„Das machst du bis zur Vergasung!“
Vera hörte den Satz nicht gern. Auch wenn er dazugehörte. Zum Leben. Die Erwachsenen redeten so. Es bedeutete, Vera sollte etwas tun, was sie nicht wollte, abwaschen oder Kartoffelschälen für die große Familie oder einen Satz schreiben:
„Ich darf in der Unterrichtsstunde nicht herumlaufen“, immer wieder. Endlos. Sie durfte nicht spielen, nicht auf Bäume klettern, nicht in den Gärten herumstreifen, die Rollschuhe blieben in der Ecke.
„Bis zur Vergasung“ hieß, es nahm kein Ende. Niemals.
Vera war im Frieden geboren – 1954. Der Krieg seit neun Jahren vorbei. Ihre Eltern und die Lehrer wussten wenig. Sie hatten nicht gemerkt, was passiert war. Wie alle Erwachsenen, die nichts wussten, wollten sie nicht gefragt werden.
Vera las viel – alles, was ihr in die Finger kam. Bruchstückhaft erfuhr sie von Dingen, welche ihre Eltern nicht gemerkt hatten oder nicht mehr wussten.
Erschrocken entdeckte Vera, dass „bis zur Vergasung“ nicht endloses Kartoffelschälen bedeutete. Selbst die Sprache steckte voller Fallen.
Heimlich wurde das Wissen weitergegeben, im Flüsterton – hinten im Wäldchen, wo der kranke Schwan lebte. Dort fanden auch erste Aufklärungsversuche statt. Christian, der Klassenrabauke, den Vera bewunderte, weil er aufgrund seiner Streiche tapfer und klaglos die meisten Prügel bezog – er erzählte es ihr. Wo die Kinder herkommen, zum einen, was für sich genommen spannend und gruselig genug war. Die Vorstellung, dass die eigenen Eltern so etwas Absurdes getan hatten und möglicherweise immer noch taten. Der Abschied von der Phantasie, dass die Kinder aus dem Bauchnabel kamen, nachdem der Onkel Doktor denselben aufgeknotet hatte.
Anschließend erzählte Christian von Krieg und Mord, Vergasen kam auch vor. Seine und ihre Eltern hatten es erlebt, mussten es erlebt haben, er war sich sicher. Danach küsste er sie, sein magerer Jungenkörper lehnte sich an. Auf seinen Lippen schmeckte Vera den Grashalm, den er vorher gekaut hatte. Der kranke Schwan verschwamm vor ihren Augen zu einem überdimensionalen weißen Fleck.
Vera fragte den Lehrer wie es war mit dem Krieg, dem Vergasen und so. Er war alt, mindestens fünfzig, er musste es wissen. Sie hatte bei ihm das Rechnen gelernt.
Der Lehrer öffnete die Schublade und betrachtete lange den darin liegenden Rohrstock. Die Luft knisterte. Mucksmäuschenstill saßen die Viertklässler an ihren Pulten und betrachteten die schwarzen Ränder unter ihren Fingernägeln. In die geöffneten Fenster drang leichter Fliedergeruch und vermischte sich mit dem Duft von Angst, Kreide und nassem Schwamm. Gedankenverloren hatte der Lehrer den Rohrstock aus der Schublade gezogen und strich mit dem Mittelfinger der rechten Hand darüber. Hin – Her. Her – Hin. Er fand einen Splitter, den er abzupfte.
Längst hatte Vera die Frage bereut. Was interessierte sie Krieg und Vergasen? Wichtig war, hier rauszukommen, in den Wald, zum kranken Schwan. Wieso hatte sie ausgerechnet ihn fragen müssen, diesen Mann, der das dünne Bambusrohr liebkoste? Warum nicht Onkel Ewald, dessen rechter Ärmel schlaff herunterhing, da er im Krieg den Arm verloren hatte. Onkel Ewald, der mit der linken Hand geschickt war wie kein zweiter. Onkel Ewald mit den traurigen Augen und dem kleinen Lächeln.
Endlich fragte der Lehrer in die Stille hinein:
„Wer von euch wird von den Eltern geschlagen?“
Drei Kinder meldeten sich.
„Nur Kinder, deren Eltern sie schlagen, werden geliebt“, erklärte der Lehrer.
Vera biss sich auf die Lippen aus Ärger, sich nicht gemeldet zu haben. Wenigsten wusste sie jetzt, dass ihre Eltern sie liebten. Dafür war sie dem Lehrer dankbar, auch wenn er ihre Frage nach Krieg und so, wie es gewesen war, nicht beantwortete.
Christian ließ sein Buch fallen, die Fibel, welche jedes Kind als Leihgabe von der Schule erhielt.
„Komm her“ sagte der Lehrer.
Christian erhob sich, zitternd, so anders als sonst. Er stieß an sein Pult und warf auch noch die Stifte auf den Boden. Vom Blick des Lehrers wie an einer Schnur gezogen wankte er nach vorn.
Dieser sprach von öffentlichem Eigentum. Es sei gut zu behandeln. Christian werde es lernen. Was ein Häkchen werden will, krümmt sich beizeiten. Es geschehe aus Liebe, was er jetzt tue.
Mit der Linken drückte er Christians schmalen Nacken nach unten, das strubbelige blonde Haar brannte sich in Veras’ Netzhaut, mit der Rechten schlug er zu. Der Rohrstock war dünn und pfiff. An diesem Tag hatte Christian vergessen, die Hose mit Zeitungspapier
auszustopfen.
Nach manchem Schlag schaute der Lehrer hoch und hinein in Veras’ Augen. Ein entrückter Blick. Christian wimmerte.
Nie zuvor hatte der Lehrer so heftig gedroschen.
„Hart wie Kruppstahl“ sagte er im gleichen Tonfall wie er neulich rezitierte hatte „Frühling lässt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte, süße wohlbekannte Düfte ziehen ahnungsvoll durchs Land“ .
Von Eduard Mörike war es, überlegte Vera. Das Bambusrohr pfiff und klatschte. Der Lehrer schien es kaum zu merken. Wie ein Langstreckenläufer, der nicht mehr über die Bewegung nachdenkt.
„Er schlägt ihn tot“, dachte Vera. Christian hatte sie gewarnt, einen Erwachsenen zu fragen.
„Sie mögen es nicht“, erklärte er.
Vera wollte nach vorne laufen, sich über Christian werfen, ihn schützen. Ihr Körper war aus Blei.
Nach der Schule fand sie ihn beim kranken Schwan. Er lag auf dem Bauch. Sitzen oder auf dem Rücken liegen unmöglich. Sein Kopf im Gras – er schaute nicht hoch.
Vera saß neben ihm, betrachtete erneut das struppige blonde Haar und ließ ihre Tränen hineintropfen.
(21,9 P. )
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