Freitag, 1. April 2011

Thomas Klösner: Anak Krakatau


Als K. das Himmelstor passiert, ist es am überraschendsten für ihn, dass es das Tor zum Himmel ist, das er passiert. Denn wenn er kurz und fair sein Leben überschlägt, dann hatte er mit dem Eingang zu etwas ganz anderem gerechnet. Zu seiner Erleichterung wartet aber nicht Petrus am Empfang auf ihn, sondern ein zuvorkommender Angestellter, der auch sogleich seine Fragen beantworten kann.

Herr Petrus befasst sich nur mit den Spitzenstars, was glauben Sie, welcher Andrang hier tagtäglich herrscht? Man hört ja gerüchteweise, dass demnächst George H. W. Bush erwartet wird; ich kann das aber nicht nachprüfen, weil das weit höher gelegene Etagen sind mit Toren so breit, dass unsereiner nicht einmal von einem Türpfosten zum anderen sehen kann.“

Das ist hier sicher nur so eine Art Durchgangsstation, oder?“, erkundigt sich K. vorsichtig. „Und danach wird man in bestimmte Kategorien eingeordnet und ...“

Das hier ist die Endstation“, erklärt der Mann an der Rezeption bestimmt. „Unsere Gewährsleute verbreiten auf der Erde gerne Gerüchte von wegen Hölle und Fegefeuer und so, aber nur damit dort nicht das totale Chaos ausbricht, und sind damit leider trotzdem wenig erfolgreich. Und jetzt ich muss Sie gleich als Wichtigstes fragen, wen Sie hier oben gerne treffen möchten.“

Ich habe mal ein Buch gelesen mit dem Titel ‚Hitlers Wien’, und da ist die Rede von einer jungen Frau namens Emilie gewesen, und ...“

Die Dame können wir identifizieren“, meint der Mann vom Empfang zuversichtlich und macht sich an der Tastatur zu schaffen. „Es handelt um Emilie Häusler, genannt Milli, geboren am 4. Mai 1895 in Wien. Und mit ihr hätten Sie also gerne ein Date?“

Nein, nein“, unterbricht ihn K. schnell. „In dem Buch stand, dass Adolf Hitler behauptet hat, sie sei seine erste Geliebte gewesen, und da hätte ich ihn doch gerne einmal gefragt, …“

Um Gottes Willen, der Mann hat den 2. Weltkrieg mit 55 Millionen Toten zu verantworten, für 80 Millionen Menschen war er der Führer, für weit mehr der Ausbund des Bösen. Was glauben Sie, wie viele den Mann sonst noch sprechen wollen und was die für lebenswichtige Fragen haben könnten? Sicher kann ich Sie auf die Warteliste setzen, aber in den nächsten tausend Jahren ist das ohne jede Aussicht und auch in den übernächsten tausend Jahren und weit darüber hinaus. Übrigens muss ich Sie fairerweise darauf hinweisen, dass Sie zwar eine Ewigkeit bei uns verbringen werden, aber glauben Sie ja nicht, dass darum die Zeit hier schneller vergeht als da unten.

Ich habe da Mal eine traurige Geschichte gehört von einer jungen Russin, in die sich im Oktober 1941 ein deutscher Gefreiter verliebt hat. Sie hieß Jana, war 19 Jahre alt und blond und kam aus Charkow. Aber als die Stadt im Februar 1943 von den Sowjets zurückerobert wurde, wurde sie standrechtlich erschossen. Und darum hat sie mein Großvater nicht mehr wiedersehen können, als Charkow im Monat darauf von den deutschen Truppen wieder genommen wurde.“

Das sind ja nun allerdings ziemlich dürftige Angaben“, bedauert der Mann vom Empfang und macht einige Eingaben. „Aber versuchen können wir es.“

Nein, nein“, erwidert K. schnell. „Der Oberbefehlshaber an der deutschen Südfront hieß Erich von Manstein und er war ohne Zweifel ein genialer Stratege. Aber ich hätte doch gerne einmal von ihm gewusst, …“

Um Gottes Willen, der Mann war Generalfeldmarschall, trug das Ritterkreuz mit Eichenlaub und Schwertern und kommandierte zur fraglichen Zeit eine ganze Heeresgruppe mit mehreren hunderttausend Soldaten. Was glauben Sie, wie viele Menschen einen Termin bei ihm beantragt haben. Aber in den nächsten hundert Jahren ist das ohne Aussicht und auch in den übernächsten hundert Jahren.“

K. beginnt erst wieder nach einigem Nachdenken. „Da bewege ich mich mutmaßlich in der Tat in den falschen Stockwerken. Aber zumindest meinem Großvater wäre ich gerne begegnet, um zu diesem Thema Näheres zu erfahren. Es handelt sich um Heinrich K., Jahrgang 1889, Teilnehmer am ersten wie am zweiten Weltkrieg, mehrfach ausgezeichnet, Parteimitglied seit 1925, gefallen unter heroischen Umständen im Juli 1944 an der Ostfront in der Nähe von Kiew.“

Da könnte ich Ihnen wahrscheinlich in einer absehbaren Zeit einen Termin anbieten. Allerdings werden auch hier einige Jahre ins Land gehen, denn umgekehrt stehen Sie nicht auf seiner Liste; das hätte die Sache natürlich beschleunigt.“

Wie sollte er mich auch auf seine Liste setzen, wenn er zehn Jahre vor meiner Geburt den Heldentod starb?“, erkundigt sich K. empört und zunehmend ungeduldig.“

Sie können das wohl kaum diesen drei Herren anlasten, dass sie nicht die Ehre gehabt haben, Sie zu kennen. Im Übrigen wäre ich an Ihrer Stelle heilfroh, dass die Begegnungen mit Ihren Wunschkandidaten nicht zustande gekommen sind; sie wären für Sie kaum erfreulich verlaufen. Und wenn ich mir Ihre Kontaktwünsche so betrachte, sollten Sie eher den Antrag stellen, sich selbst einmal besser kennenzulernen. Da scheint mir erheblicher Nachholbedarf zu bestehen. Und hier oben haben Sie dafür alle Zeit und Ruhe der Welt.“

In dem Fall gibt es dann wohl auch eine lange Warteliste, oder?“

Nun ja, Ihre Mutter steht dort mit hoher Priorität oben. Aber das ist schlichter Standard und es wäre auch hochgradig besorgniserregend, wenn dem nicht so wäre. Aber ansonsten ist die Liste ausgesprochen überschaubar, wenn ich mich einmal so vorsichtig ausdrücken darf.“

Instinktiv dreht sich K. um und gewahrt die lange Schlange der ungeduldig hinter ihm Wartenden. Das Himmelstor im Hintergrund öffnet und schließt sich in regelmäßigen Abständen, offenbar um neue Anwärter einzulassen; auf der ihm zugewandten Seite ist allerdings keine Klinke zu sehen. „Gut, dann machen Sie das so fest; hier im Himmel kennt man sich ja wohl aus in diesen Dingen.“

Ich bin mir recht sicher, dass dieses bei uns der beste Einstieg für Sie ist. Und ich will auch keinesfalls ausschließen, dass von Ihren Wunschkandidaten etwas aus weit zurückliegenden Zeiten herüber wehen könnte, wenn Sie nur aufmerksam und lange genug in sich hineinhorchen, — so wie von mächtigen Schiffen, die man zwar nicht sieht, aber sicher spürt, wenn die Wellen plötzlich härter an die Kaimauer schlagen.“

Das klingt ja abenteuerlich“, sagt K. nur und macht sich auf den Weg.



(21,3 P.)

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