Der Mann in dem Film fotografiert Leute im Geheimen. Er hat eine kleine, altmodische Kamera umgehängt, die unter seiner Jacke halb verdeckt ist. Das Auslösen geschieht über ein kleines, diskretes Kabel, und niemand scheint es in den überfüllten U-Bahn Zügen, wo ohnehin fast niemand Blickkontakt aufnimmt, zu bemerken. Seine Bilder zeigen blasse, apathische Gesichter, Menschen, die in der Öffentlichkeit ihren Gedanken nachhängen bevor sie wieder aussteigen. Phantome, die der Mann vermutlich nie wiedersehen wird. Über Nacht werden sie in seiner Dunkelkammer zu Bildern. Immer wieder sieht er sich die Negative an, vergrößert, fixiert und hängt die fertigen Abzüge an Wäscheleinen auf.
Es ist heiß in der Wohnung und Daniel unterhält sich. Die Rote Giraffe trägt eine in Glitzergarn aufgestickte Brille. Ihre dunklen Augen, mit kleinen weißen Flecken, erinnern an Disney. Bis vor kurzem war sie ein handgestrickter Strumpf, und gerade ist für Daniel außer ihr kaum etwas wichtig. Immer wieder schaukelt Rebekkas Blick hin und her zwischen dem plaudernden Kind, dem Laptopbildschirm auf dem Küchentisch und den frischgeschälten Kartoffeln in ihrer Hand. Erst gestern abend, nach drei Mückenstichen tagsüber am See, entdeckte Daniel, daß er selbst die Hand in den Strumpf stecken konnte. Anfangs weinte er, wenn die Giraffe sich dann weder automatisch bewegte noch sprach. Heute scheint er zufrieden, wenn sie ihn, über seine Hand gestülpt, ansieht und ab und zu leise zuckt. Immer wieder wird sie liebkost, untersucht oder unmißverständlich zurechtgewiesen: ”Dumme Rote Giraffe. Dumme Rote!”, dann ein Kichern, Blicke in Richtung Rebekka, Daniel will zu Mama. Rebekka streckt die Arme aus und Daniel rennt hinein. Erst kuschelt er, dann beißt er sie in die Schulter, zunächst sachte, dann heftig, und Rebekka guckt nebenbei weiter den Film an. In den zehn Jahren seit sie ihn im Kino gesehen hat, ist viel passiert. Nur an den blassen, apathischen Gesichtern hat sich nicht viel geändert. Rebekka sieht sie überall in der Stadt, bemerkt sie manchmal an sich selbst, zu Hause im Spiegel oder in Ladenfenstern, wenn sie mit Daniel unterwegs ist. Gesichter, die von irgendwoher kommen und sich in ihre Augen, Haut und Wangen eingraben, als wäre sie eine Fremde, als wären Jahrhunderte vergangen.
Selbst abends ist es in diesem Sommer heiß und Daniel steht im Schlaf der Schweiß auf der Stirn. Rebekka sitzt gerne neben ihm, während es draußen dunkel wird. Sie gähnt und starrt vor sich hin, hat keine Lust auf Heiner. Manchmal ist es anstrengend, ihn nur anzusehen, vorher zu hören, wie er nach der Arbeit den Schlüssel in die Wohungstür steckt.
“Hallo, seid ihr da?”, jeden Tag der gleiche Satz. Natürlich sind sie da, sie sind eigentlich immer da, ob im Wohnzimmer oder auf dem Balkon, und es ist nicht so, daß Rebekka Heiner nicht mehr liebt. Und trotzdem fragt sie sich ob dieses Kind nicht auch Dinge braucht, von denen sie und Heiner gar nichts wissen, oder, schlimmer, von denen sie, die Frau und der Mann, die sie in den zehn Jahren seit der Uni geworden sind, nicht mehr viel halten?
Wie wäre es, so ein anderes Leben, jetzt, ein Leben wie das der Frau im Film zum Beispiel? Die sagt nicht viel dazu, daß ihr Mann diese Fotos macht. Vielleicht weiß sie es gar nicht. Sie ist vermutlich nur froh, daß er wieder da ist aus dem Krieg. Alles andere gehört zwar dazu, aber es ist nicht wirklich wichtig. Daß er gute Fotos gemacht hat, dort, in den fremden Gebieten, in der sie sich ihn lieber nicht zu oft vorstellen will. Daß er nachts im Schlaf weint oder schreit. Daß er ihr von irgendwelchen Menschen erzählt, in irgendwelchen Dörfern, durch die er zu Fuß ging, deren Namen fremd klingen, wie aus einem traurigen Märchen beinahe, und, daß er dem Blick seiner Frau ausweicht, als wäre das nicht zu vereinbaren, ihre Augen und diese Dörfer, seine unterschiedlichen Leben. Auch sie hat ihre unterschiedlichen Leben. Sie geht zu Film-Castings, blättert Kunstbände durch, kocht für sich alleine und bügelt nachts vor dem Fernseher, hört dabei mit, wie in ihrem Mietshaus in einem anderen Stockwerk ein Kind geschlagen wird und schreit. Sie trinkt ein Glas Sherry und würde vielleicht gerne mit jemandem sprechen, mit jemandem, dem sie vertraut, ihrem Mann, aber der ist im Krieg.
