Montag, 31. Januar 2011

Denis Smajlagic: Das Kind

Sein Dorf in Flammen
es stinkt nach Tod
nichts bewegt sich
die letzten Schreie sind verstummt
Blutgetränkt
der schmale Weg
unweit der Hütte seines Vaters
die Landschaft schrecklich gezeichnet
und dort liegt es
von Kugeln durchlöchert
es war erst zwölf
und dreizehn wird es niemals werden

Sonntag, 30. Januar 2011

Erhard Scherner: Für ja wen denn sonst

  Das zählt zu den Wunderdingen:
 
  Manchmal hör ich ein Singen
   
hinter den Bäumen,
 
  fremdländisch ein Lied
   
so heimelig nah.
 
  In meinen krausen Träumen
   
bist du fort und bist immer da.
  
Wie gern schrieb ich dir ein liebes Gedicht.
   
Krieg ist. Da klingt es nicht.

Samstag, 29. Januar 2011

Thomas Pielke: Vietnam

 Langsam und vorsichtig, ohne dabei eine schnelle Bewegung zu verursachen, schob Thu ein dunkelgrünes Palmenblatt zur Seite und spähte hinaus. Was sie sah, ließ sie erschaudern. Ihr Heimatdorf Son My war von jeglichem Lebenszeichen leer gefegt. Auf den Straßen waren keine spielenden Kinder zu sehen. Stattdessen stiegen vereinzelt dunkle Rauchwolken auf. Zunächst lauschte die sechzehnjährige Vietnamesin und als sie, außer dem Rauschen des Windes durch die tropischen Bäume, keinen Laut vernehmen konnte, traute sie sich aus ihrem Versteck heraus. Schritt für Schritt kam sie dem Rand des Dorfes näher, während sich ein mulmiges Gefühl in ihr breit machte. Zwischen den einfachen Häusern aus Stein und Holz angekommen, verließ Thu ihre Kraft und sie sackte zu Boden. Im staubigen Dreck kamen die Erinnerungen des Tages zurück in ihren Kopf gestürmt.
Die junge Vietnamesin war am Morgen, wie jeden Tag, früh aufgewacht. Doch plötzlich, als sie gerade dabei war, ihren morgendlichen Reisbrei zu sich zu nehmen, ertönte das Rattern von schweren Hubschraubern über dem Dorf und die Hölle schien über die Welt hereinzubrechen. Gewehrkugeln durchbrachen die hölzernen Wände ihrer elterlichen Hütte und hinterließen Löcher in Boden und den kargen Möbeln. Reflexartig duckte sich Thu unter den Esstisch und verharrte regungslos. „Jetzt ist der Krieg auch zu uns gekommen.“, dachte sie in diesem Moment und blickte sich panisch um, bis sie ihren Bruder unter einer Sitzbank in der Ecke kauern sah. Mit einer beruhigenden Handbewegung gab sie Diem, der vier Jahre jünger als sie selbst war, zu verstehen, dass er an seinem Platz verharren sollte. Eine weitere Salve, deren tödliche Kugeln genau zwischen Thu und ihrem Bruder einschlugen und dabei Holzsplitter aus dem Boden rissen, ließ sie schlagartig zusammenzucken. „Was wollen die hier?“, flüsterte Diem durch den Raum, so dass seine Schwester ihn gerade verstehen konnte. „Ich weiß es auch nicht!“, antwortete Thu mit fester und gleichzeitig beruhigender Stimme. Instinktiv tat sie das, was wohl jede große Schwester tun würde: Ihrem Bruder Mut zureden ihn und beschützen wollen. „Bleib bitte da wo du gerade bist. Es ist bestimmt gleich vorbei.“ Tatsächlich entfernten sich die Einschläge der automatischen Kanonen langsam und mit ihnen auch das Rattern der Rotoren. Vorsichtig kroch Thu unter dem Tisch hervor. „Bleib da!“, zischte sie ihrem Bruder zu, bevor sie die Haustür einen Spalt öffnete und hinaus spähte. „Niemand zu sehen.“, informierte sie Diem, um sich sofort danach ein Herz zu fassen und die Tür nach draußen zu durchschreiten. Trotz der morgendlichen Stunden schlug der jungen Vietnamesin bereits eine feuchte Hitze entgegen. Die Straße schien wie leer gefegt. So gut wie alle Bewohner des Dorfes Son My hatten sich während des kurzen, aber schnellen Angriffs in ihre Hütten geflüchtet. Thu begann einem Weg zu folgen, der sie aus der Siedlung hinaus und zu einem nahe gelegenen Reisfeld führte. Ein Blut überströmter Mann saß an eine Häuserwand gelehnt. Sein Kopf war auf seine Brust gesunken und seine Augen geschlossen. Tränen liefen aus Thus mandelförmigen Augen und die honigfarbenen Wangen hinab, doch sie konnte sich nicht um das einzelne Schicksal kümmern und wendete ihren entsetzten Blick von der durchlöcherten Leiche des Mannes, den sie nur zu gut, wie alle Menschen des Dorfes, kannte, ab. Thus Ziel war es, das Reisfeld zu erreichen, auf dem ihre Eltern täglich arbeiteten um das Überleben ihrer Familie zu sichern. Um das Wohlergehen ihrer Eltern sehr besorgt, verfiel sie in einen schnellen Gang durch die immer noch menschenleeren Hütten des Dorfes. Plötzlich blieb sie stehen und wäre am liebsten, so schnell sie ihre Beine nur tragen konnten, zurück gerannt, doch eine Art unsichtbare Barriere schien sie an der Stelle festzuhalten, an der sie stand. Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete Thu, wie dutzende schwer bewaffnete Männer in Tarnanzügen auf den Rand des Dorfes zu liefen. Sie schienen von überall zu kommen. Sie liefen die Straße entlang und brachen durch das Unterholz des dichten Waldes hinaus. Nach endlos scheinenden Sekunden konnte sich die Vietnamesin endlich aus ihrer Starre befreien, doch da war es bereits zu spät. Von hinten packten sie zwei starke Hände mit brutaler Kraft und rissen sie zu Boden. Mit dem Gesicht im staubigen Sand liegend konnte Thu erkennen, wie die Kameraden des Mannes, der sie gerade niedergeworfen hatte, in die Hütten, rechts und links des Weges, einfielen. Schrille Schreie, gefüllt mit Todesangst und tiefer Panik, drangen aus den hölzernen Gebäuden. Thu wurde grob an der Rückseite ihres T-Shirts gepackt und über den Boden schleifend in die nächste Hütte gezerrt. Die Augen der jungen Vietnamesin füllten sich mit Tränen der schieren Angst. In dem hölzernen Gebäude angekommen, ließ ihr Peiniger sie los und Thu kroch schnell in die nächste Ecke, in die sie sich schützend kauerte. „Was soll das?“, fragte sie den starken, weißhäutigen Mann, der sie grinsend anstarrte. Er antwortete in einer für Thu unverständlichen Sprache. Sie konnte lediglich ein Wort des Kauderwelsch verstehen „Gock“. Ein Schimpfwort der amerikanischen Soldaten welches die vietnamesische Bevölkerung umschloss. „Diese Männer sind Amerikaner!“, schoss es ihr durch den Kopf. „Warum tut ihr das?“, fragte sie wimmernd. „Ihr seid doch hierher gekommen um uns von der Diktatur zu befreien. Warum tut ihr uns das an?“ Doch statt Worte, folgten grausame Taten als Antwort. Der Fremde in seiner Tarnuniform beugte sich über Thu hinab und zog sie an ihren Armen hoch. Mit einer weiteren, sehr schnellen Bewegung hatte er sein Opfer auf den nächsten Tisch geschleudert und ihr die Shorts von den Beinen gerissen. Mit aufgerissenen Augen starrte Thu den Mann an. Doch im nächsten Moment schloss sie diese wieder und schrie qualvoll auf, als sie ungeahnte Schmerzen in ihrem Unterleib verspürte. „Warum tust du das?“, schluchzte sie immer wieder. Aber als Antwort bekam sie nur ein erregtes Stöhnen. Nach Minuten, die einer Unendlichkeit gleich zukommen schienen, ließ der Soldat von seinem Opfer ab und verließ die Hütte. Thu lag immer noch, mit heruntergelassenen Hosen auf dem hölzernen Tisch. In ihrer Angst und unter den Qualen schien ihr Geist den Körper verlassen zu haben. Langsam kam ihr Bewusstsein zurück und brachte entfernte Schreie und das Rattern von automatischen Gewehren mit sich. Mit einem Satz war sie auf ihre Beine gesprungen, drohte aber sofort wieder wankend umzufallen. Die ihr zugefügte Gewalt hatte nicht nur ihren Geist, sondern auch ihren Körper geschwächt. Doch nach wenigen Sekunden war das Schwindelgefühl verschwunden und Thu zog ihre Hose hoch. „Ich muss hier weg.“, flüsterte sie leise. Die Tür der kleinen Hütte wurde schlagartig aufgestoßen. In der Angst, ihr Peiniger würde zurückkommen, sprang Thu hinter ein Fass, welches in der Ecke stand. Doch sie täuschte sich. Ein alter Mann, sie kannte ihn nur zu gut, er war ihr Lehrer, kam herein getorkelt. Sein eigentlich weißes Hemd, war fast komplett mit dem Rot seines eigenen Blutes getränkt. Er machte einen Schritt nach vorne und schaute sich in der Hütte um, doch im selben Augenblick erschien ein hoch gewachsener Mann in Tarnkleidung im Türrahmen. In seinen Händen hielt er ein Gewehr, aus welchem, unter Mündungsfeuer, Kugeln austraten und das Fleisch des alten Mannes durchschlugen. Während der Schütze genauso schnell wieder verschwand, wie er erschienen war, stürzte der Lehrer mit einem Stöhnen auf den hölzernen Tisch, auf dem Augenblicke zuvor noch Thu gelegen hatte und begrub ihn krachend unter sich. Das Mädchen erschrak. Sie musste mit ansehen, wie der Mann, den sie schon seit ihrer frühesten Kindheit kannte, qualvoll aus der Welt schied. Mit einer neu gefassten Entschlossenheit stand sie aus ihrem Versteck auf und Schritt langsam auf die geöffnete Tür zu, während aus den Straßen immer noch die Geräusche von Kämpfen an ihre Ohren drangen. Vorsichtig schaute sie aus der Tür erst nach Rechts und dann nach Links. Sie konnte erkennen, wie mehrere der Dorfbewohner auf dem Marktplatz am Ende der Strasse erschossen wurden. Angewidert wandte sie ihren Blick ab und lief los, so schnell sie ihre Beine nur tragen konnten. Hölzerne Hütten und Häuser schienen nur so an ihr vorbei zu huschen und nach wenigen Augenblicken konnte sie unbehelligt den Rand tropischen Waldes erreichen, von dem das Dorf umschlossen war. Sie bahnte sich einige wenige Meter durch das dichte Grün der Palmen und Büsche und merkte, wie ihre Beine nachgaben. Sie hatte keine Kraft mehr sich aufrecht zu halten und sackte in sich zusammen.
Thu verdrängte die Erinnerung an die frühen Stunden des Tages und stand von dem Staubigen Grund der Straße auf. Sie durchwanderte die Wege zwischen den einfachen Häusern, wagte aber keines davon zu betreten. Die Straßen waren mit dutzenden von Leichen bedeckt. Sie konnte unter ihnen keinen einzigen Soldaten ausmachen, es handelte sich nur um die toten Körper der Dorfbewohner. Die junge Vietnamesin schauderte. Sie war mit diesen Menschen aufgewachsen, hatte sie jeden Tag gesehen, mit ihnen gesprochen und ein gemeinsames Leben geführt. Doch jetzt waren sie teilweise bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Sie blickte in Gesichter, die keine klaren Züge mehr aufwiesen, sondern nur noch aus einer blutigen Masse bestanden. Thu hätte am liebsten laut geweint, doch aus ihren Augen traten keine Tränen hervor und ihre Kehle schien wie zugeschnürt. „Diem!“, flüsterte sie und ihre Schritte wurden schneller und schneller, bis sie in ein rasantes Laufen verfallen war, welches schlagartig ein Ende fand, als sie an der Hütte ihrer Eltern angekommen war. Langsam drückte sie mit ihrer Hand gegen die Tür, die daraufhin quietschend zurück schwang. „Diem?“, wiederholte sie in das Halbdunkel des Wohnraums. Doch der Anblick, der sich ihr bot, ließ ihre Hoffnung auf eine Antwort ihres Bruders schnell im Keim ersticken. Diem lag mit ausgestreckten Gliedmaßen auf dem Boden des Raumes. Seine Augen waren geschlossen und sein Kopf schien in einer roten, zähflüssigen Masse gebettet zu sein, während seine Stirn einen einzelnen, ebenso roten Punkt aufwies. „Diem“; rief Thu panisch und sank neben dem kalten Körper ihres Bruders zu Boden. Doch auch jetzt, vom Tod ihres Bruders mit Trauer überwältigt, wollten keine Tränen über ihre Wangen fließen. Es schien, als dass das Leid, von welchem sie an diesem Tag Zeuge geworden war, ihre Tränen hatte versiegen lassen. Langsam, dabei den Blick starr auf das friedlich, fast schlafend wirkende, Gesicht ihres Bruders gerichtet, stand Thu auf. Sie musste los lassen und versuchen, mit der tiefen Hoffnung, dass sie noch lebten, ihre Eltern zu finden. Thu verließ die Hütte, welche ihr seit ihrer jüngsten Kindheit ein Heim geboten hatte. Innerlich wusste sie, dass sie nie wieder auch nur eine Nacht in dem kleinen Gebäude verbringen würde. Sollten mehr Menschen als gedacht den Tag überlebt haben und in das Dorf zurückkehren, würde sie jedoch die Ferne suchen und wenn möglich nie wieder in ihrem Leben diesen Ort besuchen. Langsam schritt sie die Strasse hinab, die zu den Reisefeldern führte, auf den ihre Eltern täglich hart arbeiteten um ihre Kinder zu ernähren. Erst jetzt, wo das Dorf mit den Leichen und dem unendlichen Leid hinter ihrem Rücken verschwand und in der Ferne zu schrumpfen schien, stieg in ihr die Trauer empor. Sie erinnerte sich an die schönen Zeiten, die sie mit ihren Freunden und Verwandten in Son My verbracht hatte und daran, dass nichts mehr so sein würde wie noch einen Tag zuvor. Die Hölle war an diesem Tag über das kleine vietnamesische Dorf herein gebrochen und hatte das Leben der wenigen Überlebenden für immer verändert.
Das letzte, was Thu je hören sollte, war das Klicken des Zünders der Landmine, auf die sie in diesem Moment der tiefen Traurigkeit getreten war.

