seiner Wange und den kurzen Berührungen ihrer Knie. Zärtlich setzte er seine Schritte nur für sie.

Ein ansehnlicher Mann, dachte sie, als er auf sie zukam. Die Wangen leicht errötend, wie es auch ihre Wangen taten, als er fragte, ob er mit ihr tanzen dürfe. Sie sah seine Jugend und plötzlich fühlte sie sich viel älter als er. Sie hatte nicht gedacht, dass es so junge Soldaten geben würde. Ein Deutscher, dachte sie dann beim Tanzen, ein echter Deutscher. Ohne roten Bart und auch nicht baumgroß und bärenstark. Die Lehrer hatten gelogen. Er schien ihr eher sensibel, eher zart als rau. Und sie schien ihm zu gefallen. Obwohl sie keine blonden Haare hatte und ihr Teint eher dunkel war, als hell. Die ungewohnten Schuhe drückten. Sie nahm es wie von Ferne wahr.

Eine Polin, dachte er. Er tanzte mit einer Polin. Deutschstämmig zwar, wie der Offizier vor dem Tanzabend betonte, denn etwas Anderes kam nicht infrage, aber eben doch eine Polin.
Was hätte er sie fragen sollen? Wie es ihr ging? Was ihre Familie machte? Ob er sie wieder sehen könnte? Keine von diesen Fragen konnte er stellen. Jede dieser Fragen hatte ihre Unschuld verloren. Er war hier und sie war hier, das war die einzige Wahrheit, die Wahrheit des Augenblicks, der keine Zukunft kannte.
Eine Polin. Was würde sie von ihm halten? Er war nicht als Urlauber hier. Andererseits war sie freiwillig zum Tanz gekommen.
Aber was wusste er von der polnischen Seele? Dass sie primitiv sei, hatte man ihn gelehrt. Das sie aggressiv sei, hatte man agitiert. Nun hielt er eine Warschauerin in den Armen und er wünschte sich, dass es so bleiben könne. Durfte er so wünschen? War es die Sentimentalität des Soldaten, der bald zur Front musste? Für einen Moment zerriss sein Vorhang aus Vorurteilen und vagen Vorstellungen und er sah die Widernatürlichkeit der Situation, in der er sich befand. Er war hier, um ihr die Heimat zu nehmen. Alles andere war Beiwerk. Ihre Heimat hatte er bereits, nun hätte er noch gerne sie dazu. Er versuchte sich selbst von außen zu sehen.

Sie dachte kurz an ihren Vater. Er hatte so lange insistiert, bis sie zu diesem Vergnügen gegangen war. Er, ein Volksdeutscher, erhoffte sich sicher irgendeinen Vorteil, wenn sie Bekanntschaft mit einem deutschen Soldaten machte. Sie mochte nicht daran denken.
Die Musik, sie machte die Gedanken träge. Seine Hand auf ihrer Lendengegend zeichnete sich mit Wärme ab. Ihr schien, als würde die Wärme dieser deutschen Hand in ihren polnischen Körper strömen und etwas erstaunt stellte sie fest, dass es ihr angenehm war.
Sie wusste, das alle Soldaten die heute hier waren in den nächsten Tagen versetzt wurden, die Veranstaltung lief als „Abschiedsabend“.
Wie konnte man sich von jemandem verabschieden, den man gar nicht kannte? Von dem man nichts wusste? Sie wusste ja nichts von ihm und er nichts von ihr. Trotzdem schien er ihr vertraut, einfach als Mensch, der mit ihr die gleiche Lebensspanne teilte. Sie schwitzte nicht mehr.

Er dachte an zuhause. Ein paar Mädchen hatte er gekannt und er war vielleicht auch schon verliebt gewesen, dachte er, während er den Duft ihrer Haare aufsog um ihn irgendwo in sich zu lagern. Vielleicht war er schon verliebt gewesen, aber sofort ahnte er, dass dem nicht so war. Dieser Tanz zeigte ihm, was Liebe hätte sein können. Plötzlich wurde ihm klar, was Liebe bedeuten konnte und welcher Verlust es sein würde, ohne Liebe zu sein. Es war die Tragik des Moments, die ihm bewusst wurde und die ihm seine Unwiederbringlichkeit kühl und distanziert zeigte. Wäre es doch Sommer, dachte er, und ich der Reisende. Wäre nur noch Frieden und wir am Weichselufer an ihren sandigen Buchten mit den herrlichen Weiden. Und hätten wir nur Zeit und Zeit…
Er konnte den Schlag ihres Herzens an seiner Brust spüren.

Sie verlor das Gefühl für die Zeit immer mehr. Je länger sie tanzten, desto unbestimmter wurde der Augenblick. Sie sah die anderen Paare in ähnlicher Schweigsamkeit ihre Körper zueinander neigen. Sie spürte den tiefen Ernst, mit dem das geschah.
Die Bausteine des Lebens fanden hier zueinander, es war offensichtlich.
Plötzlich spürte sie ein warmes Gefühl für ihren Tänzer, eine Vertrautheit, die sie sich nicht erklären konnte. Sie lehnte sich noch enger an ihn und ihre Hand lag nun auf seiner Schulter. Sie lehnte ihren Kopf an ihn, wie um ihn zu trösten und es war nichts Peinliches daran. Sie verstand ihn plötzlich, sie konnte hören, was er sagte, obwohl sein Mund geschlossen blieb. Sie konnte ihn alles fragen und antwortete auf alles, was er wissen wollte.

Nachdem sie ihren Kopf an ihn gelehnt hatte, gab es für ihn keine Rätsel mehr. Er war hier mit ihr, nur mit ihr und nur wegen ihr war er gekommen. Er kannte sie jetzt und in diesem einen Moment waren alle Möglichkeiten enthalten. Solange die Kapelle spielte.
So, wie sie tanzten, sahen sie aneinander vorbei. Trotzdem konnten sie sich in die Augen sehen. Trotzdem spielte die Kapelle den Schlussakkord.









(22,1 P. )

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