Donnerstag, 31. März 2011

Eckhard Weise: Septemberlied

wenn Luren trompeten
das Signal Überfall
wenn Glocken einläuten
das Ende vom Frieden
und Gleise  im Takt ihn
zu Öfen verbringen
 
lasst einschmelzen uns das Metall
um neue Verse zu schmieden
die etwas freundlicher klingen

Rainer Wedler: saubere Sache

              die saubere Bombe
wird
im Verteidigungsfall
flächendeckend
zum Einsatz kommen
 
eine optimierte Lösung
komplexer Problemsektoren
wie
Minuswachstum
und
der daraus resultierenden großdimensionierten Freisetzung von Arbeitskräftepontential
 
Pläne für eine evtl. spätere globale Revitalisierung
befinden sich
noch
in der Clearing-Phase

Etienne Weber: Mit dem Ende


Die erste Beretta lag in meinen Händen wie zu schweres Spielzeug. Ich stellte mir den Schuss vor, den Klang der Waffe. Meinem Ziel hatte man die Augen verbunden, ihm einen Knebel in den Mund gesteckt, damit er mich nicht erschreckte. Ich drückte mit dem Zeigefinger gegen den Abzug. Er rührte sich nicht. Mir fehlte noch die nötige Kraft oder die Entschlossenheit. Der Leutnant stand erbost auf und kam auf mich zu. Da versuchte ich es nochmal, mir blieb ja keine Wahl.



(21,0 P.)

Dienstag, 29. März 2011

Viktor Kirchgessner: Tagebucheintrag eines Eichhörnchens

> > >> Die Zeit ist still
> > >> und alles steht.
> > >> Das was ich will,
> > >> ist das was geht.
> > >>
> > >> Das was mal war,
> > >> ist nun verschwunden,
> > >> und was geschah,
> > >> wird nie gefunden.
> > >>
> > >> Der Baum ist weg, die Vögel tot,
> > >> Der Himmel schreit in seiner Not.
> > >> Man kann es drehen und auch wenden,
> > >> die schlichte Lüge kann nur blenden.
> > >>
> > >> Kein einziger ist jetzt noch hier,
> > >> kein einziger, nur ein Papier,
> > >> kein einziger, und darauf steht,
> > >> dass wohl die Welt bald untergeht.

Christina Telker: Frieden

Frieden wünsch ich dir im Kleinen
Frieden für die ganze Welt.
Kinder solln im Frieden spielen
unterm blauen Himmelszelt.
Frieden zwischen Kind und Eltern
Frieden zwischen Mann und Frau
Frieden auch im Arbeitsalltag
das der Tag erträglich sei.
Frieden auch mit deinem Nachbar
Frieden selbst mit deinem Feind.
Das vom Morgen bis zum Abend
Allen hell die Sonne scheint.
Frieden wenn nach langem Leben
du dann schließt die Augen zu.
Das dich keine Sorgen drücken,
dass du friedlich gehst zur Ruh.

Montag, 28. März 2011

Till O Thar: Und Friede auf Erden

 Nie mehr weinen 

 Nie mehr klagen

 Nie mehr Helden
 Zu Grabe tragen
 Frommer Wunsch
 Des Pazifisten
 Beim Anblick der
 Kondolenzlisten
 Auge um Auge
 Und Zahn um Zahn
 Kain erschlägt Abel
 Im Liebeswahn
 Und sind erst mal
 Die Brüder tot
 Färbt Schwesternblut
 Die Erde rot
 Das Morden hat am
 Achten Tag begonnen
 Jesus wird tot
 Aus der Krippe genommen
 Leben entsteht
 Und wird vernichtet
 Allmählich werden
 Die Reihen gelichtet
 Zurück zum Urknall
 Ist das Bemühen
 Als Fehlversuch wird
 Die Erde verglühen

Freitag, 25. März 2011

Lisa Kaltenbach: Frieden

weite Felder, leichenbedeckt
grauer Nebel, leere Stille
die weiße Fahne weht
 
Antiterrordatei: tausende Seiten
Gesetzte, Verträge, erzwungene Ruhe
die weiße Fahne weht
 
Frieden ist mehr, als nur kein Krieg
Frieden ist mehr, als nur ein Vertrag
weiße Fahne, nur Symbol
 
Frieden ist ein Lebensstil
die Entscheidung jedes Menschen
Symbole helfen keinem weiter
 
Lasst die Tauben fliegen!