Freitag, 28. Januar 2011

Richard G. Richter: Das besondere Denkmal zu Vahren

 Im Lande stehen überall
Kriegerdenkmäler in großer Zahl,
vor denen sich Häupter senken zu
der Toten stillem Gedenken.
 
In Vahren, an der Dorfstraße fand
ich ein Mahnmal, das dort stand,
kein Krieger mit Waffen dahinter.
Hier steht eine Witwe mit Kindern.
 
Ihre Haltung klagt stumm an:
Wer hat uns dies warum angetan?
Allein in der geschundnen Welt
blieb sie und drei Kinder Der Vater fehlt.
 
Weltkrieg I. Weltkrieg II.
Es war stets Mord und Meuchelei.
Millionen unschuldige Menschen starben.
Wer überlebte, musste hungern und darben.
 
Wie muss der Künstler den Frieden schätzen,
den Frauen und Kindern das Denkmal zu setzen!
Die leicht beschädigte bronzene Aufschrift heißt:
1914/1918. 1939/1945. KRIEG VERWAIST.
 
Das „T“ fehlt. Wurde nicht ersetzt.
Sind gleichgültig die Menschen jetzt?
Obwohl man immer noch Kriege führt?
Wacht erst auf, wer das Unglück selber spürt?

Donnerstag, 27. Januar 2011

Anja-Nicola Rößler: Souvenir

Angespannt.
Bewegungen im Sand.
Er. Oder
das Gewehr in der Hand.
Es riecht nach Moder
und Heimweh,
das sich zu ihnen in die Zelte gesellt.
 
Noch nie damit getötet?
Einer errötet.
Naseweis verstört,
erschreckt betört
laufen sie mit.
 
Ein Knochen als Souvenir.
Während in Guben
die Gruben leer bleiben.

Mittwoch, 26. Januar 2011

Franziska Röchter: dann seht doch zu

 
nie wieder sprengsätze miterleben
wenn deine halsschlagader schwillt
nie wieder widerworte geben
wenn munition dir aus taschen quillt

nie wieder
mundwinkel von dir malen
wenn sie merkelig schwerkraftgeplagt
nie wieder all die todesqualen
wenn im gehirn dir der satan nagt

und auch erst recht nicht der infamen
teufelsausgeburt höllengeschrei
nie mehr das aufgehn von fehlsamen samen
doch dafür wieder vogelfrei

nie wieder
leben in minengurten
antizipierender supergau
und auch nie wieder in wüsten spurten
nie wieder ich als soldatenfrau

nie wieder einheiten rekrutieren
deserteure der obergewalt
die in verschiedene richtung marschieren
kriegsverräter und eiseskalt

möchte nie wieder kommandos befehlen
nur für den gleichschritt im bataillon
werd meine flügel mit frieden beseelen
euch fehlt jegliche staatsräson

Dienstag, 25. Januar 2011

Björn Reusch: Sie brachten den Frieden

  Ich rannte durch die kleinen Gässchen unseres Viertels. Ich rannte und rannte so schnell ich konnte, ich musste doch pünktlich sein. Der kalte Wind peitsche mir ins Gesicht und meine Augen fingen an zu tränen, aber ich durfte einfach nicht zu spät kommen. Endlich kam ich bei unserem Haus an, schon draußen konnte ich gedämpft verschiedene Stimmen hören, die sich eifrig unterhielten: ich war zu spät. Ich holte einmal tief Luft und öffnete die Tür.

