Freitag, 30. Juli 2010

Cordula Simon (Schweiz): Drinnem im Außen


Die Menge würde sich auflösen. Ich war draußen gewesen. Wie es dazu kam, war schwer zu erklären, hätte ich doch auch drinnen sein müssen, in dem Bus. Wir waren mit der Großmutter hergekommen, das Schwesterchen und ich, weil dort der Großvater lag. Wir wussten auch nicht mehr darüber. Über Ljvov. Da lag der Großvater. Das hatte man uns allerdings schon immer gesagt. Das wussten wir sicher. Jedenfalls war ich draußen. Und es hatte keine Möglichkeit gegeben zurückzu kommen, denn sie hatten sich um den Bus gedrängt. Zum Bus gedrängt. Die Löwen zeigten ihre Zähne. Ich konnte nicht durch, konnte auch nicht Schreien, nicht Sprechen, sonst hätten sie gewusst, dass ich draußen war und nach drinnen gehört hätte. Auch nicht, als ich die Schwester weinen sah. Die Großmutter weinte nicht. Die Alten im Bus weinten alle nicht und das waren sie alle, außer der Schwester. Sie hatten nutzlosen Geschmack von Tränen vergessen. Ich war aus dem Bus gestiegen, war aus dem Bust gestiegen, als die Frau mit der Kamera in den Bus kam und einer der Veteranen undeutlich in die Kamera sprach. Er hatte doch kaum noch Zähne. Von der Hitze des Busses in die frische Mailuft, zu unfrischen Toiletten, dich ich niemals fand. Wir haben den Großvater nicht gekannt. Ein Unbekannter, den wir an jedem neunten Mai besuchten. Ich wollte, als sie kamen, noch immer zurück zu dem Bus, die anderen wichen bereits zurück, weil sie begonnen hatten ihnen die orange-schwarzen Schleifen abzureißen, auch meine hatte ich verloren und die Orden von der Brust zu rupfen. Die Milizija war ihnen gegenüber nicht lange in Reihen gewesen. Nelken sollten dort liegen, ich hätte Nelken hinlegen sollen, am Grab des Unbekannten Soldaten. Sie stampften, klatschten. Trugen schwarze Tücher vor dem Mund, Kranken- und Totenkopfmasken. Lenin lag schon lange mit dem Gesicht auf der Erde, den Hinterkopf zerschmettert. Hätten wir doch in Sevastopolje sein können, wo sogar Stalin von Plakaten grinsen darf. Das Ukrainische klingt fremd, dabei soll es dem Russischen so ähnlich sein, die Parolen klingen fremd, lärmen zwischen den aneinandergeschmiegten zornigen Körpern durch. Die Medien würden spekulieren, es müsse an der Trunkenheit, am Alkoholausschank an diesem Feiertag gelegen haben. Meine Großmutter trägt ein russisches Kopftuch. Die draußen tragen Kapuzen. Das Ukrainische klingt dumpf, wie das Schlagen gegen die Scheiben, der Hitlergruß klingt gar nicht, aber ich kann ihn hören, vor und hinter mir. Ich bin gefallen, während das Schwesterchen weinte, die Großmutter nicht. Ich bin gefallen. Als die Schießerei losging, war ich schon nicht mehr dort. Sie hatte schrill in die Trommelfelle geschnitten. Getrommelt, geknirscht, gekracht. Ein Kratzen von Kreide auf der Tafel, lauter, sollte eine Lehre sein. Die knackende Knochen der Neunzigjährigen im Bus, der Schwester im Bus, konnte man im blechernen Lärm nicht hören. Das war der friedlichste Moment, der stillste, nachdem der Bus umgestürzt war. Die Menge sich verblies in der Stadt. Im Russischen Fernsehen würde man es vielleicht zeigen. Im Ukrainischen nicht. Nicht Ukrainisch mit russischen Untertiteln, nicht Russisch mit ukrainischen Untertiteln. Von mir würde man wohl sagen, dass ich verlorengeganen sei. In dem Getümmel. Die Menge hatte sich zersetzt.


(19,0 P.)

Donnerstag, 29. Juli 2010

Angelika Neumann: Leben danach

Seit zwei Stunden saß die Großmutter stumm im Sessel und träumte. Wenn sie so da saß, ihre Augen geschlossen zum Himmel richtete, durfte Susann sie nicht stören. Dann träumte sie von einer glücklichen, farbenprächtigen Welt. Von einer Welt, die sie als junge Frau noch kennen gelernt hatte, bevor der Atomkrieg ausgebrochen war. Der blaue Planet verwandelte sich binnen kurzer Zeit in ein Reich des Todes.