Stefanie Jerz: TV Pueri Eterni

> Das war´s Jungs, jetzt bin ich weg!
> Ihr könnt mich: mit euren Katjuschas und Opfern,
> Katastrophen und Abzockgeschichten.
> Zwingt die welt in euern Schritt.
> Null Fortschritt, solange Angst regiert.
> Bedient nur den gemeinen Eierkratzer
> auf den Sofas dieser Welt.
> Denn solche schalten euch nicht aus,
> um rauszugehen, nachzusehn,
> geschweige denn zu tun.
> Kein Wunder das Jucken: Altes Spiel
> Airfix Forever!
> Der letzte Schritt zur Heilung wäre
> auszutreten aus TV.
> Was mich vertrieb?
> Der sanfte Rasierer für meine Beine
> ohne technische Details.

Donnerstag, 24. März 2011

Brunhild Hauschild: Trotz alledem

  „Noch steht der Hauptfeind im eignen Land“,

Völker wacht auf“ und „Krieg dem Kriege“,

ihr Arbeiter, reicht euch jetzt die Hand,

gemeinsam gehen wir zum Siege“.

In der Novemberrevolution

siegte die Internationale.

Für Karl und Rosa ein kurzer Lohn,

im Januar kam das Finale.

Ein feiger Mord ließ sie verstummen,

doch der Gedanke lebt weiter fort

im Volk. Es läßt sich nicht verdummen,

überall, egal, an welchem Ort.

Der Kampf für eine bessere Welt

kann oft blutig sein, nicht angenehm.

Arbeiterstolz, der zusammenhält

die Massen. Es heißt: „trotz alledem!“

Mittwoch, 23. März 2011

Karin Heinrich: Das Kapital

Lechzen Industriemagnaten
nach den Märkten, Öl und Stahl,
wie sie es schon immer taten,
häufen sie ihr Kapital.
 
Vollgepumpt bis an die Decke
wächst das Waffenarsenal,
aufgerüstet zu dem Zwecke,
Krieg zu führn fürs Kapital.
 
Höchstprofite zu erreichen,
dafür ist der Preis egal,
ohne Skrupel über Leichen
schreitet hin das Kapital.

In den fernen Schützengräben
wird serviert das Totenmahl,
beten Söhne um ihr Leben,
als ihr einzig Kapital.
  
Doch das Beten ist vergebens
und unsagbar ihre Qual…
In der Blüte ihres Lebens
sterben sie fürs Kapital.
   
Endet einst das Kampfgedröhne,
stehn vorm Völkertribunal
klagend die gefallnen Söhne,
richten sie das Kapital.

Dienstag, 22. März 2011

Enna Pertim VOR-ZEITIG

 Bei all dem Frühlingsblühen
das vor der Zeit begann
mag sich mein Herz
nicht recht entzünden

Ich höre unheilvolle Boten
mit uns gehen
all mein Ängsten
will nun nicht mehr enden

Der Himmel graut
in ständigem Verdichten
und um uns hält
lautlos und stumm
der Tod schon namenlose Ernte

Schon geht ein banges Weinen
durch die Welt
Vielleicht dass sich dem Rausch
der Wohlstandsklänge
doch noch ein neuer Geist
entgegenstellt
eh dieses Loch am Himmel
vernichtend auf uns
niederfällt
(in: 'Immer im Jetzt')

Montag, 21. März 2011

Willi Volka Hinter Palisaden

Meine Vögel
den Boden
weiden
an Bäumen picken
im Himmel kreuzen –
 
Bunter grüner
Stockwerksbau
im Überschallknall
wird Katze
Vogelschrei geweckt –

Auch hinterm Gartenzaun
Konflikt
kein Hindernis
hält Terror-Krieg zurück
meine Insel kein Versteck –
 
Sei auf der Hut
dass du nicht
Hasskörner sähst
rufst nach rohen Gesellen
Streit und Krieg aufweckst –
 
Unsere Vögel
Böden Bäume weiden
den Himmel kreuzen
pfeifen zwitschern überall
erschreck sie nicht!

