„Ich kann heute, mit 45 Jahren, den Ort auf der Erde benennen, der mir den tiefsten Schrecken eingeflößt hat, den schrecklichsten Ort der Welt, den Ort, den man betritt, nicht nur, um ihn nie wieder zu vergessen, sondern den keiner so verlassen kann, wie er ihn betreten hat. Er liegt in Phnom Penh in Kambodscha und trägt den Namen Tuol Sleng.“
Roger Willemsen in: „Die Zeit“ vom 7.12.2000
Unser Wagen rumpelte über die mit Schlaglöchern übersäte Straße, und keiner sagte etwas. Jeder von uns dreien starrte irgendwo hin, und unser Fahrer fing sowieso nie ein Gespräch an. Gerade hatten wir Choeung Ek, die so genannten Killing fields, verlassen, jenen Ort des Grauens, an dem unter dem Pol Pot Regime mehr als 20.000 Menschen auf bestialische Weise hingerichtet und in Massengräbern verscharrt worden waren. Aber nur nachlässig, wie uns der stämmige, vielleicht vierzigjährige Guide anhand von einzelnen Knochen, Knochenteilen, Zähnen und Stofffetzen gezeigt hatte, die nicht nur in der Erde, sondern auch gut sichtbar auf unserem Weg lagen. Buchstäblich auf Leichenbergen waren wir also herumgelaufen! Lähmendes Entsetzen musste dieses Bewusstsein verursachen, aber von unserem Guide war eine derart spürbare, so gegenwärtige Spannung, eine derart präsente Wut, ein solcher Hass und eine unendliche Energie angesichts der vor mehr als zwanzig Jahren begangenen Verbrechen ausgegangen, dass ich gefürchtet hatte, sie könnte sich jeden Moment auf eine unberechenbare Weise entladen. Bei jedem Detail, das er uns zeigte, bei jeder Schilderung schien er nahe daran gewesen zu sein, die Kontrolle über sich zu verlieren, was bei einem Asiaten bekanntlich sehr ungewöhnlich ist. Als jemand bemerkt hatte, dass es ebensolche Verbrechen in Nazi-Deutschland gegeben habe, hatte er aufgebracht erwidert:
„That´s right. But we killed our own people!“ Keiner hatte es gewagt, etwas einzuwenden. Als er uns abschließend dann noch erzählte, dass vor kaum zwei Wochen einer der Hauptverbrecher, also einer, der persönlich und aktiv an Hinrichtungen teilgenommen hatte, schwer bewacht von Militär und Polizei und begleitet von Kamera-Teams und so ganz ohne jede Reue an diesen Ort zurückgebracht worden war, schien seine Wut für einen Moment in abgrundtiefer Resignation zu versinken.
„Like a movie-star“, klang er völlig resigniert, doch einen Moment später blitzte aus seinen Augen sofort wieder dieser tödliche Hass. Ein paar Schritte weiter, beim Abschied, fasste er aber meine Frau leicht am Arm und wünschte uns sanft alles Gute.
„Nach 22 Jahren immer noch keine Spur davon, etwas bewältigt zu haben“, murmelte ich vor mich hin.
„Kann man so etwas überhaupt bewältigen?“ fragte sie zurück.
„Man muss doch irgendwie weiterleben, irgendwie ein normales Leben im Frieden ...“, sagte Julian, ein Spanier, den wir wenige Stunden zuvor am Eingang von Tuol Sleng zufällig getroffen hatte, wo er – gerade so wie wir – dieses ehemalige KZ der Roten Khmer hatte besichtigen wollen. Von dort waren damals die Gefangenen zur Exekution nach Choeung Ek, also zu den Killing fields, gebracht worden. Und weil auch er gelesen hatte, dass es ratsam sei, einen Führer durch diesen Ort des Grauens zu nehmen, schlossen wir uns zusammen und folgten einer vielleicht vierzigjährigen Frau. Sie hatte ein fein geschnittenes Gesicht, trug unter langen, halbrund geschwungenen Augenbrauen eine moderne randlose Brille, was zu Zeiten Pol Pots bereits das Todesurteil bedeutet hätte. Ihre Fingernägel waren auffallend gepflegt und ebenso rosasilbern bemalt wie ihre Fußnägel, die aus modischen Sandaletten unter einem langen, geschlitzten Rock hervorlugten. Waren die hell- und dunkelblauen Stoffe von Rock und Bluse auch einfach, so besaßen sie doch beinahe französischen Chic. Insgesamt, so schien mir, passte die elegante, aber doch dezente Erscheinung dieser Frau nicht recht in speziell diese Umgebung. Zwar lag das KZ jetzt friedlich eingebettet in einem Randviertel Phnom Penhs, zwar wuchsen jetzt grüne Bäume unter einem an diesem Tag strahlend blauen Himmel inmitten eines eher nichtssagenden Häuserkomplexes, aber wir hatten natürlich von den unvorstellbaren Gräueln gelesen, die hier verübt worden waren. Diese Vorinformationen erwiesen sich dann auch als sehr nützlich, denn das Englisch unserer Führerin war anfangs nur schwer zu verstehen. Zwar verfügte sie über einen großen Wortschatz, sprach auch fließend, aber ihre Aussprache bereitete uns größte Schwierigkeiten.
