Freitag, 1. April 2011

Ulrich Horstmann: „Ein langer, langer Weg“

  
Behringer rieb sich die trockenen, geröteten Augen. Das monotone Moto-
rengeräusch des alten Golfs war wie ein nerviger Taktgeber, der ihn mehr und mehr ermüdete. Die Scheinwerfer frästen sich in die Dunkelheit, die sich wie eine graue, schmutzige Decke aus Vlies über das Areal legte. Er ge-stand sich ein, dass es ein Fehler war, quer über Land zu fahren, auf teil-weise lehmigen Pisten, deren Konturen sich in der hereinbrechenden Nacht förmlich aufzulösen schienen. Die Mattigkeit sedierte ihn in gefährlichem Maße. Sie gaukelte ihm bizarre Szenen vor. Manchmal trat er abrupt auf die Bremse, weil er irrigerweise glaubte, ein Hund oder eine Katze seien über die Strasse gehuscht.

Der Motor hüstelte blechern und erstarb in einem scheppernden Klackern, so als würden Metallteile in einem Mixer verwirbelt. „Ach, du Scheiße“, knurrte Behringer entnervt. „Bitte - nicht jetzt, nicht hier!“ Wütend drosch er mit der Faust gegen das Armaturenbrett. Er wußte noch nicht einmal, welches polnische Dorf er zuletzt durchfahren hatte. Er liebte dieses Land und hatte es urlaubsweise mehr als ein Dutzend mal besucht, aber diese Strecke war Neuland.

Er nahm ein kleines, einsam stehendes Gehöft wahr, das sich wie ein Sche-renschnitt von der nebelverhangenen Landschaft abhob. Hinter milchigen, trüben Fensterscheiben brannte noch Licht, gottlob. Er stakste herüber und klingelte. Zögerlich wurde die schwere, mit bunten Ornamenten ver-zierte Tür geöffnet. Eine Frau um die dreißig sah ihn fragend an. Sie war nicht hübsch, hatte aber interessante Gesichtszüge. Der freche Schnitt ihrer kurzen, weizenblonden Haare akzentuierte eine gewisse Filouhaftigkeit. Sie strahlte die gesunde, vollfleischige Frische einer jungen Bäuerin ab.

Behringer sprach exzellent polnisch. Er schilderte seine mißliche Lage. Die Frau machte eine einladende Handbewegung. Er folgte ihr, quer durch ei-nen düsteren Flur, in die kleine, heimelige Wohnstube.

Ein circa vierjähriges Mädchen drückte sich schutzbedürftig an sie. Das dürre Kind wirkte hinter ihren breiten Hüften porzellanhaft zerbrechlich. „Ich heiße Lydia“, sagte die Frau, „und die Kleine heißt Jana. Sie ist ein kleiner Schißhase. Sie ängstigt sich vor allem und jedem.“ Behringer wun-
derte sich, dass das Mädchen noch nicht im Bett war.

Ein alter Mann saß am Tisch. Seine gekrümmte Haltung verstärkte den
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Eindruck von Schwäche und Hinfälligkeit. Tiefe Falten ziselierten seine gegerbte, von Altersflecken übersäte Haut. Seine eisblauen Augen nahmen den Besucher neugierig ins Visier. Dann nickte er ihm wohlwollend zu.

Sie haben gewiß Hunger“, sagte Lydia bestimmt. Es klang nicht nach ei-ner Frage. Minuten später schleppte sie diverse Teller an – deftige, gepökel-te Wurst, rahmigen Schafskäse, würziges, selbstgebackenes Brot. Die wun-derbaren Aromen erfüllten den Raum. Behringer betonte, dass das alles nicht nötig sei, griff aber gierig zu. Er hatte wölfischen Hunger. Er hob das Glas Wodka, das sie ihm ungefragt eingeschenkt hatte, nahm einen kräfti-gen Schluck und hüstelte anerkennend. Das Zeug hatte es in sich, im Wort-sinn.

Die kleine Jana bestaunte den großgewachsenen Fremden, der mit solchem Enthusiasmus aß. Zentimeterweise wagte sie sich näher an ihn heran, so als gelte es, die Gefährlichkeit eines exotischen Tieres auszutesten.