Sonntag, 20. März 2011

Cenet Weisz: kriegserklärung

 könnte
  einer
  erklären
 
 was
  krieg
  wirklich
  ist
  
könnte
keiner
 mehr
  irgendwem
  den
  krieg
  erklären

Samstag, 19. März 2011

Angelika Zöllner: kopfüber

 kopfüber die fassaden
schlag ich mein angstherz auf
stoß’ ich mich wund
am brüchigen planeten
 
war’s das – drehten wir uns
neulich um die sonne?
 
geier und lämmer zugleich
sind wir rudel
schweigt die eigene stimme
 
hört’ ich doch die fische
aus den wassern steigen
und die bäume
aus den wurzeln brechen
 
hätt’ ich mut
für dich und mich
ein anfangswort.
(veröffentlicht in Granatapfelzeit, Verlag Neues Literaturkontor, Münster.)

Donnerstag, 17. März 2011

Slov ant Gali: Vavarin 1

 
Bombermäuler brüllten
Still gestanden!
Denken
setze
aus!
 
Hoffnung auf
Gemeinschaft
verschiedener Völker
starb
mit entnommenen Organen
 
Heute ist
Bombendeutsch
wieder Weltsprache.
 
Denken
setze
ein!

Mittwoch, 16. März 2011

Slov ant Gali: Vavarin 2

 
Wo die Natur nackt ist
zerteilt sie sich selbst
durch reißende Ströme


Wo der Mensch denkend wird
baut er Brücken
über blinde Naturgewalt


Wo der Mensch aufhört
bombt er die Brücken
in die Urzeit zurück

Dienstag, 15. März 2011

Waltraud Käß: Eine Kartoffel

 Eine autobiographische Geschichte
  
Ach, ist das ein schöner Sommertag. „Mama, ich will spielen gehen“, sage ich und schaue sie fragend an. Draußen warten meine tschechischen Freundinnen. Ich wohne jetzt in ihrem Dorf. Wir sind nämlich auf der Flucht.
„Das geht nicht, Kind“, sagt Mama, „ Du musst auf Uschi aufpassen. Ich muss noch was besorgen und wenn ich wiederkomme, kannst Du raus.“ Ein paar Tränen rinnen über mein Gesicht. Aber die Aussicht auf später trocknet sie dann schnell. „ Mama, ich hab Hunger“, sage ich. Mama dreht sich beim Hinausgehen um und sagt „Ich komme gleich wieder“.
Es ist früher Vormittag. Uschi schläft, eingewickelt in eine Decke, auf der harten Bank, die jetzt unser Bett ist. Sie ist noch ein Baby. Wir haben keine Wohnung. Wir haben ein Zimmer bei einer tschechischen Frau. Die ist schon ganz alt und trägt immer ein schwarzes Kopftuch. Ich fürchte mich vor ihr. Neulich kam sie ins Zimmer, als Mama nicht da war. Im Fußboden gibt es eine Tür mit einem Vorhängeschloss. Die hat sie aufgeschlossen und ist eine Treppe hinunter gestiegen. Ich habe um die Ecke geschmult. Ein Keller. Ich drückte mich in die Ecke zurück und hatte Angst, dass sie mich dort runter zieht, wie die Hexe in Hänsel und Gretel. Dann tauchte sie wieder auf. Sie hatte zwei Gläser in der Hand. Krachend knallte sie die Tür zu, der Schlüssel knirschte im Schloss. Ist ja auch  ganz rostig. Sie ging aus dem Zimmer, ohne ein Wort zu sprechen. Ich habe Mama nichts davon erzählt.
Mama kommt zurück und sagt“ Jetzt kannst Du nach draußen gehen. Aber vergiss nicht, Deine weiße Binde um den Arm zu legen, sonst sperren Dich die amerikanischen Soldaten ein.“ „Mama, ich bin doch schon groß. Das habe ich schon gelernt. Die Einheimischen tragen rote Binden und die Flüchtlinge weiße“, sage ich und wickele mir die weiße Binde um den dünnen Oberarm.
Uschi wird wach und fängt an zu quengeln. Ich sehe, wie Mama ihre Bluse aufknöpft und meine kleine Schwester an ihre weiße Brust legt. Ob das schmeckt? „Mama, habe ich davon auch schon mal getrunken?“„Ja, da warst Du aber noch ganz klein“. Ich höre das schmatzende Geräusch, welches Uschi von sich gibt und sage „Mama, ich hab Hunger, ich hab doch heut noch nichts gegessen“. „Du wolltest doch spielen gehen, nun geh schon Kind“, sagt Mama und streicht mir übers Haar.
Wir spielen mit dem großen bunten Ball und ab und zu verschwindet eine meiner tschechischen Freundinnen, wenn in einem der Häuser ein Fenster aufgeht und die Mutter etwas ruft. Ich kenne sie schon alle, aber ich verstehe sie nicht.
Es riecht nach gekochten Kartoffeln und auch ein anderer Geruch zieht in meine Nase. So roch es immer, wenn Mama am Sonnabend die Rouladen in unserer kleinen Wohnküche anbriet, während Papa, wenn er Soldatenurlaub hatte, mich in der großen Zinkbadewanne badete. „Papa ist im Krieg“, sagte Mama, wenn ich nach ihm fragte.
„Mama, ich hab Hunger“. „ Weißt Du was? Wir gehen jetzt mit Uschi in den Wald spazieren. Vielleicht sehen wir ein Reh oder ein Eichhörnchen.“ Au ja, ich bin Feuer und Flamme. Es ist später Nachmittag, als wir zurückkommen. Uschi schmatzt schon wieder an Mamas Brust. „Mama, ich hab Hunger. Mama, warum weinst Du denn?“  „Wir haben nichts mehr zu essen,
 