Susann hatte die Welt von ihrer Großmutter nie kennen gelernt. Sie kannte nur die jetzige, die vergiftete, mit ihren verkrüppelten Gestalten in der der Tod allgegenwärtig war. Es war eine Welt ohne Jahreszeiten, denn jeder Tag war gleich, grau und trüb.
Großmutter hatte ihr oft von früher erzählt, von dem Land wie es einst aussah. Einige Fotos aus dieser Zeit besaß sie noch. Sie waren das kostbarste was sie aus dieser Zeit besaß.
Auf einen der Fotos war ein Garten mit lauter bunten Blumen und Bäume voller Früchte, die Susann nie kennen gelernt hatte. Die Blumen waren Gerbera, Astern und Rosen, die Früchte Äpfel, Pflaumen und Kirschen. Wenn alles auf dem Foto schon so wunderschön aussah, wie schön musste alles in Wirklichkeit gewesen sein.
Einmal, da war Susann gerade 6 Jahre alt, in einem Alter, wo sie noch sehr wenig über die Welt wusste, fragte sie ihre Großmutter, ob sie nicht dorthin fahren konnten, wo der wunderschöne Garten war. Da weinte die Großmutter sehr und meinte nur, das geht nicht. Dann forderte sie Susann auf, aus dem Fenster zu sehen, denn dort wäre der Garten.
Susann schaute hinaus. Sie sah nur aschgraue Erde, gespenstig aussehende Bäume mit verkrüppelten Früchten und kahle Äste, so etwas wie Blumenstängel aber ohne Blüten.
Damals war Susann wütend über die Antwort ihrer Großmutter. Erst viel später begriff sie, dass dort, wo sie hinsah, einst der herrliche Garten war.
Großmutter träumte und Susann dachte nach, über ihr Leben, und darüber, dass sie in zwei Tagen 15 Jahre alt werden würde.
Das kostbarste in ihrer Welt war trinkbares Wasser. Früher soll es davon genug gegeben haben. Man brauchte nur den Wasserhahn aufzudrehen, dann floss es reichlich und jeder konnte es trinken.
Das Wasser, das die Menschen heute tranken, wurde entgiftet. Es flöss nicht aus dem Wasserhahn, denn die Herstellung war sehr teuer. Die Menschen bekamen es daher nur auf Zuteilung.
Großmutter hustete. Sie litt an Lungenkrebs und Hautkrebs. Der Hautkrebs hatte sie völlig entstellt. Von einen ihrer Jugendfotos wusste Susann, dass sie einmal sehr schön gewesen war.
Die Kinder, die jetzt geboren wurden, haben keine Schönheiten an sich kennen gelernt. Alle waren leidend und durch Gendefekte entstellt.
Als Susannes Mutter erfuhr, dass sie schwanger war, wollte sie das Kind nicht haben, weil sie wusste, sie würde wie alle anderen Frauen, doch nur ein verkrüppeltes Kind zur Welt bringen. Aber die Ärzte sagten, sie müsse das Kind bekommen, damit der Mensch nicht ausstarb.
Irgendwann, vielleicht in 2000 Jahren, wenn die Radioaktivität so gering geworden ist, dass sie den Menschen nicht mehr schadete, würden auch wieder gesunde Menschen geboren, daran sollte sie jetzt denken.
Die Mutter von Susanne starb, als sie gerade zwei Jahr alt war. Sie hatte es nicht verkraftet, ein verkrüppeltes Kind zur Welt gebracht zu haben. Susann fehlte ein halber rechter Arm, eine Niere arbeitete nicht richtig und sie hatte nur ein Bein. Ihr Vater starb drei Jahre später an Leberkrebs. Seitdem lebte sie bei der Großmutter.
Wie gern hätte Susann ihren Eltern gesagt, dass sie trotz ihrer Gebrechen froh war zu leben. Sie hätten ihnen erzählt, dass sie einen Jungen kennen gelernt hatte, den sie sehr mag und der sie mag und dass sie heiraten wollten und viele Kinder zur Welt bringen wollten, in der Hoffnung, dass eines ihrer Kinder überleben würde, damit der Mensch nicht ausstirbt.
Manchmal lief Susann in Gedanken durch einen Wald mit lauter verkrüppelten Bäumen, die kaum Blätter an den Ästen trugen, über aschgrauen Boden, hin zu den Feldern. Sie wurden Tag und Nacht bewacht. Hier wuchs Korn, oder so etwas Ähnliches. Zur Aussaat kamen die Menschen und legten jedes Korn einzeln in die Erde, damit keines verloren ging. Später, wenn die Saat aufgegangen war, kamen sie wieder, um jeden Unkrautstängel einzeln herauszuziehen. War das Korn ausgereift, kamen die Menschen wieder, um jeden Halm einzeln zu bergen. Wenn das Korn ausgedroschen war, wurde daraus karges, bitteres Brot gebacken. Ein Brot, das nicht schmeckte, ein krank machendes aber sättigendes.
Als Großmutter noch gut zu Fuß war, fuhr Susann in ihrem Rollstuhl oft mit ihr zu den Feldern und half ihr bei der Arbeit. Sie reichte ihr dann die Körner.
Es war für Susann dann immer wieder aufregend, wenn die Älteren von früher erzählten, von Menschen und Dingen, die ihnen damals wichtig waren.
Susann versetzte sich in die Zeit zurück, von der sie so viel gehört hatte. Sie lief über blühende Wiesen, Schmetterlinge flogen von Blume zu Blume, in der Ferne plätscherte ein Bach. Sie las in ihrer Phantasie die Romane von Tucholsky, Strittmatter, sah Theaterstücke von Shakespeare und Goethe, lauschte den Sinfonien von Mozart und Händel, wandelte durch prunkvolle Schlösser, ging durch die Bildergalerien, philosophierte mit Studenten über die Zukunft der Menschheit, wie es sein würde, wenn alle Völker untereinander in Frieden zusammen lebten, ja sie stellte sich vor ein Teil dieser Welt, der Welt ihrer Großmutter zu sein.
Doch alles wovon sie träumte gehörte zur Vergangenheit. Es hatte für die Menschen jetzt keine Bedeutung mehr im Kampf um das tägliche Überleben.
Aufgewühlt durch ihre Träume fuhr Susann mit ihrem Rollstuhl zum Fenster, in der Hoffnung da draußen in dem Garten vielleicht doch ein kleines grünes Pflänzchen zu entdecken, um so der anderen Welt nahe zu sein. Lange schaute sie hinaus und suchte mit ihren Augen jeden noch so kleinen Winkel ab. Da, war da nicht etwas, Grünes? Tatsächlich, ein ganz kleines grünes Blättchen schob sich unter einem kahlen Ast hervor. Aufgeregt, versuchte sie sich in ihren Rollstuhl aufzurichten, um es näher zu betrachten. Sie bewegte sich dabei so heftig, dass sie vor Schmerz einen kleinen Schrei von sich gab und sie befürchtete, dass sie die Großmutter dabei geweckt hatte. Es war ein stechenden Schmerz in ihrer Brust.