Sie sollten hier übernachten“, sagte Lydia. „Wir haben eine urgemütliche Gästekammer.“ Ihre Ansagen waren handfest und ihre Art zupackend. Oh-ne Zweifel, sie hatte den Hof und ihre Leute fest im Griff. Trotzdem waren da auch Verletzlichkeit und weiblicher Charme in ihrer Wesenheit. „Mor-gen früh werde ich die Werkstatt in Grabow anrufen. Die sollen einen Me-chaniker herschicken.“

Behringer nickte dankbar. „Selbstverständlich werde ich für die Übernach-tung bezahlen.“ In einer Art Abwehrhaltung hob sie entrüstet die Hand, und auch der alte Mann protestierte und brummte etwas von elementarer Gastfreundschaft.
Woher kommen Sie?“, fragte Lydia.

Aus Lublin“, sagte Behringer zwischen zwei Bissen. „Ich habe dort einen polnischen Freund besucht.“

Nein“, korrigierte sie freundlich, „ich meine – wo sind Sie aufgewachsen? Ich wette, in der Gegend von Tarnow oder Jaroslaw. Sie haben diesen lus-tigen, harten Dialekt.“ Sie kicherte mädchenhaft.

Ach, so meinen Sie das“, antwortete er arglos. „Nein, ich bin in Berlin auf-gewachsen. Ich bin Deutscher.“

Es war, als hätte er einen Sprengsatz in den Raum geworfen. Die lockere
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Stimmung vereiste jäh. Sein Gesicht formte ein Fragezeichen. Irritiert
schaute er auf.

Großer Gott“, murmelte Lydia, mehr zu sich selbst. Sie sah Behringer fest an. „Es ist so... Mein Großvater“, sie wies auf den greisen Mann, „hat im Zweiten Weltkrieg schreckliche Dinge erlebt. Unbeschreibliche Dinge. Er hat sich damals geschworen, nie wieder mit einem Deutschen zu reden.“

Oh“, raunte Behringer betreten. „Das tut mir leid.“ Er nahm eine Serviet-te, tupfte sich den Mund ab und beendete das köstliche Mahl. Er hockte da wie ein zu Unrecht geohrfeigtes Kind. Auch die Kleine ging auf Distanz zu ihm, so als habe die Bestie plötzlich seine raffgierigen Zähne gezeigt. Minu-tenlanges, bedrückendes Schweigen setzte ein. Er überlegte, welche Reak-tion wohl angemessen sei – energisch zu erklären, dass er selbst damals noch nicht einmal geboren war, oder milde darzulegen, dass es fürwahr ei-ne entsetzliche, menschenverachtende Zeit war, so wie jede andere Kriegs-zeit auch.
Der stumme Streit schien den fossilhaften Großvater auf seltsame Weise energetisiert zu haben. Er war in Aufruhr. In den Schläfenlappen pulsten bläuliche Äderchen. Mit den bleistiftdünnen Fingern fuhr er sich durch das schlohweiße Resthaar. Seine Kiefer mahlten hörbar, so als könne er das Problem zerkauen. Seine knopfkleinen Augen tranchierten den Besucher feindselig. „Der Deutsche soll verschwinden“, maulte er mit brüchiger Stimme.

Er ist unser Gast“, stellte Lydia klar.

Nein, ist er nicht. Keiner hat ihn eingeladen. Wir laden keine Deutschen ein.“ Er sprach, seinem Eid entsprechend, nur noch mit seiner Enkelin.

Behringer räusperte sich. „Kann es eine Lösung sein, nicht mehr miteinan-der zu reden? Wenn das alle täten, die Probleme haben, dann `Gute Nacht`.“

Der Großvater sonderte einen verächtlichen Zischlaut ab, während seine Enkelin zustimmend nickte. Ihre nougatfarbenen Augen streichelten Behr-inger sanft. Dann brachte sie ihre Tochter zu Bett.

Der Großvater blickte trotzig an dem ungebetenen Gast vorbei.