Kurz nach seiner Rückkehr geht sie mit ihm durch einen Supermarkt und fängt, weil für sie gerade alles größer ist als leise Worte ausdrücken können, an, mit ihm zu streiten. Anschließend umarmt sie ihn wild und hält sich an ihm fest. Danach gehen sie nebeneinander her als gäbe es bloß Reis und Wasser zu kaufen, als wären sie niemals getrennt gewesen. Sie leben ja schließlich noch, haben genug Geld, um im Supermarkt einzukaufen, ja, sie lieben sich sogar, du meine Güte. Rebekka weiß, was die Frau fühlt, auch wenn sie selbst keine Schaupielerin ist und Heiner kein Kriegsreporter, zwei Menschen, die sich an Idealen hochziehen. Rebekka stellt sich die Gedanken der Frau vor, Situationen, die nicht im Film vorkommen. Immer wieder fallen ihr Szenen ein, die dazupassen würden, die eine Brücke schlagen könnten, zwischen ihrem Leben und dem Leben dieser Figuren, eine Kontaktaufnahme mit den Idealen von früher, ihrer Leidenschaft und Verblüfftheit über die Welt. Heiner hat keine Zeit mehr für solche Filme, er hat überhaupt nicht mehr viel freie Zeit, und er ist nicht der Typ, mit dem man sich in einem Supermarkt leidenschaftlich streitet und versöhnt. Aber das heißt noch nicht, daß es zu Ende ist, es heißt eigentlich nur, daß es anders ist als Rebekka erwartet hat, komplett anders.
Natürlich gibt es Fotos von ihnen als Familie, schöne Fotos. Rebekkas Freundin hat sie aufgenommen, immer wieder, im Lauf dieser drei schnellen Jahre mit Kind. Sie hängen überall, in Muschel-, Holz- und Glasrahmen. Wenn Gäste kommen, zeigen sie darauf und sagen “Was für schöne Fotos ihr von euch habt.” Daniel, Heiner und Rebekka, eine Ikone, und ja, alles Leben baut auf solchen Szenen auf, so ist es, drei Menschen, die symbolisch zusammengehören, ganz egal was noch passiert. Dazu braucht es weder Religion noch Geschichte. Und Rebekka liebt diese Fotos, kennt sie in- und auswendig, erinnert sich manchmal urplötzlich an sie. Wie wäre es aber, wenn sie zwischendrin Bilder von sich aufhängen würden wie die U-Bahn Fotos im Film? Der Mann macht diese Bilder schließlich nur, um sich daran zu gewöhnen, daß er wieder zu Hause ist, weit weg vom Krieg und den Dörfern mit den fremden Namen und Menschen, nur ein paar Flugstunden von seiner Stadt entfernt? Kaum zu glauben, wie blaß und apathisch die Leute trotzdem aussehen. Selbst Heiner sähe in solchen Bildern müde und fahl aus. Sie sieht ihn doch jeden Abend, merkt, wie er sich langsam verändert, nur mehr Zeit hat für kleine Gedanken, kleine Unterfangen, keine großen Veränderungen bitte, zu anstrengend wäre das, ja, aber, nein, es ist kein Krieg. Hier ist kein Krieg, wie gut, wie dankbar man sein muß. Rebekka hat das Gefühl, sie muß sich, egal ob sie sich als Familie neue Möbel und Urlaube leisten können, egal ob Heiner dafür Überstunden macht oder nicht, die Nachrichten ansehen. Selbst wenn Daniel noch so klein und süß ist, und eine Rote Giraffe hat, und Rebekkas Augen sich manchmal blitzschnell mit Tränen füllen. Heimatlose Menschen, abgebrannte Felder, Tiere, die hilflos herumrennen. Und dann einem Kind vorlügen, daß man nicht weint. Wie ein Kampf ist das, vor allem an den Tagen, an denen sie es am wenigsten erwartet.
“Warum weinst du, Mama?”
“Ich weine nicht.”
Solche Fragen stellt Daniel noch nicht, aber das wird kommen, und was wird sie ihm dann sagen, wird sie noch konservativer werden? Einem Kind Bilder von seiner Mutter zu zeigen, auf denen ihre Fragen und Ängste Platz finden, Bilder aus Momenten, als niemand zusah, nur ein geheimer Fotograf, wäre das nicht absurd? Abgesehen davon, daß Heiner über sie den Kopf schütteln würde, würde es aber wirklich einen Unterschied machen, wenn Daniel solche Bilder zu sehen bekäme, angesichts dessen, was er auf der Straße ohnehin schon sieht, in Läden und U-Bahnen, bei anderen Familien? Daniel selbst wäre auf solchen Fotos zweifelsohne immer noch schön, egal aus welchem Winkel man ihn fotografiert. Wenn Rebekka ihm Bücher vorliest, guckt er zwischen ihr und den Bildern hin und her. Vor seinen Augen läuft ein Film ab, sie merkt es sofort. Plötzlich ist er weit weg, als zöge er ein Schwert, während Heiner im Büro sitzt und Rebekka hofft, das Kind könnte vielleicht immer so neben ihr kauern.
Die Kinderbibliothek ist riesig, Daniel gefällt es dort jede Woche neu. Er geht geradewegs auf bestimmte Bücher zu, zieht sie aus Regalen und legt sie ihr in den Schoß. Es gibt Geschichten zu jedem Thema. Eigentlich ist nichts mehr ungesagt, selbst vor Kindern, und je mehr Bücher Rebekka Daniel vorliest, um so überraschter ist sie, um so mehr hofft sie auf das Blitzen in seinen kleinen, klaren Augen und die vielen Dinge, die sie mit ihm hoffentlich noch sehen wird.
(22,3 P.)
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