Kind. Unsere Ration ist alle. Der Kaufmann hat mir heute früh nichts mehr geborgt. Jetzt bleibt uns nur noch das Betteln“.
„Mama, ich geh betteln, wir müssen doch was essen“. Ich denke an die Mütter meiner Spielkameradinnen und den Geruch, der aus den Fenstern zog. Ich klopfe an die erste Tür. „Ich habe Hunger und meine Mama auch, kannst Du mir was geben?“ Meine Hand streckt sich der Tür entgegen. Böser Blick. Tür zu.
Sie hat mich nicht verstanden. Ich spreche ja nicht tschechisch. Die nächste Tür. „Hast Du noch eine Kartoffel übrig, ich habe Hunger?“ Die Antwort verstehe ich nicht, ich spreche ja nicht tschechisch. Tür zu. Ich klopfe noch an drei Türen. Immer wieder wird die Tür geschlossen. Noch einmal versuche ich es. Weinend strecke ich meine kleine Hand aus. Die Frau scheint mich zu verstehen. In meine Hand wird eine große warme Pellkartoffel gelegt.
„Mama, Mama, guck mal, was ich mitgebracht habe“. „Mama, warum isst Du denn nicht, hast Du keinen Hunger“? „Nein, und ich bin schon groß und Du musst erst noch groß werden“.
„Mama, ich möchte nie mehr betteln gehen.“ „ Ja, mein Kind“.

