Donnerstag, 7. Oktober 2010

Ralph Bruse: Am Bahnhof



Hier fahren am Tag nur noch drei Bummelzüge durch. Mor-
gens, sechs Uhr zwanzig, mittags, dreizehn Uhr zehn und zu
Feierabend, der Siebzehnvierziger.
Der einzige Mann auf dem Bahnsteig blinzelt in die hochste-
hende Sonne. Seine wachsamen Augen scheinen aber auch
gleichzeitig die fette Bahnhofsuhr zu fixieren.
Der Mann wirkt nervös. In seinem Gesicht erkennt man tiefe
Spuren des Alters. Aber da ist noch etwas Anderes.
Das bißchen Haar, das ihm blieb, war mal schwarz. Jetzt ist es
weiss. Ebenso sein wüster Kinnbart.
Die trüben Augen weiten sich. > Lydia, Liebes, < raunt er
selbstvergessen.

Der Zug kommt in Sichtweite.
Gleich wird Lydia aussteigen. Sie werden sich lange umarmen
und dann werden sie Hand an Hand nach Hause schlendern,
so wie immer.
Plötzlich wirkt der Mann zufrieden. Er spuckt in die Hände;
wischt sein spärliches Haar glatt. Das Lächeln, zwischen den
bläulich verfärbten Lippen, macht sich.
Der Zug fährt ein. Türen öffnen sich. Und schließen. Eine
Handvoll Leute hetzt an dem Alten vorbei.
Lydia fehlt.
Die kurze Zufriedenheit wird von Unruhe gepackt. Hilflos jagt
sein Blick umher. Da ist endlich ein bekanntes Gesicht..! Er
winkt dem Dicken vom Stellwerk zu. Der motzt schon von Wei-
tem: > frag mich jetzt bloß nicht schon wieder, ob das der Drei-
zehnzehner war, Hans! <
Der Alte nuschelt vor sich hin. Er hat garnicht richtig zugehört.
> War er das, der Dreizehnzehner? <
> Ja, zum Donnerwetter, das war dein Dreizehnzehner!, <
schnauzt sein Gegenüber.
Schließlich besinnt er sich sanfterer Töne; atmet ein paarmal
tief ein und aus, bis die roten Flecken seiner geschwollenen
Halsgegend verschwinden. Eine der schwarzen Pranken landet
auf der Schulter des Alten.
> Schon gut. War nicht so gemeint. <
Er schüttelt den Riesenschädel; mault im Weggehen: > Du mit
deiner Lydia. Mensch, Hans...<

Erst am Abend verläßt der alte Mann den Bahnsteig.
Am nächsten Tag ist er wieder da.
Auch am Übernächsten. Seit Jahren geht das so. Daran ändert
sich nichts, bis zu jenem Tag, im Spätsommer. Da fährt ein an-
derer Schaffner im einrollenden Dreizehnzehner-Zug mit. Ein
sommersprossiger Spund, etwa um die Zwanzig. Hans fällt
diese Neuigkeit sofort auf. Der Bengel sieht fast so aus, wie
er selbst, in frühen Jahren - ein bischen dünner; ja, und lang
wie ‘ne Latte. Trotzdem - Mütze und Dienstjacke in Dunkel-
blau stehn ihm gut.
Bevor der junge Lulatsch seine Kelle zur Weiterfahrt hebt, wen-
det er sich freundlich dem Alten zu.
> Sie woll’n doch bestimmt noch mit. Denn aber schnell! <
Hans starrt ihn an; reagiert aber nicht.
Der Junge überlegt, ob er vielleicht noch sagen sollte, wohin
die Fahrt geht - nicht lange - die Worte kommen ihm leicht
über die Lippen.
> Nächster Stopp ist Buchenwald. <
Nichtsahnend stößt er Schleusen auf.
In den Augen des Alten blitzt es. Das Zittern seines Leibes
bricht mit voller Wucht aus. Sein Mund klappt auf, als wolle er
schreien; immerzu schreien.
Dann befreit sich das Schreien endlich!
Der junge Schaffner springt in den Zug. Der schreiende Mann
macht ihm Angst.

Abends.
Der Bahnsteig ist menschenleer. Nur der Alte ist noch da;
schläft sitzend auf einer Bank.
Die Ruhe kommt. Und ein Zug. Sein Zug.
> Lydia..? <
Ihr Lächeln. Er reibt sich die Augen...Sie ist es!
Er rennt. Gegen die Wirklichkeit. Ins Leere. Und doch: in ihre
Arme. Einmal Himmel und zurück.









(23,0 P.)