Da saßen sie. Die ganze Verwandtschaft war aus allen Teilen des Landes zu Besuch und trank gerade Tee. Ich verbeugte mich und begrüßte meine Onkel und Tanten so, wie es die Sitte verlangte. Ich ließ mir nichts anmerken, aber in mir stieg dieses panische Gefühl auf, denn alle Plätze waren besetzt, bis auf einen. „Aito-chan, du kannst dich neben deinen Onkel Sikora setzen.“ Ich blickte schluckend auf meinen Onkel aus Hiroshima. Schon vor dem Öffnen der Tür war mir klar gewesen, dass nur dieser Platz frei sein konnte, da niemand etwas mit ihm zu tun haben wollte.
Mein Onkel hatte ein absolut entstelltes Gesicht. Zwar trug er immer weiße Bandagen, doch waren diese recht lose und an einigen Stellen konnte man sehen, dass die Haut in Fetzen herabzuhängen schien. Außerdem war er komisch. Während sich die anderen über Politik und Sport unterhielten, saß er immer schweigend da und starrte melancholisch aus dem Fenster. Wollte er sich dann mal in die Gespräche einmischen, wurde er einfach ignoriert. Niemand schenkte ihm auch nur einen Blick. Er tat mir leid, doch einmal hörte ich wie Onkel Nakamami zu seiner Frau flüsterte: „Das ist ansteckend, komme Sikora bloß nicht zu nahe, wenn dir dein Leben lieb ist“. Und das machte mir Angst, panische Angst. Ich wollte nicht so aussehen und auch nicht so einsam sein, wie er.
Ich lächelte meine Mutter an und setzte mich artig neben meinen Onkel. Er blickte mir in die Augen und sagte etwas zu mir, das ich nicht verstehen konnte. Ich denke, er hatte das freundlich gemeint, mir jedoch kam es vor, als spräche eine wiederauferstandene, halb verweste Mumie zu mir. Ich erwiderte diese Geste mit einem Lächeln. Der Schweiß floss in Strömen meinen Rücken hinab. Es kostete wahnsinnig viel Kraft nicht einfach aufzustehen und weit wegzurennen.
Als Ablenkung versuchte ich das Gespräch meiner Gegenüber aufzuschnappen, um mich vielleicht einmischen zu können. Aber mein Onkel tippte mir auf die Schulter und deutete auf seine leere Tasse. Ich schenkte ihm sofort Tee ein und wollte mich erneut von ihm abwenden, als er zu mir in absolut klarer Sprache sagte: „Komm näher mein Kind, ich will dir etwas erzählen.“ Im ersten Moment war ich zu irritiert, um etwas anderes zu tun, als ihn anzustarren. Ich fragte mich, warum er plötzlich so klar und verständlich sprach. Ich rückte näher, aber nicht zu nahe. Ich merkte, wie die Angst immer stärker wurde. Würden seine Bakterien nun auch mich befallen? Mir wurde schlecht, aber tapfer blickte ich ihm in die Augen und lauschte seinen Worten. „Ich kann sehen, dass ich auf dich abschreckend wirke. Ich bin nicht mehr ich, das sehe ich jeden Tag selbst im Spiegel. Angewidert wende ich mich dann wieder ab, träume von alten Zeiten, in denen alles noch in Ordnung war. Du kannst es dir vielleicht nicht vorstellen, aber ich war einmal ein genauso stattlicher Mann wie dein älterer Bruder. Bis die Amerikaner kamen und ihre Engel des Todes auf unsere Stadt schickten.“ Er hatte wieder diesen leeren Blick und ich wusste nicht, ob das schon alles war, oder ob er weitersprechen würde. Doch dann fuhr er fort:
Das war an einem wundervollen, heißen Sommertag. Und es war mein erster freier Tag seit langem. „Im Krieg arbeitete ich in einer Fabrik, welche Patronenhülsen herstellte. Im Krieg musste jeder etwas für das Wohl des Staates tun. Aber an diesem Tag hatte ich frei und blieb zu Hause. Ein prächtiges Haus ein paar Kilometer vom Stadtkern entfernt. Meine Frau hatte leider nicht frei.“ Sikora schluckte tief und ich fühlte, dass er litt. Ich fragte mich, warum er mir das erzählte, hörte ihm aber weiterhin zu.
„Nachdem ich mich von ihr verabschiedet hatte, kniete ich einfach nur in unserem Garten und lauschte den Vögeln. Sie sangen wunderbar und seit langem fühlte ich mich wieder frei. Ich atmete tief den Duft der Blumen ein, ich beobachtete vergnügt das Schauspiel der beiden Eichhörnchen, die sich von Baum zu Baum hüpfend um eine Nuss stritten. Mal hatte das eine Hörnchen die Nuss, bis das andere wutentbrannt auf es sprang und ihm die Nuss stibitzte. Dann hörte ich es, wieder einmal der Lärm eines Flugzeuges. Sie waren in den letzten Tagen häufiger da gewesen. Ich ging ins Haus, um zu hören, was das Radio zu sagen hatte. Ich wollte es gerade einschalten, als ich einen heftigen Knall hörte. Das letzte was ich sah, war eine grelle Lichterscheinung, dann warf mich eine Druckwelle zu Boden und ich spürte, wie eine ungeheure Hitze die Kleidung in meine Haut brannte. Das war das Schlimmste, was ich jemals erlebt hatte. Als ich nach einiger Zeit aufblickte, konnte ich durch das Fenster eine riesige Wolke erkennen, so ungeheuer riesig, dass ich das Ende im Himmel nicht sehen konnte. Eine Wolke so schwarz wie die Nacht. Es war schrecklich. Ich richtete mich auf, um das Radio einzuschalten, doch ich hörte nur ein Knistern. Alles tat mir weh. Ich hörte Geschrei draußen auf den Straßen, das Geschrei ungeheuren Schmerzes. Geschrei so grell, dass es mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ich stand da wie gelähmt, wusste nicht, was zu tun war. Ich blickte panisch umher. Was war nur geschehen? Ich konnte es mir nicht erklären. Alles tat mir weh und ich hatte Mühe auf zwei Beinen zu stehen. Als ich hinaus auf die Straßen blickte, konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ein Kind starrte mich an, sah mir direkt in die Augen. Der Anblick dieses kleinen Geschöpfes war grauenhaft. Die Haut schien sich zu einem Brei verwandelt zu haben, sie hing jetzt lose herab. Ich konnte an manchen Stellen das rosa Fleisch und die Knochen erkennen. Durch die Finsternis, die sich über die Stadt gelegt hatte und kein Sonnenlicht mehr auf die Erde hinab ließ, kamen mehr Menschen.“
Er machte eine kurze Pause und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Erst jetzt merkte ich, dass ich wieder ich selbst war. Die ganze Zeit schien es mir, als wäre ich selbst in diesem Haus und blickte jetzt über all das Elend. Schon lange hatte ich meinen Ekel vergessen und lauschte gebannt seinen Worten: „Aus dem Schatten der Stadt kamen mehr Menschen. Auch sie sahen einfach nur grauenhaft aus. Manchen waren die Augen so geschwollen, dass sie nichts mehr sahen und sich an andere Menschen festkrallten, um nicht verloren zu gehen. Sie flehten, sie schluchzten und sie weinten. Ich kann das ganze Elend nicht beschreiben, da es zu schrecklich ist. Ich bekomme heute noch manchmal Alpträume, in denen ich diese jämmerlichen Gestalten sehe, die sich mir nähern und ihre Augen sind so leer, eine Leere, die jeden in eine ungeheure Trauer versetzt. Ich wache auf, schweißgebadet und merke, dass meine Augen feucht sind. Ich konnte ihren Anblick nicht ertragen. Sie kamen in mein Haus und ich versorgte ihre Wunden so gut wie möglich. Ich reinigte ihre Wunden, aus denen dicker, gelblicher Eiter quoll und ich sprach ihnen Mut zu. Als ich mir endlich eine kleine Pause gönnen konnte, dachte ich an meine Frau, die in einem Krankenhaus in der Innenstadt arbeitete. Ich wusste, dass sie tot war.“
Tränen quollen langsam seine Wangen herab und auch ich konnte ein Schluchzen nicht verhindern. So etwas Grausames hatte ich noch nie gehört. „Ich wusste, dass sie das nicht überleben hatte können. Ich fühlte mich so einsam, eine schwarze Trauer nahm mir die Luft zum Atmen. Ich hasste diese Momente, in denen ich mich nicht in die Arbeit stürzen konnte, in denen ich nicht der anderen Leid lindern konnte, um das meine zu vergessen. Noch viele Monate versorgte ich die Kranken in meinem Haus. Ein übler Geruch hatte sich festgesetzt, der Tod schien zu Besuch. Ich erlebte viele Tode mit, ich war wie paralysiert. Kleine Jungen und Mädchen, die wimmernd um Atem rangen, bis auch bei ihnen die Kraft nachließ und sie der Tod umarmte.
Am 15. August erklärte der Tenno, unser Kaiser, die bedingungslose Kapitulation im Radio. Und auch hörte ich, dass das Schicksal unserer Stadt auch noch Nagasaki heimgesucht hatte. Diese Bomben der Amerikaner hatten den Krieg beendet. Der Krieg war beendet, aber auf welche Weise! Ich kann bis heute nicht verstehen, wie jemand solch grässliche Waffen einsetzen konnte. Die Amerikaner hatten Frieden durch Gewalt gebracht. Dabei waren wir wahrscheinlich nur Testobjekte für die neuen Waffen der Zukunft, für die Waffen des Teufels. Sie haben hunderttausende von Zivilisten getötet und Familien zerstört. Und auch an mir kann man die Folgen der Bombe erkennen. Schau mich an! Ich bin ein Monster, ein Wrack, ein Schatten meiner Selbst. Wir werden abfällig Hibakusha genannt und keiner will etwas mit uns zu tun haben.“ Seine melancholische Stimmung war in Wut umgekehrt. „Deine Mutter ist die einzige, die mich nicht vergisst und die mich noch einlädt. Diese Treffen hier sind die einzigen Lichtblicke in meinem Leben. Denn seitdem meine Frau aufgehört hat zu sein, fühle auch ich, dass ich innerlich aufgefressen bin und mein Körper einfach nur noch funktioniert. Das Elend der Menschenmassen hat mir gezeigt, wie grausam Menschen sein können und den Glauben an das Gute im Menschen habe ich schon lange vergessen. Denn das Gute scheint wohl eher die Ausnahme zu sein.“
Eine Stille hatte sich über den Raum gelegt und jeder starrte Sakura-san an. Einige hatten bei seinen letzten Worten beschämt auf den Boden geblickt. Und ich kann bis heute dieses unglaubliche Verbrechen nicht verstehen.