Montag, 14. März 2011

Erdelmeyer, Jennifer Lynn: Frieden ist die Abwesenheit von Krieg

Es hat geschellt, aber keiner von uns kümmert sich darum. Es tobt der tägliche Krieg im Klassenzimmer. Es ist laut. Einige schreien herum, oder lachen. Irgendwo hört jemand Musik. Der Streber wird wieder von den anderen Jungs gepiesackt. Warum nicht? Ist sonst ja keiner da!
Niemand sitzt auf seinem Platz oder kramt Bücher raus. Wofür auch? Überall liegen Trinktütchen, Papier oder Essensreste herum. Pünktlich betritt die Lehrerin das Zimmer. Sie wird mit Kreide beworfen, doch die scheint das nicht zu merken, oder ignoriert das einfach. Ist auch besser so.
Sie klatscht in die Hände. „Jetzt setzt euch mal bitte alle hin! Der Unterricht fängt jetzt an!“ Doch niemand regt sich. Später, nach vielen Diskussionen, und einigem Hin und Her, laufen die Mädchen über und bequemen sich hinzusetzen. Es sind meistens die Mädchen, die kapitulieren. Wer weiß warum?
Dann geht es los. Mit was? Hab ich vergessen. Ich beobachte die hoch motivierte Lehrerin. Ist neu, hat Ideale. Wie lange noch?
Wie lange wird sie brauchen bis sie resigniert, wie manch anderer, meist älterer Lehrer, der durch den Gang schlurft und die Jahre bis zur Rente zählt?
Die Zeit will nicht vergehen. Ich schaue auf die Uhr über der Tür. Man sieht dort noch den Schmutzrand von einem Kreuz, dass dort mal irgendwann hing, es aber schon lange nicht mehr tut. Ich beobachte genau den Sekundenzeiger. Wie das Ticken einer Zeitbombe, läuft auch die Zeit der Schulstunde ab.
Dann gibt die Alte uns auch noch Hausaufgaben auf. Das hat uns gerade noch gefehlt, wie ist die denn drauf?
Wir stehen auf, ballen die Hände und brüllen durcheinander. Aus Protest. Wir demonstrieren gegen die Hausaufgaben.
Wir sollen einen Aufsatz über das Thema „Frieden“ schreiben.
„Scheißfrieden, Mann“, sag ich zu meinem Sitznachbarn. Dann klingelt es und unsere Proteste gehen in dem allgemeinen Lärm unter. Die Lehrerin macht sich schnell aus dem Staub. Hat wohl Angst, wir würden sie lynchen. 
Dann geh ich nach Hause. Scheißhausaufgaben. Muss erstmal checken, was überhaupt „Frieden“ bedeutet. Wen interessiert das schon, außer der Scheißlehrerin? 
Ich googel „Frieden“ und der Computer spuckt mir die Erklärung mitten ins Gesicht: „Frieden ist ein heilsamer Zustand der Stille.“ Oh Mann, wie langweilig ist das denn? „Frieden ist die Abwesenheit von Krieg!“ Ich glaub ich schlaf ein! Was bitte, soll ich darüber schreiben? Hat jemand ‘ne Idee?
Ist wohl alles Friede, Freude, Eierkuchen, oder was? Null Aktion, null Spannung, null Krawall! Nichts kracht oder wird zerstört. Hm, mir fällt nichts ein.
Dann schalte ich den Fernseher an. Ich brauche Ablenkung. Ich zappe mich durch unzählige Kanäle und bleibe bei den Nachrichten hängen. Eine friedvolle Demonstration eskaliert. Habt ihr euch mal gefragt warum? Frieden ist nichts Dauerhaftes, Mann. Letztendlich regiert das Chaos! Voll die krasse Straßenschlacht geht da ab. Schwarzvermummte gegen Polizisten. Da hat keiner einen Plan. Voll verschärft! Aber ist lustig zuzusehen. Jemand karrt dort einen Einkaufswagen mit Pflastersteinen an, als könnte man die im Supermarkt kaufen. Ich hätte dann mal gerne 100 Kilo Pflastersteine. Aber gute Qualität, um möglichst viele Bullen platt zu machen! Geil! Und dann fangen sie an zu werfen. Die Steine fliegen durch die Luft und hageln auf alles nieder, was sich nicht rechtzeitig in Sicherheit gebracht hat. Wer da zwischen die Fronten gerät, hat Pech gehabt.
Ey Alter, ist schon heftig! Aber, hatte ich nicht Recht? Ohne Krieg, keine Nachrichten. Schon mal dran gedacht wie viel Arbeitsplätze verloren gingen, wenn es nichts mehr über Krisengebiete zu berichten gäbe, hä? Oder wie viele Arbeitsplätze alleine die Waffenindustrie schafft, hä? Und überhaupt!
Und die Friedensindustrie? Gibt’s die?
Tja, na ja, aber ganz so asi bin ich auch nicht. Will mal meinen guten Willen zeigen. Ich raffe mich auf, mein dreckiges Geschirr in die Spüle zu stellen und leere den Aschbecher. Frieden fängt im Kleinen an, denke ich. Also warum nicht mit dem Hausfrieden anfangen? Vielleicht schreib ich ja darüber was.

Sonntag, 13. März 2011

Oliver Meiser: WAS ZIVILES...