Sonntag, 3. Oktober 2010

Anna-Margareta Oldenburg: Der nachdenkliche Stein



Ich bin ein gewöhnlicher Stein, mittelgroß, hellgrau mit elfenbeinfarbenen Einsprengseln. Auch meine Form bietet keinerlei augenfällige Abweichung von Millionen anderer Steine dieser Welt. Dennoch bin ich anders: Ich habe Zugang zu den Menschen. Ich verstehe sie noch nicht sehr gut, denn ich studiere sie erst seit wenigen tausend Jahren. Aber ich vermag sie doch ein wenig zu dechiffrieren. Und das kam so:

Es war später Nachmittag. Die Hitze lag wie ein schweres, wollenes Tuch über der Erde. Da spürte ich die leichten Vibrationen von fernen menschlichen Schritten. Es war ein junger Mann, der sich um diese Tageszeit auf den Weg durch meine Heimat machte. Menschen meiden die Hitze. Aber er setzte unbeirrt einen Fuß vor den anderen und kam näher und näher. Hin und wieder schien er zu stolpern. Schließlich ließ er sich auf den Boden fallen, unmittelbar neben mich. Nie zuvor war ein menschliches Wesen mir so nahe, nicht in Millionen Jahren. Ich wusste nichts über Menschen, kannte weder ihre Art der Wahrnehmung, noch war mir ihr Denken und Fühlen vertraut. Daher ist der Anfang dieser Geschichte stark von späterem Wissen gefärbt. Kurz bevor die Sonne unterging, stand er kurz auf, streckte die Arme zum Himmel, murmelte etwas und legte sich wieder auf die Erde. Es schien ihm unbequem, denn kurz darauf rieb er sich seine Schulter und Ellenbogen und klagte eine Weile. Dann schaute er sich um. Sein Blick fiel auf mich. Er wälzte mich in eine andere Position, so dass er seinen Kopf auf mich betten konnte. Es war so als läge ein anderer leichterer Stein auf mir. Der Mann wurde ruhiger und schlief schließlich ein. Es war Stille. Es war Nacht. Da sprang der Mann plötzlich mit einem Satz in die Höhe und stieß einen schrecklichen Schrei aus. Dann schien er zu schluchzen, kauerte sich wieder auf den Boden, umfasste mit den Armen seine Knie und schaukelte hin und her. Jetzt war seine Stimme nur noch ein Flüstern. Den Sinn seiner Worte konnte ich nicht erfassen. Schließlich schwieg er und wurde ganz still. Am nächsten Morgen, kaum dass die Sonne mit einem schmalen violetten Band am Horizont den Tag ankündigte, stand er auf. Er betrachtete mich lange. Dann grub er eine Mulde und schob mich vorsichtig dort hinein. Kurz darauf kramte er eine kleine, sehr kostbar wirkende Flasche aus seinem Umhang. Er öffnete sie, goss ein betörend riechendes Öl über mich. Zuletzt legte er beide Hände auf meine graue Steinhaut. Da schien es mir plötzlich als spannte sich ein unsichtbares Band zwischen ihm und mir und dem Himmel. Das war der Moment, als ich begann zu ahnen.

Hunderte von Jahren wartete ich auf seine Rückkehr. Erst viel später erfuhr ich, dass den Menschen ihre Körper nur eine sehr begrenzte Zeit zur Verfügung stehen und sie dann in einen Zustand hineinwachsen, wo ihr Geist keine Herrschaft mehr über ihre körperliche Substanz hat. Sie nennen das Sterben. Es war also dumm von mir, ihn in derselben Gestalt zurückzuerwarten. Dennoch blieb das Band haften. Ich habe gelernt, dass unsere Begegnung in einem für viele Menschen bedeutsamen Buch bis heute überliefert wird und sein Name Jakob war. Seit dieser Begebenheit vor mehr als dreitausend Jahren kommen Menschen häufiger in meine Umgebung. Ich bin stets aufmerksam, sobald ich ihre Gegenwart erspüre, beobachte die Menschen genau und studiere ihre Gedanken und Gefühle.

Ich habe viel erlebt seither. Kleine Kinder mit ihren weichen Händen und Knien sind über mich hinweg gekrabbelt, Greise über mich gestolpert. Händler haben Tücher, Schmuck und Wasserpfeifen auf mir zur Schau gestellt. Familien nutzten mich als Unterlage für kleine Mahlzeiten unterwegs. Sie ahnten nicht, dass ich jedes ihrer Worte wissbegierig aufsog während sie Brot, Oliven oder Orangen auf mir ausbreiteten, unter sich teilten und von all dem erzählten, was ein Menschenleben füllt. Ich war Zeuge wie Menschen Behausungen, Brunnen und Straßen bauten, wie sie Gärten anlegten, Märkte und heilige Stätten errichteten. Aber ich habe auch erlebt, wie sie all das wieder vernichteten, wie sie übereinander herfielen, sich quälten und grausam töteten. Die Macht ihrer Zerstörung war so groß, dass es mich dabei immer wieder an andere Stellen verschlug und einige meiner Kanten splitterten.