Zuerst zeigte sie uns mehrere karge Zellen, in denen meistens ein eisernes Bettgestell stand, das aber nicht etwa zum Schlafen für die Gefangenen gedient hatte, sondern als Bestandteil diverser Foltermethoden benutzt worden war. Nicht selten hatten diese Torturen mit dem Tod der Opfer geendet, mindestens mit Verstümmelungen oder schweren Verletzungen, wie uns noch immer gut sichtbare Blutspuren an den Wänden und sogar Decken dieser Folterkammern zeigten.
Unsere Führerin spulte ihr Pensum zunächst leidenschaftslos herunter, ging zwar nicht schnell, aber doch zügig durch die Räume. Und unser Entsetzen wuchs mit jeder Schilderung der Foltermethoden und der Ansicht entsprechender Werkzeuge. Bilder ergänzten die Erklärungen. Nein, noch detaillierter wollte man nun wirklich nicht wissen, wie Körperteile abgerissen, zerquetscht oder deformiert worden waren!
Wir gelangten in einen nächsten Gebäudetrakt, an dessen Wänden meterlange Reihen von Portraits der Opfer hingen, die bei ihrer Internierung mit geradezu deutscher Gründlichkeit registriert und fotografiert worden waren. Jetzt schauten uns zahllose Gesichter von Männern, Frauen, Jugendlichen und sogar Kindern aus eindringlichen Augen an: ermordete, stumme Zeugen eines politisch motivierten Wahnsinns. Alle gefoltert, drangsaliert und auf bestialische Weise umgebracht. Oh ja, Bilder können sich unendlich eindringlich in das Gehirn des Betrachters graben!
Wir fragten unsere Führerin nach Umständen und Zusammenhängen, es musste doch irgendwelche auch nur ansatzweise nachvollziehbare Erklärungen für das Geschehene geben. Aber sie konnte nur mit hilflosem Achselzucken, mit einem verzweifelt ratlosen Lächeln antworten. Nun erzählte sie von einzelnen Schicksalen, dann mit ihrer feinen Stimme sogar von sich, von ihrer Familie, dass vor ihren Augen Mutter und Vater umgebracht worden waren, dass sie selbst bis zum heutigen Tag schwere Hör- und Atembeschwerden habe, dass sie das Erlebte immerzu verfolge, Nächte und Tage. Eine Vielzahl von kurzen Bewegungen durchbebten dabei ihr Gesicht, merkwürdig verschoben sich die Mundwinkel nach unten, ihre Lippen vibrierten aufeinander und die Operlippe zuckte nun unkontrolliert hin und her. Ich begriff diesen plötzlichen Wandel in ihrem Gesicht erst einen Moment später, dass sie nämlich jetzt nur noch mit allergrößter Mühe ihre Tränen zurückhalten konnte und gleichzeitig versuchte – zu lächeln! Beinahe im selben Moment schlug sie mit einer raschen Handbewegung ihren langen Rock zur Seite, hob und streckte uns ihr Bein ein wenig entgegen und wies mit einer diffusen Handbewegung auf eine handtellergroße Narbe auf der Wade. Sie schüttelte nur den Kopf und wandte sich ab.
Klägliche Bretterbuden zogen an unserem klimatisierten Wagen vorbei, viele kleine Kinder hockten an der roten, matschigen Straße neben Hühnern, Hunden und Müttern, die mit irgendetwas herumwirtschafteten. Der Wagen holperte an Radfahrern und Lastenträgern vorbei. Lange hatte keiner etwas gesagt, bevor ich fragte:
„Warum kucken wir uns so etwas eigentlich an? Wir wissen doch, was da oder in Auschwitz oder in sonst einem KZ geschehen ist. Ist doch alles hinlänglich bekannt. Warum zieht es uns an solch einen Ort des Grauens?“
„Vielleicht weil wir das brauchen. Weil wir uns stärken müssen gegen die schleichende Gleichgültigkeit gegenüber der Vergangenheit, und weil wir wachsam bleiben müssen. Das vor allem.“
„Aber für unsere beiden Führer muss es doch der Wahnsinn sein, immer wieder diese Rundgänge zu machen, jedes Mal wieder diese Reise durch die Hölle zu unternehmen, jedes Mal wieder dieses Aufwühlen der Gefühle von Hass, Trauer und ohnmächtigen Wut.“
„Und dann gehen die Touristen, haben ihre Fotos gemacht, sitzen in ihren Taxis und lassen sich zu neuen Sehenswürdigkeiten fahren ...“
„War es falsch hierher zu kommen?“
„Sie sind davon überzeugt, eine Mission zu erfüllen. Wenn schon niemand die Täter zur Rechenschaft zieht in diesem Land, wenn sich auf der großen weiten Welt kaum ein Mensch für das begangene Unrecht interessiert, dann muss doch irgendjemand diese Erinnerung wach halten!“
„Es sind wohl auch die einzigen Orte, an denen sie leben können.“
„Die warten auf irgendeine Art von Sühne, von Gerechtigkeit. Aber da kommt nichts!“
„Wir sind deshalb zum Sinn ihres Lebens geworden. Nur weil wir kommen, haben sie noch eine Hoffnung.“
„Aber was können wir schon tun?“
„Ihnen zuhören.“
Draußen zogen jetzt grüne, halb unter Wasser stehende Reisfelder vorbei, ein matschverschmierter Wasserbüffel suhlte sich wohlig in einer schlammigen Mulde und die Sonne stand in ihrem Zenit.
(22,4 P. )
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