Montag, 24. Januar 2011

Simone Philipp, Damit es endet

10 vor
Er sagt: „Ich muss noch mal weg. Ich nehme Emily mit."
Anne nickt. „Bleibt aber nicht zu lange fort." Sie rührt im Topf. „Das Essen ist bald fertig."
„Ja, es wird nicht lange dauern", erwidert er. „Ich hoffe, dass es schnell geht."

9 vor
Er geht den Flur hinunter. Nach hinten zum Zimmer der beiden Großen. Ben und Christina sehen kaum von ihrem Spiel auf. Er beobachtet sie für ein paar Augenblicke.

8 vor
Er bleibt in der offenen Küchentür stehen. „Anne", sagt er leise.
„Was ist?" Sie dreht sich zu ihm. Ihre Wangen sind gerötet.
„Ich liebe dich."
Sie blickt erstaunt. „Ist alles in Ordnung?"
Er nickt. „Ja, alles in Ordnung."

7 vor
Er trägt das Kind auf seinem Arm die Straße hinunter. Der Himmel ist klar, kein Luftzug geht. Emily krallt sich fröhlich plappernd an seine Schulter. Er streicht ihr sacht über das Haar.

6 vor
Er dreht sich zur Seite und beugt sich nach unten. Den Kanister findet er auf Anhieb. Es war ein gutes Versteck. Die Flüssigkeit im Inneren gluckst gegen die milchigen Außenwände. Beinahe könnte es Wasser sein.

5 vor
Er geht weiter die Straße hinunter. Am Ende muss er nach rechts abbiegen. Kinder spielen auf den Wegen und im Park. Männer und Frauen hasten an ihm vorbei, auf dem Weg zur Arbeit, zum einkaufen, zum Frisör.
Ein Auto überholt ihn.

4 vor
Er erreicht den Platz vor dem Gebäude. Auch hier sind etliche Menschen unterwegs. Keiner achtet auf ihn und das Kind.

3 vor
Er bleibt stehen. Schließt die Augen und drückt das kleine Mädchen fest an sich. Sie riecht nach Brot und Milch.
Sein Atem beruhigt sich.

2 vor
Er setzt Emily vor sich auf den Boden nieder und spricht leise mit ihr. Als er sich aufrichtet und von ihr zurücktritt, bleibt sie sitzen, als hätte sie ihn verstanden.

1 vor
Er schraubt den Verschluss des Kanisters auf. Das Kerosin durchweicht ihn von oben wie ein Regenschauer. Die Leute sind stehen geblieben. Beinahe wirken sie wie erstarrt.
Die Sonne lässt das Metall des Feuerzünders in seiner Hand aufblitzen, als er den Deckel zurückschiebt.

