Montag, 4. April 2011

Uschi Heinemann: Geben und Nehmen

 Ganz klein sah ihr Gesicht aus. Wie eine Landkarte gezeichnet ihre immer noch feinen Züge.
Furchen und Runen zeugten von viel Erlebtem, sicher nicht immer nur Gutem, aber ganz feine Fältchen um die Augen und den Mund spiegelten die Fröhlichkeit der langen Lebensjahre, mit der sie immer wieder sich das Licht in graue Tage geholt hatte.. Sie milderten die Schärfe der Linien, die sich von den Wangenknochen bis zum Hals schlängelten.
Die schlanken Hände, bedeckt mit hervortretenden Adern, gepflegt und doch von dem Anpacken erzählend, ein wenig gekrümmt die Finger, die immer noch so weich und wohltuend eine heiße Stirn kühlen konnten, lagen ruhig in ihrem Schoß, übereinander gelegt, ein wenig die Fingerenden verhakt, als müsse sie sich selbst festhalten, nach Jahren der rastlosen Tätigkeiten.
Ab und zu, wenn sie von früher mit leiser Stimme erzählte, blitzen die Augen, schalkhaft zwinkernd und wenn sie lächelte, erstrahlte ihr Gesicht, beleuchtet von innerer Wärme, in einer fast jugendlichen, rosigen Schönheit.
Ihre Zuhörer saßen eng an sie geschmiegt und wer keinen Platz in ihrer unmittelbaren Nähe erhaschen konnte, versuchte, durch Anlehnen an den Nächstsitzenden den Kontakt aufzubauen.
Junge und alte Zuhörer wandten ihre Gesichter der Erzählerin zu. Und wenn man genau hinsah, konnte man feststellen, dass die Augen der meisten fast unruhig hin und her flogen…seltsam in dieser so ruhig anmutenden Runde. Aber ja, durch die tastenden Berührungen, dem oft leicht schräg geneigten Kopf einiger Lauschenden wurde man dann gewahr, dass in vielen Augen das Licht fehlte, dass es sich hier um blinde Menschen handelte.
Blind geboren, durch Erkrankung erblindet, durch Alter oder Unfall.
Alle diese vom Schicksal gerüttelten Menschen hatten auf Grund ihrer Lebensumstände bisher nie gelernt, die Blindenschrift zu lesen.
In ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, oft als lästig von den Angehörigen weggesperrt, hatten sie hier im Sankt- Marien- Heim eine neue, liebevolle Aufnahme erfahren und sogen jedes Wort gierig in sich auf, dürstend nach Wissen, Erleben, Gelebtem.
So waren schon das Radio, die Geschichten der CD´s und Cassetten eine ganz neue, atemberaubende Welt für sie.
Doch die Stunden mit „Tante Martha“, wie sie von allen liebevoll genannt wurde, gehörten zu den lehrreichsten, weil innigsten Begegnungen, denn in ihrer so sehr liebevollen, ruhigen Art konnte sie in ihren Erzählungen aus ihrem so langen Leben auch sehr viel Wissen und Lehrreiches weitergeben. 
Sie schilderte Leben, Gerüche, Bilder so intensiv, dass jeder sich ein eigenes Bild, eine eigene Geschichte im Innern erstehen lassen konnte, so erleben, miterleben konnte, was ihm vorher verwehrt war.
Eine Symbiose, die in unserer gehetzten, nach Geld und Vorteil strebenden Ich- Welt einen ganz besonderen Stellenwert einnahm.
Da die Benachteiligten, in ihren Fähigkeiten noch Eingeschränkten und vorher fast Vereinsamten und dort diese kleine, uralte Frau, allein, weil sie durch Krieg und Krankheit alle Angehörigen verlor, aber durch ihren starken Willen, Anderen nahe zu sein, Werte zu vermitteln, wie in einer Familie nun ihre letzten Jahre verbringen konnte.
Wir sollten öfter hinschauen, wenn uns das Leben zeigt, wie jedes noch so schwache Glied einer Kette gehalten wird, wenn jedes nach mehreren Seiten von einem anderen abgesichert wird. Nur Hand in Hand, gemeinsam können wir unseren Frieden finden und weitergeben.
  ©Uschi

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