Wenige Augenblicke später. Grabesstille breitete sich im Raum aus, die nur durch das Röcheln der alten Frau unterbrochen wurde.

Als die Großmutter nach einer Stunde aufwachte und zu ihrem Enkelkind herüber schaute, sah sie, dass Susann schlief. Ihr schien es, als ob sie lächelte. Sie lächelte noch im Tod.



(18,7 P.)

Mittwoch, 28. Juli 2010

Helga Fricker: Kindheit.


Ein warmer Tag im Februar 1945 auf einem Bauernhof in Niederbayern. Die Bäuerin, hochschwanger, versucht ihr drittes Kind, ein kleines eineinhalb Jahre altes Mädchen, das schreit, zu beruhigen. Es gelingt ihr nicht. Sie hat wenig Geduld und wenig Zeit. Der Großvater im Zimmer über der Küche ist bettlägerig; er hat schon ein paar Mal ungeduldig mit seinem Stock auf den Boden geklopft, damit man es in der Küche hört und kommt. Wenn die Kinder älter wären, könnte man eines hinaufschicken, den Großvater zu fragen, was er braucht. Er will nicht, dass die Magd kommt, sie verstehen sich weder sprachlich noch vom Temperament her. Sie ist ein Flüchtling, hat mit ihren 24 Jahren anderes im Kopf als den alten Mann, der diesen unverständlichen niederbayrischen Dialekt spricht und unfreundlich ist. Die Bäuerin will mit ihrem Bauch nicht schon wieder die Treppe hinauf rennen. Wenn sie wüsste, warum das Kind schreit. Hat doch getrunken. Vielleicht hat es Bauchweh von der verdünnten Kuhmilch, die sie dem Kind mit Haferflocken angedickt hat. Als ihr Mann in die Küche kommt, legt sie ihm das Kind in den Arm. Gern trägt er es und wiegt er es bis es einschläft. Er mag kleine Kinder, ist ein geduldiger Tröster.
Als das Kind in seinem Arm einschläft, ist er richtig glücklich. Er bettet es aufs Sofa,
dreht einen Stuhl mit der Lehne so davor, dass das Kind im Schlaf nicht herunterfallen kann. In diesem Augenblick kommen die sogenannten Fremdarbeiter von den Feldern zurück. Lärmend. Er versteht nicht, was die Polen sagen. Wenn sie bloß nicht das Kind wieder aufwecken. Er wendet sich an einen, von dem er glaubt, dass er gut deutsch kann. Schreit nicht so! Weckt mir das Kind nicht auf!
Der junge Pole, müde und durstig von der Arbeit, gibt das an seine Kumpel weiter. Wut und Zorn. Was hat ihnen dieser Bauer für den sie schuften zu sagen? Der hat Frau und Kind, sie haben nichts. Alles weit weg. Alles verloren. Wer wird bei ihnen zuhause die Arbeit machen und Kinder auf den Arm nehmen? Sie gestikulieren. Verstärken sich in ihrem Zorn. Einer wird angerempelt, stolpert. Wer war das? Der Bauer, dieser Ausbeuter? Darf der sich das erlauben, jetzt, wo der Krieg bestimmt bald zu Ende sein wird und vielleicht sogar Gerechtigkeit wieder hergestellt werden wird? Das müssen sie sich jetzt nicht mehr gefallen lassen. Den machen wir heute noch kalt sagt einer.
Dann auf einmal Sirenengeheul. Fliegeralarm. Alle drängen in den Kartoffelkeller. Man wird sich doch nicht in diesen letzten Monaten oder Wochen von Bomben umbringen lassen, die für die Deutschen gedacht sind.
Das Kind schläft auf dem Sofa. Die Bäuerin fährt mit dem Fahrrad zu einem Bekannten. Schildert die Stimmung auf dem Hof. Die wollen meinen Mann umbringen. Die sind wütend und aufgebracht. Ihr Mann ist in den nahen Wald gerannt. Dort will er erst mal bleiben. Seine Frau kennt das Versteck.
In der folgenden Woche fahren Lastwagen vor. Sie nehmen die sogenannten Fremdarbeiter mit. Die Bäuerin ist erleichtert.
Ich bin das kleine Mädchen von damals. Ich lebe noch. Ich weiß nicht, wohin die jungen Männer aus Polen gebracht wurden.    


(18,6 P.)

Dienstag, 27. Juli 2010

Aline Gallas: Unbeschreiblich + Mein persönlicher Frieden

Unbeschreiblich

Mehr als Worte aus Schaum
auf trockenen Augenlidern.
Frieden ist,
einmal im Jahr spenden.
Um zu vergessen, wofür.
Frieden ist,
unsere Worte füreinander,
die auch unausgesprochen Sinn machen.
Frieden ist träumen
in schlaflosen Nächten.
von Dingen und Wundern,
die wirklich keine Bezahlung erwarten.
Frieden ist,
Glauben an Menschen,
die meinen was sie sagen.
Das Spielen im Garten,
es wird wieder modern,
fernab der monochromen Hightech-Realität.
Die Fiktion schlägt die Wirklichkeit,
wieder um längen,
wenn die Kinder glücklich in Fantasiewelten leben.
Frieden ist mehr,
als ich beschreiben kann.


Mein persönlicher Frieden

Aus einem Becher schlürfend
dem Tag entgegen treten.
Auf warmen Asphalt
mit echtem Lächeln.
Mich entscheiden können,
was ich tue,
was ich sage,
was ich denke.
Die Türen sperrangelweit geöffnet.
Beine die mich sicher tragen,
egal in welche Richtung.
Sonnenschein auf Schulterblättern,
die beim Lachen zucken.
Einfach einen Moment,
alles Leid der Welt vergessen,
das Leben feiern,
obwohl es ungerecht ist
und dankbar sein.
Dabei dem Tag entgegen treten,
aus einem Becher schlürfend.


(19,3 P.)

Montag, 26. Juli 2010

Benedikt Behnke: NAhTOderfahrung


Einen Gürtel wolln sie schließen,
noch mehr Öl ins Feuer gießen,
sich umwaffnen mit Raketen,
während andre Leute beten.

Keiner denkt an Konsequenzen,
nur an terrorsichre Grenzen,
alle wolln sie sicher gehn,
ohne dafür einzustehn.

Und am Ende bleibts dabei:
wer einmal zur Waffe greift,
wird vom Andren eingeseift!


(19,3 P.)