Bis heute gelingt es mir nicht, darüber Klarheit zu gewinnen. Wie passt das zusammen: Menschen suchen die gegenseitige Nähe, viele sind sich von Herzen zugetan, zuweilen tun sie Dinge füreinander, dass es einen Stein erweicht,.....und doch gelingt ihnen kein dauerhaft friedvolles Miteinander? Heute weiß ich, dass Jakob damals bei unserer Begegnung auf der Flucht vor seinem Bruder war, der ihm nach dem Leben trachtete. Jakob hatte ihn zuvor belogen und betrogen. Also war der Hass seines Bruders gut begründet. Menschen bekämpfen sich wohl nicht grundlos, auch wenn ich mit meinem beschränkten Steinverstand nicht allen Gründen folgen kann. Besonders rätselhaft ist mir, wenn sie im Namen ihrer Götter morden und Kriege führen. Denn sie sagen auch, Gott sei Liebe. Ich muss an diesem Punkt noch gründlich forschen.

Jetzt gerade nähert sich ein junges Paar. Sie schauen sich immer wieder ängstlich um. Ich kann erkennen, dass das Mädchen Tränen in den Augen hat. Der junge Mann nimmt ihr Gesicht in seine Hände, küsst ihre Stirn, ihre Augenlider, ihren Mund. Aber sie reißt sich los und lässt sich auf mich fallen. Sie scheint untröstlich: „Du darfst das nicht tun“, schluchzt sie, „das ist doch so sinnlos“. Er steht unschlüssig vor ihr, dann kniet er vor ihr nieder und antwortet in einer anderen, aber mir ebenfalls geläufigen Sprache: „Mein Volk ist gezwungen, sich zu wehren. Es ist meine Pflicht, für die Zukunft und die Ehre meines Volkes zu kämpfen“. Seine Stimme ist heiser, fast wie ein zärtliches Raunen. Sie blickt ihn an. Ihre Augen haben die Farbe von Lapislazuli. „Wenn du unschuldige Menschen und dich selbst umbringen willst, dann töte mich zuerst“, schreit sie ihn an, „aber weder dein Gott noch meiner haben Freude an diesem Morden!“ Er antwortet nicht und beide schweigen eine Weile. Plötzlich steht er auf, sieht sich langsam um, schüttelt den Kopf und sagt: „Das ist ein merkwürdiger Ort hier, findest du nicht?“ „Die ganze Welt ist ein merkwürdiger Ort“, schluchzt sie, „ein Ort voller Mord und Totschlag“. Sie springt auf und jetzt tritt sie mit ihren Füßen gegen mich, immer wieder. „Du verdammter Stein“, schreit sie, „reglos und ungerührt liegst du da, und um uns herum geht die Welt in Flammen auf!“ Endlich lässt sie von mir ab und sackt in sich zusammen. „Ich sehne mich so sehr nach Frieden“, flüstert sie erschöpft. Der junge Mann setzt sich neben sie, seine Mine ist starr, sein Blick in die Ferne gerichtet. So sitzen sie eine ganze Weile. Sein Atem geht schwer, immer wieder fährt er sich mit den Händen über die Augen. Sie wendet sich ihm zu. Zärtlich wiegt sie den großen Mann in ihren Armen. Er birgt sein Gesicht an ihrer Schulter. „Ich habe doch den gleichen Traum vom Frieden“, sagt er schließlich leise und stockend. „Ich träume von einer Welt ohne Unrecht, Armut, Feindschaft und.....“, er sucht nach den passenden Worten. „...und ohne Gewalt?“ fährt sie fort. Er antwortet nicht, steht wieder auf und geht ein paar Schritte. Aus einigen Metern Entfernung heftet er seinen Blick auf mich. „Der Ort hier atmet Ewigkeit. Es ist wie Magie“, sagt er schließlich. „Wie poetisch du sein kannst“, erwidert sie. Es ist kein Spott in ihrer Stimme, nur die warme Färbung der Verführung: „Komm zu mir und leg deine Waffen ab, leg alle Waffen ab, die an deinem Gurt und die in deinem Herzen.“ Die Dunkelheit bricht herein. Sie lieben sich im Staub der Erde neben mir.

Wir werden Versöhnung wagen“, flüstert er ihr am nächsten Morgen ins Ohr. „Shalom, der Stein ist unser Zeuge“, antwortet sie leise. „Salaam“, entgegnet er und legt seine Hände behutsam auf mich. Ihr befreites Lachen steigt auf zum Himmel.









(22,3 P.)