Ich bin Lehrer an einem Gymnasium in Berlin“, sagte Behringer, wohl
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wissend, dass er keine Antwort erwarten durfte. „Kleine Konflikte unter meinen Schülern – okay. Das gehört dazu. Die gehören zum Leben, zur Entwicklung der Persönlichkeit. Aber wenn sie rassistische Ursachen ha-ben, gehe ich sofort massiv dazwischen. Dann wird geredet. Alle miteinan-der. Nur das hilft. Ich habe eine tolle Klasse, glaube ich.“

Der Großvater schien in keinster Weise beeindruckt. Laut hörbar schlürfte er einen Kamillentee. Seine Enkelin kam zurück und legte vergilbte Manu-skriptseiten auf den Tisch.
Das hier ist das Tagebuch meines Großvaters. Bittere Erinnerungen an die
Kriegsjahre. Er war Widerstandskämpfer und hielt sich mit anderen Parti-sanen in den Wäldern bei Radom versteckt. Ein deutscher Soldat gab sich als Überläufer aus und schloß sich ihnen an. Er verriet sie heimtückisch. Nahezu alle Leute der Gruppe, Frauen und Männer, wurden von den Deut-schen liquidiert.“

Das zerklüftete Gesicht des alten Mannes zuckte, so als litte er immer noch unter den Erinnerungsfetzen wie unter Stromstößen.

Warum bieten Sie das Manuskript nicht einem Verlag an?“, fragte Behr-inger. „Ein Buch ist das kraftvollste Instrument, um etwas in den Köpfen anderer anzustoßen.“

Unvermittelt stemmte sich der Großvater aus seinem alten Sessel hoch und schlurfte grußlos in sein Schlafzimmer. Seine Enkelin zuckte bedauernd mit den Schultern.
Sie müssen sehr müde sein“, beschied sie. „Holen Sie bitte Ihre Sachen aus dem Fahrzeug. Ich zeige Ihnen dann die Schlafkammer.“

Behringer schlief fest und lange. Erst das scheppernde Hantieren des Kfz-Mechanikers, den Lydia zeitig angerufen hatte, weckte ihn auf. Es war fast Mittag, aber Lydia empfing ihn, bestens gelaunt, mit einem üppigen, damp-fenden Frühstück. Zu seinem Erstaunen setzte sich die kleine, scheue Jana vertrauensvoll direkt neben ihn. Jetzt schien sie zu wittern, dass er ein gut-artiger Mensch war. In Abständen berührte sie ihn zaghaft, einfach so, wohl um sicherzugehen, dass er auch tatsächlich handzahm war.

Erneut aß Behringer mit Heißhunger. Der Mechaniker verhielt sich denk-bar korrekt. Die technische Panne bei dem alten Golf war schnell behoben, und er verlangte einen fairen Preis.

Es schien ein angenehmer Tag zu werden. Die Sonne verwöhnte mit einer
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milden Wärme. Behringer machte sich zum Aufbruch bereit. Er umarmte die kleine Jana sanft, und sie ließ es geschehen. Zögerlich umarmte er auch ihre Mutter. Erneut verfing er sich in ihren geheimnisvollen Augen, in de-nen sich, widersprüchlich genug, Lebenslust und Wehmut mischten. Er hät-te sie gern gefragt, ob er wiederkommen dürfe, irgendwann einmal, aber er traute sich nicht. Sie schien seine Gedanken lesen zu können.
Ja“, sagte sie knapp und kniff ihm wissend ein Auge zu.

Als er sich abwandte, stand der Großvater vor ihm. Er schien irgendwie verändert. Da war ein Spurenelement von Versöhnung in seinem Blick.
Auf Wiedersehen“, sagte er mit schwacher Stimme und reichte Behringer die Hand.

Behringer nickte ergriffen. „Sehr, sehr gern. Es ist wunderbar, neue polni-sche Freunde gefunden zu haben.“

Endlich schien der Großvater seinen Frieden gemacht zu haben. Mit den Deutschen und, vor allem, mit sich selbst. Es war ein langer, langer Weg bis dahin.



(21,1 P.)

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