Dienstag, 19. April 2011

Michael Windisch: Über die durchschnittliche Taubensterblichkeit in Mitteleuropa


Mittelmäßiger Tag, mittelmäßige Szene. Blasse Wolken hatten sich vor die Frühlingssonne geschoben, eben ausreichend, dass sie die Stadt unter ihnen in leichtes Dämmerlicht tunkten, das sich nur für wenige, einzelne Sekunden, unregelmäßig und kaum wahrnehmbar, durch eine zarte Regung des Windes von ihr löste. Vor der Auslage eines innerstädtischen Elektronikladens hatte sich ein Grüppchen von Menschen versammelt, beiderlei Geschlechts, jeglichen Alters, jedweder Einkommensklasse. Man kannte keine Unterschiede.
Die Arme am Rücken verschränkt, hatten sie sich in ihrer nachmittäglichen Gleichgültigkeit, die sich von der frühmorgendlichen im übrigen kaum unterschied, vor der Auslage positioniert, durch die Glasvitrine auf das jüngst eingetroffene Sonderangebot (Fernsehbildschirm mit Bilddiagonale von 142 Zentimetern- für Interessenten: zwei Straßen weiter noch um einiges günstiger zu erhalten!) stierend. Soeben liefen Nachrichten. Nachmittägliche Kurzmeldungen. Auch sie scheinbar bereits dieselben, denen man vormittags beigewohnt. Zwischen dem katastrophalen Abschneiden der Nationalmannschaft im Rahmen eines freundschaftlichen Länderspieles gegen Frankreich, in dessen Nachhinein es zu wüsten Ausschreitungen von Seiten der patriotischen Anhänger gekommen war, und den Wetteraussichten für die kommenden Tage gebettet spielte man eben einen Bericht über irgendwo auf dem weiten Erdball stattfindendes Kriegsgeschehen ein. Mittelmäßiger Krieg. Der Beitrag von mittelmäßiger Länge. Die Panzerglasscheibe der Auslage sowie das Geräusch der immer wieder auf- und abrollenden Straßenbahnen im Rücken der Versammelten verunmöglichten im Duett zu hören, womöglich hatte man den Ton ohnedies bereits gänzlich abgestellt. Wie erwähnt: Es war ein mittelmäßiger Krieg. Am Bildschirm liefen nur ein paar vermummte Gestalten in sturmgewühltem Wüstensand durch das Szenario, im Anschlag trugen sie Maschinengewehre, das Erbeben der Kameraführung, stets, da im Hintergrund ein Artilleriegeschoss unausreichend frankiert seinen Weg über Grenzen bahnte, ward ersichtlich. Hie und da wurden Leichen oder zumindest Leichenteile durchs Bild getragen, deren noch perlendes Blut den Wüstensand dunkel färbte. Man sah eine aufgebrachte Menschenmenge vor einem zerbombten Haus, wehklagende Frauen, Kinder, die ihre Eltern suchten, im Hintergrund rollte ein Panzer, einzelne versuchten mit Steinen nach ihm zu werfen. Die Salven von Maschinengewehren gaben ihnen Antwort. Ein Vater trug sein totes Kind vor die Kamera, eben in dem Moment, da auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein gelblich-weißer Altbau unter einer Detonation, erst, erzitterte, später fiel. Ein unzufriedenes Murren ging durch die Ansammlung vor der Vitrine, als die Kamera von dem stürzenden Gebäude abschwenkte. Alltägliches. Ein mittelmäßiger Krieg eben.
Indes das Geschehen auf der angepriesenen virtuellen Bildfläche einen neuerlichen Wechsel unternahm, wieder einmal verhüllte Gestalten vor der internationalen medialen Linse wüste Tänze zelebrierten, ließ sich eine Taube hinter der starrenden Menschenansammlung nieder, gurrte ein wenig, blieb ungehört, ließ ein dürres Zweiglein, das sie in ihrem Schnäbelchen getragen, fallen. Wurde von einem vorüber fahrenden Rad überrollt. Federn flogen auf, der Fahrradpilot wandte sich kurz reuig um, ehe er die Fahrt wieder aufnahm. Termine eilten, er ihnen nach. Er hatte den Vogel, zugegebenermaßen, schlecht erwischt, nur der linke Flügel schien zerstört, wie mit einem bleiernen Gewichte beladen band er das Tier an den Asphalt, indes der restliche Körper unter wildem Schlagen des rechten Flügels die linke, unbrauchbare Schwinge zu umtanzen schien. Heftiges Gurren von Seiten der Taube, Passanten wichen in großem Bogen aus, manche gesellten sich auch zu der Ansammlung vor der Auslage, die sich noch immer stumm über die Brutalität so manchen fremden Volkes empörte, sich nebenbei auch an der Ungeheuerlichkeit von 142 Zentimetern Bildschirmdiagonale ergötzte. Was diese nicht alles in sich zu erfassen und auszustrahlen vermochte: Da sah man wieder brennende Häuser, von Blut gefärbten Wüstensand, Helikopter, Soldaten, vermummte Leichenprozessionen. Hie und da Herren in schwarzen Anzügen, sich unter freundlichem Händeschütteln des immer währenden Friedens versichernd. Und die Farben: So voll, so stark, so intensiv, unverzerrt das Bild, es schien, als geschähe all dies tatsächlich zwei Meter vor dem eigenen Auge, nicht weit, weit entfernt, irgendwo in der öden Wüste. Kolossal!
Die Taube flatterte und gurrte, blutete und wand sich tanzend um den eigenen Kadaver, noch als die Menge sich bereits aufzulösen begann, da man im Elektroladen das Fernsehwunder außer Betrieb genommen hatte. Erst das stählerne Rad einer vorüber fliehenden Straßenbahn schien sich ihrer anzunehmen. Es zerschmetterte das halbtote Tier, wälzte sich in dem Bad aus Blut, Fleisch und Gefieder. Der nächste Regen würde dann die sterblichen Überreste in die Kanalisation spülen. Er würde auch an die Glasvitrine trommeln, hinter der sich sicher und verborgen der Fernsehapparat den Konsumenten präsentierte.
Noch an so manchem mittelmäßigem Tag. 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen