Zum Muttertag 1955
„Liebe Mutter!“ Die verhärmte Frau Brown wendete den Brief in ihrer Hand, erschrockenes Erstaunen in den Augen und das beklemmende Gefühl von etwas Unbegreiflichem im Herzen.
Der Brief kam aus Deutschland, dem Land, in dem Jack begraben liegt, Jack, ihr neunzehnjähriger, fröhlicher Bub . Und der trug die Überschrift „Liebe Mutter!“ und fuhr fort: „Heute ist der Tag, da alle Welt der Mütter gedenkt, - lassen Sie mich darum so zu Ihnen sprechen, wie es auch Ihr Junge täte, wenn er es noch vermöchte“;
und es standen zu Herzen gehende Worte darin und darunter die Unterschrift „Ein Sohn“.
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Aus dem Umschlag aber fiel ein Bild von einem gepflegten Grab mit einem Holzkreuz darauf und der Aufschrift:“ Jack Brown“.
In der Bewegtheit, die die Berührung einer nie vernarbenden Wunde hervorruft, setzte sich die einfach englische Frau hin und dankte dem Unbekannten für den Gruß ihres toten Sohnes.
Und es verging eine Zeit, bis ein erneuter Brief eintraf und darin eine Fahrkarte und die Aufforderung, das Grab des Sohnes zu besuchen.
„Der ist es gewesen!“ zischte Maud voller Hass, die Tochter, deren Ehe gescheitert war und die in allen Menschen nur das Schlechte vernutete„Durch seine Hand ist Jack gefallen und nun will er sein schlechtes Gewissen beschwichtigen. Du willst dich doch nicht dem Mörder deines Sohnes zu Dank verpflichten?“
Und Erschrecken ergreift das Mutterherz. Hatte Maud recht? War das Engagement dieses Mannes nichts als ein Akt der Selbstbefreiung?
Eine lange Nacht nagender Zweifel durchringt sie schlaflos.
Aber dann denkt sie daran, dass der Hass auf das
Volk auf dem Festland bereits seit Jahrhunderten schon in den Schulen geweckt wird. Die, die Germanen, die nur Kriege anzetteln und töten können.
Und wie sieht es in Deutschland aus? Sie hatte gehört, dass man dort gesungen hatte „Siegreich wollen wir Frankreich schlagen!“ und „ Wir fahren gegen Engelland“ und „Nach Osten geht unser Ritt!“
Muss dieser Hass nicht endlich einmal aufhören? Alle Menschen, gleich welcher Nation, wollen doch nur eins: In Frieden leben!
Und nun kommt ein Deutscher daher und fühlt mit ihr, soll sie da wieder nur niedere Beweggründe vermuten?
Entschlossen packt sie ihre Reisetasche.
„Was willst du ihm sagen?“ forscht die Tochter, aber die Mutter weiß es noch nicht,.
Sie sinnt während der langen Fahrt vergeblich darüber nach, ob sie es wohl über sich bringen wird, ehrlich zu vergeben, wenn jener sie darum bittet. Geschah nicht alles, was damals war, ohne persönliche Schuld, dem wie jenem und ihr wie anderen Müttern?
Und dann empfängt sie schließlich ein ernster Mann mit Augen, aus denen ebenso viel erlittenes Leid spricht, wie aus den ihren.
„Sie waren es, nicht wahr?“ flüstert sie da und es geht plötzlich ganz leicht, “aber keine Angst. Ich trage es Ihnen nicht nach.“
Der Mann bleibt stehen und aus seinen Blicken spricht Verwunderung. Die weicht erst langsam dem Begreifen, dann aber schüttelt er mit einem traurigen Lächeln den Kopf.
„Nein,. ich war es nicht! Ich fand das einsame Grab des englischen
Fliegers Jack Brown, als ich , meiner Mutter gedenkend, die Stille suchte,. Es ist zehn Jahre her, seit sie unter den Trümmern einer Bombennacht verschüttet wurde. Es waren englische Flieger., die über dem Wohngebiet ihr Last abschütteten, in dem es keine militärischen Anlagen gab. Als ich nun plötzlich vor diesem schlichten Grab verharrte, war es mir, als spräche er zu mir:
„Einer von uns ließ deiner Mutter keine Zeit mehr, das zu genießen, was du für sie tun wolltest. Einer von Euch ließ mir keine Zeit mehr, das an meiner Mutter gutzumachen, was ich bislang versäumt hatte.
Willst du es nicht für mich tun, Kamerad?“
Sehen Sie, da konnte ich nicht anders, ich musste Ihre Anschrift suchen.“
Tief beugte sich der Kopf einer fremden Mutter und stumm drückte sie die Hand eines anderen Sohnes
(24,3 P.)
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