 
Ein Lausbub tobte wild im Stadtpark herum. Mit seinem Schwert aus Holz schlug er beherzt auf die Büsche und freute sich, wenn sie ihre gerade erst ausgetriebenen Blätter ließen oder ein brütender Vogel aufgeschreckt von dannen flog.
Da sah der Junge ein sechzehnjähriges Mädchen im Rollstuhl sitzen, das, lesend, die Frühlingssonnenstrahlen genoß. Er machte halt, stützte sich auf sein Schwert und fixierte das Mädchen frech.
„Muß das fade sein, so herumzusitzen!“, sagte er, mit einem Ausdruck des Mitleids und gleichzeitiger, eiskalter Verachtung. 
„Gar nicht fade!“, antwortete das Mädchen selbstbewußt, während sie ihre Lektüre auf den Schoß sinken ließ und den Jungen anlächelte.
„Ist dein Buch denn wenigstens spannend?“, wollte der Junge neugierig wissen. Er reckte den Hals und kniff die Augen zu, um etwas vom Inhalt des Buches zu erfassen.
„Ich lese Frühlingsgedichte. Das ist schön!“, sagte das Mädchen, gut gelaunt, und zeigte die Titelseite ihres Buches.
„So was ist doch furchtbar langweilig! In Wirklichkeit willst du auch herumtollen, so wie ich!“, behauptete der Junge steif.
„Will ich nicht! Ich bin ja schon von Geburt an gelähmt und kenne das Leben nicht anders!“, entgegnete das Mädchen trotzig, obwohl bitterer Schmerz ihre Seele durchfuhr.
„Egal! Jeder normale Mensch will vernünftig laufen können! Statt dessen mußt du doofe Gedichte lesen – weil du nämlich nicht viel anderes kannst!“, spottete der Junge und stieß zur Bekräftigung seiner Behauptung sein Holzschwert in das Blumenbeet neben dem Weg.
„Ich bin aber kein normaler Mensch und es ist doch einerlei, ob man vernünftig laufen, stehen oder sitzen kann: Hauptsache vernünftig!“, gab das Mädchen zu denken.
„Trotzdem: Aus dir wird nie etwas!“, feixte der Junge herablassend.
„Woher willst du das denn wissen!“, entrüstete sich das Mädchen.
„Aus dir kann gar nichts werden! Weil du ja nur dasitzen kannst und dazu auch noch ein Mädchen bist! Du weißt das auch genau. Sonst würdest du jetzt nicht gleich heulen!“, behauptete der Junge.
„Aus mir wird wohl etwas! Ich werde eine Dichterin! Aber davon verstehst du Dumpfbacke ja sowieso nichts!“, verteidigte sich das Mädchen gekränkt und kämpfte nun wirklich mit den Tränen.
„Puh, ist das alles öde! Ich jedenfalls werde mal Soldat und erobere die ganze Welt!“, prahlte der Junge.
„Dann paß bloß auf, daß du nicht irgendwann auch im Rollstuhl sitzt!“, schimpfte plötzlich ein alter Mann, der auf einer Bank gegenüber saß und das Streitgespräch  der beiden interessiert mitverfolgt hatte. Das eine Hosenbein des Mannes hing schlaff herunter und an der Bank lehnten zwei Krückstöcke. „Ich war nämlich Soldat!“, erzählte er. „Aber weil ich es werden mußte, nicht etwa, weil ich es damals gewollt hätte! Lieber wäre ich etwas anderes geworden!“, fügte er verbittert hinzu.
„Was denn?“ fragte der Junge neugierig.
„Ach, ich weiß auch nicht. Alles andere! Sogar Müllmann, Kanalarbeiter oder Kloputzer! Hauptsache irgend etwas Ziviles!“, antwortete der Veteran.
„Was kann man denn sonst noch so werden, wenn man kein Soldat werden soll? Ich meine, außer Müllmann, Kanalarbeiter oder Kloputzer? Möglichst etwas, womit man die ganze Welt erobern kann?“, fragte der Junge weiter.
„Na, vielleicht zum Beispiel Dichter, so wie die nette junge Dame dort!“, empfahl der Veteran, jetzt verschmitzt lächelnd, und erklärte: „Da eroberst du die Herzen vieler Menschen; wenn du bekannt wirst, vielleicht auf der ganzen Welt!“. Die Augen des Alten strahlten und auch die Miene des Mädchens erhellte sich wieder, während sie leicht errötete.
„Ist das denn was Ziviles?“, wollte der Junge wissen.