Sonntag, 25. Juli 2010

Heidrun Schaller: Ravensbrück I + II

KZ Ravensbrück I

in abweisenden
Beton
geritzt
eine Spur
vom erlöschenden
Leben
Worte
ohne Hall
unter Spinnweben
verborgen
Zeugnisse
eines Herzschlags
Verfall
und Auflösung
verlieren sich
unter wildem
Gras
dort
wo noch
Leben
Pulst




KZ Ravensbrück II


aus der Aschensäule
fallen
bleiche Knochen
und rote Tränen
fällt
ein liebevoller
Blick
auf mich
das Überlebenskind
unter
dräuenden Wolken
im Mondschatten
der ewigen
Nacht

ein langes
langes
poetisches
Vergessen
prangert
das Unheil
Krieg
und sinnlos geopferte
Leben
nicht an
ergießt sich
in gefälligen
Applaus
auf den
mein Zorn
fällt
und ich lache
Bajazzo
lache schrill
und rot
in diese
schlafenden
Geister


(19,3 P.)

Samstag, 24. Juli 2010

Katrin Wehmeyer-Münzing (2 Gedichte)


Plädoyer für unfriedliche Wünsche


kaum dass ich den Zwinger öffne
schon braust
jaulend
meine Meute
unterdrückter Wünsche los
wie entfesselt
toben
die Rabauken

hinter solcher Raserei
die Sehnsucht
starke Arme
statt Bestrafung
Halten
statt Verbannen
Anerkennen
statt Verfolgen

rasch besänftigt
meine Meute
das Getose legt sich
nur noch ausnahmsweise
Angstgebeiße





Der Runde Tisch - daheim


Heldentaten
redundant
vom Großvater
aufs Tapet gebracht
entzückend
aus Großmutters
Nähkästchen
romantische Verse
Schmeicheleien
in Muttis Ohr
gesäuselt
dem Vati aber
untertänigen
Beifall gezollt
hinter vorgehaltener Hand
das Gekicher
der Schwester

mir aber
hat es
die Sprache
verschlagen


( 19,3 P.)

Freitag, 23. Juli 2010

Monika Vasik (Wien): zu eigen nutzen


damit es besser liefe
würde ein schräubchen da
würde ein rädchen das
kann man sich börsen
es heiligen mächtig sich
alle mittel steuern
wie kurse kopfüber uns
um den hals spekulieren
auf und ab ein gewühl
aus dem bauch werden
jene platzenden blasen
angsthasenherzend
naturgemäß schwankend instru
mentiert das wort krise
angeheitert zum blitz
aus den weiten des himmels
heilige apathie kein
kleinster gemeinsamer nenner
zu kriegen in den volks
wirtschaften wohl habend
gleichermaßen vereinzelt
wie auf verlorenem posten
ja wären diese weltweit
wenigstens einmal schluss
folgernd wären gemeinsam
präzis wären folgernd endlich
folgerichtig

(19,3 P.)

Mittwoch, 21. Juli 2010

Peter Kraus: Fliesbandfrieden

1)

Wieder Frieden.
Wieder auf Papier.
Aber das reicht nicht.
Er muss auch raus aus den Büchern
und rein in die Menschen.

2)


Von Frieden zu sprechen ist wie von Essen zu träumen.
Es ist schön, aber es macht nicht satt.
Und wer nicht satt ist, der hungert,
und wer hungert, der Kämpft ums Überleben.


3)

Friedfertig sind wir.
Wir fertigen den Frieden
in großen Fabriken,
exportieren ihn.
Notfalls auf Kredit!
Fließbandfrieden.

(19,3 P.)

Grossmann, Ulf: Bilder u.a.

Bilder

er schlug seine Frau vor dem Fernseher
grüne Bilder von einschlagenden Granaten
hart im Nacken fasste er und im Fernseher
gratulierten lächelnde Anzüge einander
bat sie um Frieden vor dem Fernseher



Anteilnahme


an den Gräbern mit zwei Beinen zwei Armen
passende Geschichtsverstärker in den Mienen
von denen die sich um den Minenverkauf kümmern
stehen sie - die für jeden falschen Kniefall zu haben
sind sie betroffen nicht getroffen vom eigenen Trommelfeuer
das ihre Brieftaschen bis in die Arschbacken hinein auswölbt


dein Kind

ist in Afghanistan
ein Blutstrauß in der Vase
auf dem Tisch sein Bild
Rosen


(19,3 P.)

Dienstag, 20. Juli 2010

Ursula Gressmann: Mahnung


schlammschmatzend
staubtrocken
unter apfelbäumen
oder zypressen
dem tod
ist es gleich
wo er ernte hält
auf straßen
zwischen mauern
ist kein platz für
mahnmale
blut fließt überall rot
und
wenn schüsse fallen
gilt das wort frieden
nicht mehr