- -
 

Der Krieg ging weiter
Die Welt aber
stand für einen Moment still

Norman Morrison (29.12.1933 -- 02.11.1965)
zum Gedächtnis

Sonntag, 23. Januar 2011

Susanna Piontek: Andere Umstände

 Als Aaron am Abend nach Hause kam, merkte er sofort, dass irgend etwas nicht stimmte. Es war alles ruhig. Zu ruhig. Nicht das übliche Geschrei der beiden Töchter. Nicht die liebevollen, doch manchmal auch ungeduldigen Versuche von Hannah, die beiden Kleinen davon zu überzeugen, dass es wieder einmal Zeit war, ins Bett zu gehen.
Hannah?” fragte Aaron in die Stille. Keine Antwort.
Wo mochten sie und die Kinder sein? Er bemühte sich, die aufkeimende Unruhe niederzukämpfen. Vielleicht hatte sie den Bus genommen und war mit den Mädchen zu ihren Eltern nach Haifa gefahren. Aber um diese Uhrzeit? Aaron dachte über andere Möglichkeiten nach, als er das Geräusch hörte. Ein Schluchzen, das aus dem Badezimmer kam.
Hannah?” fragte er noch einmal und drückte mit klopfendem Herzen die Türklinke zum Badezimmer runter.
Dampfschwaden ließen seine Brille beschlagen und raubten ihm die Sicht. Seine Frau saß in der Badewanne, das dunkle nasse Haar klebte an ihrem Kopf, das Gesicht war gerötet und vom Weinen verzerrt. Trotz der Hitze zitterte sie.
Aaron legte seine Brille beiseite und kniete sich an den Rand der Wanne. Als er eine Hand ins Wasser tauchte, schrie er kurz auf und zog sie erschrocken zurück. Hannah schaute mit tränenüberströmtem Gesicht ins Leere und sagte kein Wort. Erneut tauchte er die Hand ins Wasser, langsamer und nun wissend, wie heiß es war. Trotzdem fiel es ihm nicht leicht, sie im Wasser zu behalten. Schwer atmend legte er sie auf ihren Bauch, diesen geschwollenen heißen Leib.
Hannah, Liebling, was ist mit dir? Warum weinst du? Warum ist das Wasser so heiß? Wo sind die Kinder?”
Noch immer schaute sie ihn nicht an. Wie bei einem Gebet bewegte sich ihr Oberkörper vor und zurück, vor und zurück. Aaron konnte nicht erkennen, ob die Perlen, die an Hannahs Wangen hinunterrannen, Wasser, Schweiß oder Tränen waren. Von ihrem Kinn und ihrer Nasenspitze tropfte es. Sanft drehte er ihr Gesicht in seine Richtung.
Bitte sag mir, was los ist. Bitte!” Panik breitete sich in ihm aus.
Du musst raus aus dem Wasser. Sofort. Es ist viel zu heiß für das Baby. Nun komm.” Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, zog er den Stöpsel aus dem Abfluss.
Das gurgelnde Geräusch schien seine Frau in die Realität zurückzuholen. Heiser stieß sie seinen Namen hervor und klammerte sich an ihn. Aaron hielt seine zitternde Frau fest und richtete sich gleichzeitig auf, darauf bedacht, ihr beim Aufstehen zu helfen. Beim Verlassen der Wanne stützte sie sich schwer auf ihn und stand schließlich keuchend und immer noch zitternd auf dem blauen Frotteeteppich, der die Form einer Wolke hatte.
Merkwürdig, schoss es Aaron durch den Kopf. Warum war dieser Teppich blau und nicht weiß, wie es sich für eine Wolke gehörte? Gleichzeitig musste er daran denken, dass kleine Kinder auf ihren Bildern auch oft blaue Wolken malten, während der sie umgebende Himmel weiß blieb.
Weil Hannah reglos dastand, begann Aaron sie abzutrocknen und sprach dabei beruhigend auf sie ein. Schließlich half er ihr in den Bademantel und legte einen Arm um ihre Schulter.
Behutsam führte er sie vom Bad ins Schlafzimmer. Hannah setzte sich auf den Bettrand, und Aaron kniete vor ihr nieder, während er ihre Beine umklammerte und ihren Blick suchte. Besorgt fragte er nochmals:
Hannah, willst du mir nicht endlich mal sagen, was los ist?”
Seine Frau beruhigte sich nur langsam, das Zittern hatte kaum nachgelassen. Die schweren Brüste über dem gewölbten Bauch klafften aus dem offenen Bademantel. Ihr Körper glühte von dem heißem Wasser.
Ihre Stimme war leise, als sie zu sprechen begann. Die Kinder waren bei ihrer Cousine Lea einige Straßen weiter. Hannah war am späten Nachmittag von der Arbeit nach Hause gekommen. Sie hatte sich auf die Couch im Wohnzimmer gesetzt, sich ein Glas Saft eingeschenkt und wollte nur kurz verschnaufen und die Post durchsehen, ehe sie die Mädchen abholte. Das Kuvert war unschuldig weiß und einen Moment hatte Hannahs Herz ausgesetzt, als ihr Blick auf den Absender fiel. Ihre Hände hatten so stark gezittert, dass sie kaum in der Lage gewesen war, den Umschlag zu öffnen. Wie ein Mantra hatte sie die Worte Bitte nicht” wiederholt, voller düsterer Ahnung. Dreimal las sie den Brief und wollte nicht glauben, dass es sie getroffen hatte. So etwas passierte doch immer nur den anderen. Doch nicht ihr. Und nun war es ihr doch passiert. Ihr und Aaron. Schwerfällig hatte sie sich erhoben und ihre Cousine angerufen. Ohne ihr den wahren Grund mitzuteilen, hatte sie Lea nur gesagt, es ginge ihr nicht gut und sie wäre jetzt gern allein und würde sich etwas hinlegen wollen. Ob die Mädchen noch bis zum Abend bei Lea bleiben könnten? Aaron würde sie dann abholen. Nein, nein, sie brauche sich keine Sorgen zu machen. Es sei alles in Ordnung. Die Hitze und ihr stetig zunehmender Leibesumfang machten ihr zu schaffen. Sie sei erschöpft, und wenn sie jetzt Gelegenheit habe, sich auszuruhen, würde es ihr sicher bald bessergehen.
Hannah wunderte sich später zusammen mit Aaron, wie sie es geschafft hatte, ihren Zusammenbruch auf die Zeit nach dem Telefonat zu verschieben. Auf ihr Geheiß war Aaron ins Wohnzimmer gegangen und hatte den Brief geholt, den sie wieder zurück in das Kuvert geschoben hatte, als könne sie so die Annahme ungeschehen machen und das Verhängnis abwenden.
Als Aaron den Brief zu Ende gelesen hatte, war alle Farbe aus seinem Gesicht gewichen. Der Brief fiel zu Boden. Wieder vor ihr knieend, umschlang er seine Frau und presste das blasse Gesicht gegen ihren gespannten Leib. Der ungeborene und heiß ersehnte Sohn trat und strampelte im Bauch seiner Mutter. Hatte die Hitze des Wassers ihm geschadet?
Ich lasse ihn mir nicht wegnehmen”, flüsterte Hannah kaum hörbar. Das können sie nicht tun. Und wenn doch, dann sollen sie ihn nicht lebend bekommen.”
Aaron griff nach ihrer Hand und küsste die Innenfläche. Er stieß einen tiefen resignierten Seufzer aus, als er ihr fest in die Augen schaute.
So etwas darfst du nicht sagen, Hannah. Noch nicht einmal denken. Wir haben geahnt, dass es so kommen kann. Seit man auf dem Ultraschallbild erkennen konnte, dass es ein Junge wird, haben wir gewusst, dass es uns treffen kann. Auch wenn wir nicht darüber gesprochen haben. Wir haben Glück gehabt mit den Mädchen. Zweimal Glück. Und auch nur, weil es Mädchen sind. Wir sind nicht die einzigen, die es trifft.”
Aber ich will ihn nicht hergeben!” Sie schrie diese Worte fast und legte schützend ihre Hände auf den Bauch. Ich will nicht, ich will nicht.”
Aaron setzte sich neben seine Frau auf die Bettkante und nahm sie sanft in den Arm.
Bitte, Liebling, beruhige dich. Es hat keinen Sinn. Wir können nichts dagegen machen. Andere bekommen so einen Brief und wissen bis zur Geburt nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird. Wir können uns sogar psychisch darauf einstellen. Einem Arbeitskollegen und seiner Frau ist es auch passiert. Schon vor fünf Jahren.
Und? Wie kommen sie damit zurecht?” wisperte Hannah.
Gut”, versuchte Aaron ihr Mut zu machen. Viel besser als erwartet. David hat sich prächtig entwickelt. Erst vor kurzem habe ich mit Eliezer darüber gesprochen. Glaube mir, nach einer Weile denkst du nicht mehr daran. Immer wieder wird er darauf angesprochen, wie ähnlich David ihm sieht. Es weiß ja auch kaum jemand, dass er eines von diesen Tauschkindern ist.
Hannah, erinnere dich doch einmal, wie wir selbst die ganze Sache noch vor einigen Jahren gesehen haben. Dieses Gesetz wurde schließlich mehrheitlich verabschiedet. Weißt du noch, wie gejubelt wurde, als die Palästinenser zugestimmt haben? Und du kannst sagen, was du willst, es ist erfolgreich. Zusammen mit dem Rückzug aus den besetzten Gebieten hat es uns endlich Frieden gebracht. Das Los ist diesmal auf uns gefallen. Hannah, wir werden einen Sohn haben, wir werden ihn großziehen und ihn lieben, so wie wir unsere Töchter lieben. Und genauso wird irgendeine palästinensische Familie unseren Sohn lieben. Glaube mir. Die Lebensbedingungen drüben haben sich in den letzten Jahren so sehr verbessert. Und es ist unser Beitrag zum Frieden. Versuch es doch so zu sehen. Mittlerweile sind es schon Tausende Jungen, die nach der Geburt ausgetauscht wurden. Sie alle sind Friedenstauben. Sieh es doch so, Hannah. Es gibt keine Attentate mehr. Der Hass hat nachgelassen. Die Angst ist zu groß, die eigenen Söhne könnten getroffen werden. Auf beiden Seiten.”
Hannah lehnte müde ihren Kopf gegen Aarons Schulter. Das Baby strampelte nicht mehr so stark; sie fühlte eine große Ruhe über sich kommen.


enthalten in Kurzgeschichtenband "Ruehlings Erwachen", vbb-Verlag 2005.

Samstag, 22. Januar 2011

Lars Wistuba: Im Spiegelglanz des Krieges...

... wenn Haubitzen
Tod verspritzen
Splitterspitzen
Leiber schlitzen,
Knochen blitzen,
Seelen frieren
und Geliebte sich verlieren,
Blut und Fetzen
Stahl benetzen,
Gase ätzen,
Führer hetzen
und Gesetzen
mutig trotzen,
irren Hass in Worte kotzen,
Werte knittern,
Rechte splittern,
hinter Gittern
Kinder zittern,
stumm verbittern
und verkümmern,
in aschgrauen Zukunftstrümmern,
sieht der Mensch sich ins Gesicht
und stellt fest, er kennt sich nicht.

Donnerstag, 20. Januar 2011

Rolf Stemmle; Umgedacht

Als stark sich hob die Herrscherhand,
entdeckte eine Weinbergschnecke
die Liebe zu dem Vaterland
und bot sich an als Waffenrecke.

 
Den Brief gab sie der Tante mit
die wollte ihn zum Postamt bringen.
Da sie jedoch an Durchfall litt,
zerlief die Tat mit diesen Dingen.

Der Krieg kam übers Land gezogen,
und viele starben in der Schlacht.
Die Schnecke fühlte sich betrogen,
denn keiner hatt’ an sie gedacht.

Kaum war der Friede heimgekehrt,
begann sich dieser Gram zu lichten.
Sie lebte, liebte unbeschwert,
vergaß die hehren Heldenpflichten.

Beim Frühjahrsputz im Haus der Tante
fand sie schockiert den Brief am Klo.
Für damals schalt sie die Verwandte,
für heute fand sie’s besser so.

Mittwoch, 19. Januar 2011

Wolfgang Reuter: Die Fabel vom Lauch und den Rosen

Begrenzt von einer Gartenmauer
wuchs einst ein schöner Rosengarten.
Das Feld davor bepflanzt´ ein Bauer
Mit Zwiebellauch und Knoblaucharten.
Und weil die Sonne kräftig schien,
fing´s an zu blühn.
 
Die Rosen, stolz auf ihre Düfte,
begannen bald, sich zu beschweren,
dass Lauchgeruch die Luft vergifte,
das würde sie beim Blühen stören.
Und ihr Gemüt sei schwach und krank
Vom Lauchgestank.
 
Der Sommer kam, und immer tiefer
Drang edler Rosenduft ins Land.
Das lockte manches Ungeziefer,
das leicht die Mauer überwand
und gierig an den Rosen fraß,
was für ein Spaß!
 
Dann fraß die Brut schon ganze Pflanzen.
Sie kam sehr schnell auf den Geschmack.
Und ganz besonders fette Wanzen
Vermehrten mehrmals sichj am Tag.
Nur Rosen dicht beim Lauch, die ließen
Sie weiter sprießen.
 
Denn durch die scharfen Lauch-Gerüche
War das Geziefer hier schockiert.
Das schlug zu stark auf seine Psyche,
als dass es davon auch probiert.
So wurden Lauch und Rosen Freunde
(statt Stinke-Feinde)
 
Was lehrt uns das in Ost und West?
Selbst wenn wir uns nicht riechen können,
so steht in harten Zeiten fest:
Man soll nicht Lauch von Rosen trennen.
Und wer ist Rose, wer ist Lauch?
Das frag ich auch.
  Veröffentlicht in "High-matt Land"( und "Blumengrüße")  im Schmöker Verlag Christine Bienert, Garbsen.

Dienstag, 18. Januar 2011

Jürgen Polinske: Für die türkischstämmige Brotverkäuferin in Berlin ...

... mit dem Namen
einer Pflanze, die die Griechen wegen ihres königlichen Duftes lieben
 
 
1.
Schon vor dem Kloster, hoch auf dem Felsen,
ist die Ordnung innen zu ahnen.
Der kleine Garten ist sehr gepflegt, Gemüse und Kräuter,
Kräuter, vor allem. Nur wenige Augenblicke verbleiben
bis uns die Schwestern den Eintritt frei geben.
Wir warten.
 