„Nicht nur zivil, sondern auch sehr zivilisiert!“, pflichtete der Veteran bei.
„Aber: Braucht man denn einen Dichter?“, fragte der Junge nach einem Moment des Überlegens.
„Und? Was glaubst du?: Braucht man denn unbedingt Soldaten?“, fragte der alte Mann zurück. „Die verbraucht man meistens nur: als Kanonenfutter für die Reichen und Mächtigen nämlich! Von so etwas hat zumindest meine Generation weiß Gott genug gehabt, auch wenn klar ist, daß bei diesen Sachen nur selten die da oben die alleinige Verantwortung tragen. Andernfalls gäbe es vermutlich keine Kriege und die Regierenden müßten ihren Händel persönlich mit Boxhandschuhen in irgendeiner Sporthalle austragen. Da sind halt immer die einen, die machen und die anderen, die mit-machen. Krieg oder Frieden fängt im Kopf von jedem Einzelnen an – noch lange bevor eine Waffe geschmiedet und ein Panzer zusammengeschraubt ist!....
Wenn ich so im Nachhinein überlege“, fuhr der Veteran nach einer Weile fort, „hatte ich eigentlich, muß ich sagen, bei dem ganzen Unfug noch Glück! Ich habe ja „nur“ ein Bein verloren. Damals  war ich erst neunzehn und dachte: Jetzt bricht die Welt, die äußerlich schon überall in Trümmern lag, für mich persönlich noch einmal extra zusammen! Denn vor dem Krieg kannte ich das Leben anders: Schwimmen, Radfahren, Fußball... Und ob man nicht vernünftig laufen kann, weil man gelähmt ist oder weil die Weltgeschichte nicht vernünftig gelaufen ist, sind doch noch einmal zweierlei sehr verschiedene Paar Stiefel. Wobei letzteres eigentlich kein Paar, sondern nur ein einzelner Schuh ist: Der andere ist ja“ – der Alte lachte zynisch – „ samt Bein irgendwo in Rußland geblieben...
Na ja, ich habe dann gelernt, daß man auch mit einem Bein schwimmen und radfahren kann. Nur mit dem Fußball war es etwas schwierig. Das Leben ging schon weiter, aber sein müssen hätte, was damals passiert ist, trotzdem nicht“.
Der Veteran sah, nach einer Pause des Schweigens, wieder hinüber zum Mädchen und erklärte:
„Lesen hat mir übrigens danach auch viel Trost gegeben; auch oder vor allem Gedichte. Aber manche Schriftsteller hätten wir besser schon mal vor dem Krieg gelesen! Vielleicht hätte jeder für sich gewisse Zeichen erkennen und irgendwie darauf reagieren können...“
Der Junge hatte sein Holzschwert schon längst vergessen, während das Mädchen ihr Buch angespannt umklammert hielt. Der alte, kriegsinvalide Mann nickte ihnen nun freundlich zu, griff nach seinen Krücken und begann sich zu erheben
 „Ihr beiden“, schlug er vor, „habt ihr nicht Lust, mit mir rüber zum Friedhof zu spazieren? Dann erzähl’ ich euch weiter, wie es damals so war und zeig’ euch, wo meine Kameraden liegen!“...

Samstag, 12. März 2011

Björn Högsdal: Rudern

1.
Omar redet seit Minuten, schimpft auf die Hamas und die Iraner. Früher hatte er auf die Israelis geschimpft, aber für die Leute von der Fatah gibt es einen neuen Feind, aus den eigenen Reihen. Khalid interessiert das alles nicht.  Er hat andere Dinge im Kopf, aber er nickt und stimmt Omar zu, denn er ist ihm dankbar. Khalid hat ihn vor einem Fatah-Gebäude getroffen, auf seinen Weg durch Gazah. Omar hat Arbeit bei der Autonomiebehörde und ist mit Khalids großer Schwester verheiratet. Ohne seinen Lohn und das, was er für die Familie beiseite schafft, in  der Behörde, wäre es noch viel schwerer. Viel wichtiger für Khalid ist aber, dass es Omar war, der ihm von dem Rudern erzählt hatte. Khalid hatte erst gedacht, er würde sich über ihn lustig machen.  Aber es gab ihn tatsächlich, diesen Ruderverein, mitten in Gazah. The palestine rowing association. