Freitag, 1. April 2011

Margarita Kinstner (Wien): Seelenvögel


Sebastian hat die Wut. Der Deutschlehrer hat ihn heute völlig ignoriert. Ist auf Kamil, der neben Sebastian sitzt, zugegangenen und hat gesagt: "Na, was war denn mit dir los, diesmal?" Zuerst hat Sebastian noch gedacht, der Lehrer wolle zu ihm, schließlich hat er den Fleck geschrieben. Aber der Deutschlehrer ist auf Kamil zu. Kamil, der einen Dreier hat. "Was war denn mit dir los, diesmal?", hat der Deutschlehrer gefragt und kurz über Kamils Oberarm gestrichen. Sebastian ist mit dem Nicht Genügend im Schularbeitsheft daneben gestanden und der Deutschlehrer hat ihn komplett ignoriert. Hat ihn nicht gefragt, was mit ihm los gewesen sei. Sebastian hat sich gefühlt wie ein Idiot.
"Die Arabersau soll froh sein, dass sie einen Dreier hat", sagt Sebastian auf dem Raucherklo zu Raffael.

Raffael hat den Willen. "Unser schönes Deustchland muss gesäubert werden", sagt der des öfteren, wenn sie sich am Raucherklo treffen. "Hier kommst du dir vor wie am Balkan", sagt er. Die Eltern haben ihn jetzt in einer anderen Schule angemeldet. "Das kann doch nicht wahr sein, dass mein Kind türkisch lernen muss, um sich zu unterhalten!", hat Raffaels Vater ins Telefon geschrien, als sich die Lehrerin über das Aggressionspotential von Raffaels kleinem Bruder beschwert hat.
"Wir haben einen Auftrag", sagt Raffael am Raucherklo.

Kevin hat weder Wut noch Wille, Kevin hat den Wahnsinn. Deswegen muss er zur Schulpsychologin. Dort sitzt er und muss sagen, wie er sich heute fühlt. Die Psychologin hat dafür ein Buch mit einem Seelenvogel. Kevin lacht in sich hinein und sagt: "Ich bin wütend." Dabei weiß er nicht einmal, wie sich so eine Wut anfühlt. Eigentlich ist ihm nur langweilig. Aber die Psychologin freut sich, wenn Kevin sagt, dass er wütend sei. "Das ist ein Fortschritt", sagt sie, wenn Kevins Mutter ihn abholen kommt, um mit der Psychologin zu sprechen. Kevin weiß nicht, wie man sich fühlt, wenn man wütend ist, aber Kevin kennt Sebastian, der es ihm erzählt. Die Psychologin fällt auf den Trick jedes Mal herein.
"Einer gegen alle, alle gegen einen", sagt Kevin auf dem Raucherklo.

Die drei stehen eng beisammen. Raffael hat einen Fuß auf dem Klobrett, mit dem Ellbogen stützt er sich am Knie ab. Danach wird wieder ein Fußabdruck zurückbleiben und Murad Al-Maziani wird mit dem Lappen darüber wischen ohne sich etwas dabei zu denken. Er wird die Fenster aufreißen, weil er als Nichtraucher den Rauch nicht mag, und er wird die Spülungen eine nach der anderen betätigen und dann Muschel für Muschel bürsten und mit dem Lappen über das Keramik fahren. Er ärgert sich schon lange nicht mehr. Manchmal denkt er sich: Bin ich froh, dass ich kein Lehrer bin. Lieber putz ich die Toiletten.
Letzte Woche hat eine junge Lehrerin geweint. Sie wisse nicht mehr, was die machen soll. "Sechste Stunde Psychologie", hat sie gesagt, "manchmal sitzen nur sechs Schüler in der Klasse. Die anderen gehen einfach nach Hause." Murad hat sie in seine kleine Schulwartswohnung gebeten und ihr etwas Süßes angeboten. Das macht er öfters. Die Lehrer fühlen sich wohl bei ihm, auch wenn sie nur ein paar Minuten verschnaufen können. "Was würden wir ohne dich machen", sagen sie zu ihm. Die Direktorin weiß von den Auszeiten in Murads Wohnung, aber sie sagt nichts. Das ist auch gut so. Murad möchte die Direktorin nicht einladen, und die anderen wissen: In Murads Wohnzimmer gelten andere Regeln. Hier herein kommen keine Eltern und auch keine Vorgesetzten. Nur manchmal kommen ein paar Schüler. Bei Murad darf man fünf Minuten durchatmen.

Murad putzt das Bubenklo und wischt über den Fußabdruck von Raffael. Er hört das Gepumpere im Erdgeschoss nicht, denn er hat den MP3 Player in die Ohren gestöpselt. Murad hört gerne Musik beim Putzen. Er denkt an Kamils Deutschschularbeit und wie sehr sich der Junge über den Dreier geärgert hat. Murad muss grinsen. Er ist stolz auf seinen Sohn. Wenn er Kamil ansieht, weiß er, warum er hier putzt. Kamil wird einmal ein besseres Leben haben. Als richtiger Deutscher. Kamil kann sich schön ausdrücken. Anders als Murad, der nach fünfzehn Jahren noch immer nach den richtigen Worten sucht.

Gegen Murads Wohnungstür pumpern Stiefel. Von innen. Warum hat Kamil nicht abgesperrt? Jetzt stehen sie zu dritt vor ihm: Sebastian, Raffael und Kevin. Kamil will zur Türe hinaus, doch Sebastian tritt sie mit dem Stiefel zu. "Geh auf die Knie und leck mir die Schuhe!", schreit Raffael. Seine Stimme überschlägt sich. Kevin wiehert sein Lachen durch den Vorraum. Als Kamil nicht reagiert, drückt ihn Sebastian zu Boden. "Hast nicht g´hört?", brüllt er. "Auf den Boden!"
Kamils Tränen tropfen auf Raffaels Schuh, als er mit seiner Zunge über die Oberfläche leckt. Die Schuhe sind aus Rauleder und schmecken trotz des Straßenstaubs, der an ihnen haftet, nach nichts. Kamils Zunge ist sofort trocken. Während Sebastian "Weiter!", schreit, holt Kevin das Handy aus dem Hosensack. Kamil hört das Summen in seinem Genick. Kevin beugt sich zu ihm herunter und filmt. "Diese feige Sau!", quietscht er. "Seht euch diese feige Sau an!". Er steckt das Handy wieder ein. Dann nimmt er das Telefon, das im Flur steht, reißt das Kabel aus der Dose und schmettert es auf Kamils Kopf.
"Bist du wahnsinnig?", schreit Sebastian.
Kamils Kopf fällt auf Raffaels Raulederschuh.
"Igitt!", schreit Raffael. Kevin wiehert.
"Scheiße, der bewegt sich nicht!", sagt Sebastian, der nach Kamils Puls greift.
"Hau´n wir ab", sagt Raffael. Sein Gesicht hat die Farbe von verschüttetem Mehl.
"Er lebt", sagt Sebastian und steht auf. Er geht zu Raffael, der die Türe schon geöffnet hat und auf den Gang späht.
"Scheiß Türke!", schreit Kevin.
"Die sind Araber", sagt Raffael noch, als er sich zu Kevin umdreht. Die drei rennen aus dem Schulgebäude.
Murad findet sein Kind am Boden. Er ruft die Rettung, obwohl er ahnt, dass es zu spät ist. Nicht zu spät für Kamils Körper, aber zu spät für seine Seele. Kamil wird diesen Nachmittag sein ganzes Leben lang auf seinem Rücken tragen. Egal, wohin er geht. Immer schweres Gepäck dabei. Murad weint.

Die Lehrer sind schockiert. Sie stehen nebeneinander und umarmen Murad, als dieser mit seiner Tasche in der Tür steht. In den Augen vieler sind Tränen. Manche murmeln: Eine Schande, dieser Prozess. Dass man sie so ungeschoren davonkommen lässt.
Murad ist der Prozess egal. Sein Kind will nicht mehr in Deutschland leben. Morgen um diese Zeit werde ich schon in Ägypten sein, denkt Murad. Dann müssen wir wieder von vorne anfangen. Für Kamil ist Ägypten nicht Heimat, sondern fremdes Land. Kamil gehört nach Deutschland, nicht nach Ägypten, denkt Murad.
Er dreht er sich um und geht durch die Türe hinaus in den grellgelben Nachmittag. Steigt in den kleinen Wagen, in dem sein Sohn sitzt. Sein Sohn, der soviel Angst hat, dass er nicht mehr hier wohnen will.


(21,7 P.)

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