 
Eine der Schwestern führt ein Auto voll leerer Körbe,
wie selbstverständlich fährt sie an uns vorbei.
Einst waren nur Stege, nicht Straßen, zum Markt,
einzuhandeln woran es fehlt im Garten.
Im Korb am Seil kam alles hinauf.
 
 
Einst erhielten Wanderer, Besucher vom Kraut einen Stiehl,
mit Blüten manchmal, aber immer mit Duft,
ihn sich hinter ihr Ohr zu stecken; Geschenkter Frieden.
Sie lassen uns ein; Eine Schwester verkauft Karten.
 
 
2.
Neugier,
Neugierde ließ mich den hölzernen Deckel heben,
der auf der einen großen Vase im Klosterhof lag.
Enttäuschung: Ein Schippchen, Handschuhe, Chemie –
Gartengeräte; Für ein leichteres Leben?
 
 
3.
Reyhan ist um ihr freundliches Lächeln zu beneiden;
An ihren Namen, so sprach sie, hatte sie lange zu leiden,
bis sie erfuhr: Die Pflanze sei ein Schlüssel zum Paradies,
jenes, das der Prophet einst einmal allen verhieß –
Am liebsten schmeck ich deinen Brotduft um dich herum,
Reyhan, das türkische Wort klingt griechisch: Basilikum

Montag, 17. Januar 2011

Angelika Zöllner: Ausländer

ausländer
 
weiß ich nicht wirklich
wer außer landes ist
du oder ich
jeder der sich auspflanzt
wird mit fremde übergossen
woher nehm ich das recht
oben oder unten zu stehen
 
trau ich mich bald nicht mehr
ausländer anzusprechen
weil sie sich abgrenzen
von dem bissigen fluß meiner landsleute
weiß nicht wie ich die
sprache wiegen soll
wenn nachbarn das wort wenden
menschen sind für mich menschen
gleich welcher farbenreichtum ins gesicht geschrieben
 
kassandrarufe die alte sternzeit in gelbem glanz
wird beschworen tarnt sich
in neuem kleid
ach wer will hier
brandfackeln und richten
das verbrennen von seelen
sich anmaßen nach eigenem licht?
 
lass uns die grenzpfähle umpflügen und hartherzen
lösen – aufgesteckt auf den zäunen
im leichten wind.

Sonntag, 16. Januar 2011

Mario Tomašegovic: Das Leben riecht nach Meer

„Das Leben stinkt nach Tod“ schrieb Goran als ersten Satz in sein Tagebuch. VERITAS - Wahrheit taufte er das Diarium mit großen gotischen Lettern. Mit den Fingerkuppen strich er über das
Blatt. Er legte den Füllfederhalter, auf dem die Initialen GT seines Vaters in goldener Schrift eingraviert waren, auf den knorrigen Tisch. Er griff zu einer gläsernen Sanduhr und drehte sie auf den Kopf. Fünfzehn Minuten blieben ihm, bis die rote Sonne aufging.
Er nahm einen Schluck Slibowitz und würgte zwei giftgrüne Ecstasypillen hinunter, auf denen das Gesicht von Micky Maus lachte. Er schrieb weiter:
„In der Nacht erlagen fünf Kameraden ihren Verletzungen. Ich hatte ab vier Uhr Früh Sanitätsdienst und musste die Toten in olivgrüne, süßlich stinkende Leichensäcke packen. Sie starben einen dreckigen Tod, in einem dreckigen Bett, für dreckige Saubermänner. Keiner war älter als vierundzwanzig Jahre. Der
Jüngste war seit einem Monat neunzehn und hieß Nikola. Er hatte ein kindliches, mit Pickeln übersätes Gesicht, abstehende Ohren und dunkle, unruhig wandernde Augen. Als ich seinen Leichnam in den Sack legte, sah er aus wie ein glücklicher Junge. Er war ein Fan von Hajduk Split. Wir zogen uns ständig wegen unserer Teams auf. Er neckte mich oft mit seinem Lieblingsspruch:
Ihr seid zwar die Hauptstädter, aber in eurem Inneren bleibt ihr Schweinehirten. Und genauso rustikal spielt euer Team Fußball.
Ich schob einen Wimpel von Hajduk in seine linke Brusttasche und legte zwei silberne römische Münzen mit dem Konterfei von Julius Cäsar, die ich beim Ausheben von Schützengräben gefunden hatte, auf seine Augen. Der Fährmann Charon sollte ihn sicher über den Styx befördern. Mittags verteilte ich Essen und Getränke im Flüchtlingslager. Bis dahin kam ich ohne Pillen durch den Tag. Die fragenden und flehenden Blicke der Kinder trieben mich nachmittags in die Arme der Feuerengel.
Am Abend nur Routinearbeiten. Leichensäcke säubern, Waffen reinigen, vor dem Geschrei der Verwundeten fliehen. Der Tag hinter mir voller Grauen, die Nacht vor mir die Hölle.
Goran schloss die ‚Wahrheit’, nahm einen Zug aus der Schnapsflasche.
Er starrte auf sein verzerrtes Spiegelbild in dem grünen Glas und flüsterte: „Wenn ich rede, sterbe ich. Wenn ich schweige, sterbe ich. Also rede ich und sterbe.“
Er schlug SPES - die Hoffnung auf. Sein zweites Tagebuch. Sein Schrei gegen die Wahrheit. Seine Flucht vor der roten Sonne.
Sein Licht am Ende des Tunnels, das nur ein Widerschein der Hölle war.
‚Das Leben riecht nach Meer’ lauteten die ersten Worte. Er zog ein vergilbtes Foto aus der Jackentasche, auf dem ein Segelschiff am Horizont auf glitzernden Wellen tanzte. Im Vordergrund stand eine Frau vor einer Aphroditestatue. Sie lachte und winkte mit der rechten Hand. Ihr Haar: eine ungezähmte, schwarze Mähne. Ihre Augen: dunkel, voller Träume. Ihr Körper: schlank, mit geraden Schultern, schmalen Hüften und einem vollen Busen. So erhob sie sich aus dem Schaum des Meeres. Seine Anna.
Mein Dorf in den Hügeln über dem Meer, schrieb Goran weiter.
Mein Haus, mein Land, mein Leben, meine Liebe. Die versteckte Bucht und der einsame Mandelbaum, unter dem ich Anna küsste.
Mandeln auf ihrem Mund, ihren Brüsten, ihrer Scham. Annas Geruch betörend in der Luft. Annas Geschmack berauschend auf meiner Zunge. Wilde Küsse, zärtliche Berührungen, Liebesschwüre, zuckende Körper. Meine ungeborenen Kinder in Annas ewigen Augen. In diesen Momenten küsste der Himmel meine Erde, küsste sie im Schatten des Mandelbaums. In diesen Momenten flüsterte das Meer zu mir, versprach eine Woge zur Insel des Lichts.
Goran unterstrich Annas Namen, hielt die Nase an das Papier und atmete tief ein. Er atmete das Meer seines Dorfes, atmete das Meer zwischen Annas Schenkeln.
Ein gieriger, wütender Wind mit Böen wie Prankenhiebe eines Bären kam auf, hämmerte wild gegen das Fenster und schleuderte Goran in die Wahrheit zurück. Die Sandkörner rieselten und schlugen wie Felsbrocken gegen das Vergessen. Eine weitere giftgrüne Pille schoss ihn durch einen Tunnel der Zeit. Seine Hand machte sich selbständig und gehorchte dem Befehl der roten Sonne. ‚PROMETHEUS’ schrieb sie in zeigefingergroßen Druckbuchstaben. ‚PROMETHEUS’ wiederholte sie, schreit vor
unsäglichen Schmerzen. Ein majestätischer, braungefiederter Adler gräbt die Krallen in sein Fleisch, stößt den Schnabel in Prometheus rechte Seite. Er stößt immer wieder zu und hackt ein Stück nach dem anderen aus seiner Leber. Prometheus steht nackt, in Ketten gelegt, auf dem kargen Felsen. Blut fließt seinen Bauch hinab, vermischt sich mit zähflüssiger Galle und tropft klatschend
auf das Gestein. Prometheus Beine knicken ein, er taumelt, stürzt und eine schwarze Binde legt sich um seine Gedanken.
‚Ich bin Prometheus’ schrieb Goran auf eine neue Seite. Mein Adler die rote Sonne, meine Leber das Leben, meine Ketten die Erinnerung. Ich bin ein Gespenst, das dem Geist von Millionen entsprungen ist. Sie drückten mir ein geweihtes Gewehr in die Hand und der Priester sprach Gottes Worte. Ich schoss wie keiner vor oder nach mir. Ich traf jedes Ziel, aus jeder Entfernung, aus jeder Lage. Ich folgte den blinden Parolen, bejubelte die Fahnenweihen
des Teufels, träumte von den Feldern der Ehre. Ich leistete Lippenbekenntnisse, plapperte eine gelernte Lüge nach.
Ich erkannte nicht, dass eine Lüge der Wahrheit zum Verwechseln ähnlich wird, wenn man sie oft genug wiederholt. Jugend giert nach Wahrheit. Und ich war jung und gierig.
Für jeden Mann kommt der Tag, an dem nichts mehr so ist, wie es einmal war. Für mich war es der 23. Dezember 1991. Um 4.35 Uhr kam ich an die Front. Das feuchte Land dampfte Nebelschleier aus. Der saure Geruch von Schweiß und Angst brannte in der Nase. Heldengalerien marschierten auf. Patroklos zu meiner linken, Paris zur Rechten, Hektor in meinem Rücken und Achilles schritt voran. In alten FIAT-Lastwagen, von denen der blaue Lack
abbröckelte, fuhren wir ins Hinterland. Jeweils fünfundzwanzig Mann zusammengepfercht in einem Laster. Eine Horde abgemagerter Hunde lief uns bellend hinterher, als könnten sie den Tod
wittern. Wir warfen ihnen faulige Speckstücke zu. Sie fielen gierig darüber her und blieben zurück.
Einige Soldaten spielten Poker um Opatija-Zigaretten und die Slibowitzration der Männer, die nicht von den Feldern zurückkehren sollten. Neben mir saß Vlado. Er war seit den ersten Gefechten an der Front. Sein Gesicht durchzogen dicke, tiefe, furchige Falten. Seine blauen Augen waren leblos, matt und ausgewaschen.
„Heute ist ein Tag für Helden“, sprach ich ihn an. „Mist“, antwortete er, ohne mich anzusehen. „Heute stellen wir uns dem Schicksal“, fuhr ich fort. „Junge, das Leben ist beschissen. Und irgendwann ist man tot“, erwiderte er und sah mich mitleidig an.
„Aber die Felder der Ehre, das Vaterland...“„Junge, die Hölle ist ein Ort hinter diesem Wasser“, unterbrach er mich und zeigte auf einen schlammigen Fluss, der sich in Schlangenlinien durch
das Tal wand und in einem dichten Fichtenwald verschwand. Ich schwieg.
Der schwere Helm drückte hart gegen meine pochenden Schläfen.
Die Erde unter mir war schwarz und nass und weich und tief.
Die Luft war erfüllt vom Pfeifen der Sprenggranaten, vom Peitschen der Kugeln, vom Dröhnen der Raketenwerfer. Mein Finger zitterte am glühenden Abzug. Mein Auge folgte einem Schatten, sein Kopf im Fadenkreuz meines Zielfernrohrs.
„Felder der Ehre, Vaterland, Felder der Ehre, Vaterland“, zischte ich und grub meinen Mund in den Schlamm und schluckte Brocken von dem Erdreich. Ich schwitzte. Ich fror. Eine eiserne Kette legte sich um meinen Hals, zog sich zusammen und schnitt mir die Luft ab. Mir schwindelte. Ich ließ das Gewehr fallen und wälzte mich im Morast. Ich kauerte mich wie ein verwundetes Tier auf dem Boden und hielt Anna in den Armen.
„Junge, Gott hat uns beschissen“, riss eine Stimme mich von Annas Wärme. Vlado kniete neben mir und reichte mir die Hand.
„Das Leben hat uns den Krieg erklärt, und wir müssen uns wehren“, fuhr er fort und half mir auf. Seine blauen Augen waren warm und weich.
Ein neuer Tag brach an. Mein Finger glühte am kalten Abzug Ein neuer Schatten tauchte hinter den Bäumen auf. Er robbte durch den Schlamm, versteckte sich hinter einem Felsbrocken und lief zum Fluss. Ich entzündete meinen Scheiterhaufen. Der Schatten taumelte. Er griff sich an die Brust, stürzte, zuckte und blieb regungslos liegen. Eine rote Sonne wuchs auf seiner Jacke.
Ein höhnisches Lachen schallte über die Felder. Ich stopfte mir Schlamm in die Ohren, drückte sie mit den Händen zu und stammelte:
„Tod, du Verführer, dein Hochmut gebührt dir nicht.“
Ich bin ein Schattenmensch. Ich tötete. Ich mischte Blut in Ströme  von Tränen. Ein Friedhof der Namenlosen legte sich über die Felder der Ehre. Über ihnen wanderte die rote Sonne und grub ihre
Strahlen in meinen Hochmut. Es folgten neue Tage, neue Schatten.
Unsere Blicke trafen sich. Ich sah sie am saphirblauen Fluss stehen. Ihre Anna in den Armen. Lachend, scherzend, stöhnend, mit ihren ungeborenen Kindern in den Augen.
Goran schlug die ‚Wahrheit’ zu und schleuderte sie gegen die Wand. Er nahm die Slibowitzflache und zerschlug sie an der Tischkante. Den Flaschenhals rammte er in die rechte Hand und
Blut schoss dick und zäh heraus. Er ging zum Fenster und drückte die Hand gegen die Scheibe. Sie hinterließ einen dunklen, feuchten Abdruck auf dem Glas. Blitze zuckten am Himmel und rissen die Nacht in Stücke. Er verlor die Welt und seine Lügen widerten ihn an.
Mit der ‚Hoffnung’ in den Händen kauerte er in einer Ecke auf dem Fußboden. Blut lief den Füller hinunter, tropfte auf das Papier und vermischte sich mit der Tinte. Er floh, er schwieg, er schrieb:
Ich war so schwer an Leib und Seele verletzt, dass ich unverwundbar wurde. Annas Küsse unter dem Mandelbaum waren wie Wasserfälle und löschten jede Nacht den Scheiterhaufen.
Mein ganzes Leben war ich einsam, außer in Annas Armen. Und sie stieß mich ins Nichts. Vor drei Tagen, vier Stunden und siebenundzwanzig Minuten brannte der Brief in meinen Fingern, in meinen Augen. Ein einfacher, weißer Umschlag. Einfache, blaue Tinte. Zwei einfache, kurze Sätze. Annas Lachen erloschen. Die rote Sonne auf ihrer Brust. Annas Augen verglüht. Die Erde getränkt mit Anna. Der Mandelbaum nur noch ein verkohlter Stamm.
Ein Holzkreuz schreit meine Wut in die Welt. Nicht mal Hoffnung  kann mich bestechen.
Goran legte das Tagebuch auf den Fenstersims. Er ging zum Schreibtisch, öffnete die Schublade und nahm eine Pistole heraus.
Er schaute in die Mündung und suchte nach einer Antwort.
Er hasste das Leben. Das Leben hasste ihn. Er sehnte sich nach dem Tod. Der Tod hasste ihn. Aus der Hosentasche zog er eine Streichholzschachtel. Auf ihr prangte ein Marienbild. In der Schachtel bewahrte er die Pillen auf. Ecstasy, LSD, Schlaftabletten.
Er steckte Maria in den Mund, kaute langsam und schluckte den zähen Brei hinunter.
Das Leben schmeckt nach Tod’ schrieb er mit blutigem Zeigefinger auf die Tischplatte. Er packte die Sanduhr und drehte sie mit zitternder Hand auf den Kopf. Fünfzehn Minuten.

Samstag, 15. Januar 2011

Brigitta Weiss: Vier Ecken

Vier Ecken
Die Tagwelt meines Kindes hat vier Ecken,
in denen kann es sich gekonnt verstecken,
in denen müllt es sich behaglich ein.

Hier kann es spielen, schmollen, heimlich naschen,
Schätze vergraben aus den Hosentaschen,
und manchmal schläft es dort im Sitzen ein.

Und wenn dann kleine Freunde es besuchen,
gibt es in einer Ecke Saft und Kuchen,
in die drei anderen verreist man dann.

Sie sind jetzt Meer, Gebirge oder Wüsten,
wohin sie brummend mit dem Flugzeug düsten,
und wo man sie nicht mehr erreichen kann.

Vier Ecken braucht das Kind, sich wohlzufühlen,
vier Ecken, um sich mollig einzuwühlen,
benutzt sie bald als Höhle, bald als Nest. 

Ich wünsche ihm für zukünftige Zeiten,
dass man ihm stets die vier Geborgenheiten
In seinen eigenen vier Ecken lässt.

Freitag, 14. Januar 2011

Jaron Gunda, eiskalt

Nein, lass nur ...
Ich brauche kein flackerndes Kaminfeuer.
Nicht die Kühle im Raum
lässt mich erschaudern.

Nein, lass nur ...
Ich brauche keinen wärmenden Mantel.
Nicht der eisige Januarwind
ist schuld an meinem Frösteln.

Nein, lass nur ...
Ich brauche keinen heißen Tee.
Nicht die Erkältung
bringt mich zum Zittern.

:

Der Blick in die Zeitung ist es,
der mich frieren lässt:

angstvolle Augen,
deren Tränen ich nicht trocknen kann,
aufgerissene Münder,
deren Schreie mir in den Ohren dröhnen,
trauernde Mütter,
die ich nicht tröstend umarmen kann,
denn es gibt keinen Trost.

Frieden ist es, den wir brauchen.
Oder wenigstens die Hoffnung darauf.

Kannst du mir die geben?
Nein? Dann lass nur ...

Donnerstag, 13. Januar 2011

Ursula Gressmann: Wieder zu Hause

Du fängst den Wind ein
mit deinen Haaren
deiner Haut
der heiß aus den Bergen
in die Steinwüsten
hinunter weht
und ich spüre ihn
jetzt auch
schmecke ihn
halte dich fest
in meinen Armen
damit du ausruhen
vorübergehend
die dunklen sternlosen
Nächte
das vergossene Blut
vergessen kannst

mein Liebster

Mittwoch, 12. Januar 2011

Hung Gurst: Moru, der kleine Elefant

Moru, der kleine Elefant
Abermals haben die Elefanten mich gerettet. Ich meine, indirekt haben sie mich gerettet.
Es war an einem Sonntag, ein paar Tage nach der Öffnung der Grenze zwischen West- und Ostberlin, ich fuhr von Berlin nach Leipzig. Vorher hatte ich mir die Mauer angeschaut. Mit gemischten Gefühlen saß ich allein in einem Abteil und dachte über das, was in Deutschland gerade passierte, nach. Ich verstand sehr gut, das die Deutschen sich freuten. Auch ich hatte dieses enthusiastische Gefühl gehabt, als mein Land vereinigt wurde... Und doch hatte ich schon damals ein wenig Angst gehabt und hatte mich oft gefragt, wie wir mit unseren Brüdern und Schwestern aus dem kommunistischen Norden zusammenleben würden, nach so vielen getrennten Jahren. Aber was jetzt hier in Deutschland passierte, war anders als damals bei uns: Hier hatte die
Demokratie gesiegt. Und wie die meisten Ostdeutschen, liebe ich die Demokratie.
Während ich da allein die Demokratie feierte, öffnete sich plötzlich die Tür. Vier Männer standen vor mir. Ohne mich zu fragen, ob noch frei wäre- als brauchten sie das nicht, denn hier ist doch ihr Zuhause. Ohne einen Guten Tag!- setzten sie sich und fingen an zu rauchen.
Ihrem Aussehen nach vermutete ich, sie seien Westdeutsche. Sie waren sehr gut gekleidet. Aber dann musste ich an ihrer Haltung und ihrer Sprache feststellen, das sie Sachsen waren. Weil ich die Demokratie liebe, liebte ich auch die Sachsen, denn dort hat ten die Menschen, in Leipzig, für die Demokratie gekämpft. Die
Männer wurden mir irgendwie doch sympathisch und ich bewunderte sie. Ich lächelte.
"Was grinst der denn so?" fragte einer der Männer. "Guten Tag", sagte ich. Ich wollte sie ansprechen und die Freude mit ihnen teilen. Es freute jeden zu sehen, wie die Ostdeutschen sich so frei im anderen Teil ihres Vaterlandes bewegen könnten. Ja, sie hatten die Freiheit gewonnen. "Wenn der mich weiter so anglotzt,
schmeiße ich ihn gleich raus", sagte der junge Mann in Bomberjacke. Oh Gott, ich habe einen Fehler gemacht! Ich hätte nicht lächeln sollen.
„Eh, Fidschi, was machst du bei uns in Deutschland?" Damit meinten sie mich, denn die meisten Ostdeutschen glauben, alle Asiaten kommen aus der Fidschiinsel, und wissen nicht einmal, das die Indianer doch aus Asien kommen und nicht umgekehrt.
„Ich studiere hier in der DDR.
„Du, studieren? Na was denn? West- Geld vielleicht?
Noch nie zuvor hatte man mir so eine schwierige Frage gestellt. Ich musste sehr lange überlegen. Wäre ich ehrlich gewesen und hätte gesagt, dass ich Germanistik in Leipzig studierte, wäre es zu arrogant und zu intellektuell gewesen und das hätte als eine neue Provokation aufgefaßt werden können. Da sah ich plötzlich
das Bild in dem Abteil, ein Werbebild von Kitekat.. Ja warum war ich nicht sofort darauf gekommen? Die Deutschen sind doch wegen ihrer Tierliebe in der ganzen Welt berühmt.
„Ich im Zoo studieren. Elefanten", sagte ich schnell. Ich wusste nicht, warum ich die Elefanten gewählt hatte, ich hätte auch Schäferhunde oder Schwäne studieren können.
„Was? Elefanten? Diese Riesen? Ach was", sagte der Ältere von den vieren, der eine Krawatte mit der Farben schwarz- rot- gold trug, "wo kommst du her? Aus Indien oder Afrika?
„Ich aus ...Nepal. Weit", log ich. Ich konnte nicht anders. Ich liebe zwar meine Heimat, aber bei mir zu Hause gibt es ja zu wenig Elefanten. Sind wegen des Krieges fast ausgestorben.
„Wo ist das?
„Himalaya. Große Berg von ganzen Welt. Mein Opa immer die Europäer den Weg zu Himalaya zeigen. Und sie meinem Opa Geld geben. Und ich dann studieren.
„Nach der Währungsunion möchte ich auch mal hin. Ich will auch mal hochklettern auf dem Himalaya." sagte der eine.
„Warum studierst du Elefanten? Gibt es sie nicht bei euch?" fragte der Jüngere.
„Oh, bei uns viele Elefanten. Ich habe fünf, mein Opa haben neun... Aber meine Elefanten sehr lieb. Ich habe Mama Elefant und Papa Elefant und drei Elefantenbaby. Doko, Karu und Moru und Moru zwei Jahre alt, mein Darling.
„Aber, warum studierst du hier bei uns in Deutschland Elefanten, wenn es bei euch so viele gibt?
„Elefant im Zoo sehr gut Disziplin. Ich Disziplin für Elefant studieren.“
„Siehst du, überall wird unsere Disziplin hochgeschätzt. Selbst im Urwald", sagte der Alte mit der Krawatte und wandte sich neugierig zu mir: "Aber sag mal Kleiner, was fressen die Elefanten so, ist das nicht zu teuer, einen Elefanten zu ernähren?“
„Sie immer Gras essen, kein Geld... Und sie arbeiten im Wald sehr fleißig.“
„Und die Babys, was fressen die da? Können sie auch arbeiten?" fragte der Junge mit der Bomberjacke.
„Nein, Moru nicht arbeiten. Moru warten auf mich. Ich komme zurück und lehren Moru Disziplin, dann Moru gut arbeiten. „Viele von euch studieren Elefanten hier?" wollte einer wissen. „Nein, nur zwei...", log ich. Persönlich hatte ich noch keinen Nepalesen in der DDR gesehen.
„Es sind relativ wenig hier, bei uns", sagte der Alte. „Aber was anderes, wie kriegen die Elefanten ihre Kinder?" fragte einer.
„Elefanten sind sehr klug, nicht Krieg mit ihrer Kinder..." stellte ich mich dumm an.
„Nein, er meint nicht Krieg machen. Sondern lieben, wie Elefanten Liebe machen?" korrigierte der Jüngere.
„Ah, sehr interessante Frage...", sagte ich nachdenklich, um Zeit zu gewinnen, denn ich selbst wusste auch keine Antwort. Ich hatte Elefanten auch nur im Zoo gesehen. Nach ein paar Sekunden hatte ich die Antwort gefunden und fuhr fort: "Die Elefanten immer schämen, nicht zeigen, wie sie bum bum machen. Aber alte Menschen erzählen, Elefantenmann und Elefantenfrau suchen ein Gefälle. Die Elefantenfrau stehen unten, und lehnen die Schultern an einen großen Baum und Elefantenmann laufen schnell von oben und springen auf seine Frau. Und wenn der ganzen Wald wackeln, dann weiß man, dass die Elefanten bum bum machen..." Ich schämte mich, die Elefanten so blöd darzustellen, aber ich hatte gar keine Wahl. Ich hatte doch angegeben,
ich studiere Elefant und außerdem wollte ich nicht rausgeworfen werden.
„Ich habe auch gehört, sie machen es im Wasser...", sagte einer.
„Ja, auch, aber bei uns auch im Wald... Und anders" sagte ich.
„Na, klar", stimmte der Alte zu, "jeder macht das anders. Du machst es auch nicht wie ein Neger oder?
„Sie lachten und unterhielten sich mit mir, erzählten mir von ihren Haustieren, von Hund, Katze, Goldfisch und der einer hatte einen brasilianischen Papagei. Ich versuchte mich an die Geschichten über Elefanten, die ich als Kind gelesen hatte, zu erinnern. Auch von den Hängebauchschweinen erzählte ich.
Langsam hielt der Zug an. Endlich war ich in Leipzig angekommen.
„Tschüss", sagten sie. Sie fuhren weiter.
„Wiedersehen, ich wünsche Ihnen alles Gute und viel Erfolg in einem neuen Deutschland...", sagte ich, und dabei hatte ich vergessen, das ich gebrochen Deutsch hätte sprechen sollen. Aber es fiel ihnen nicht auf.
„Viele Grüße an Moru, wenn du zu Hause bist" sagte der Jüngere mit der Bomberjacke.
„Moru?" Ich war erschrocken, hatte beinah vergessen, was Moru heißen sollte. "Ja, mein Elefantenjunge. Ja Moru, der hat mir das Leben gerettet.
„Ich sah, wie ein Zug von dem Gleis nebenan langsam abfuhr und hörte junge Menschen singen und rufen: " Deutschland, Deutschland...". Wahrscheinlich spielte an diesem Tag die Oberliga.
Aber wohin der Zug fuhr, wusste ich nicht.
Ich dachte nur noch an Moru, den kleinen Elefanten...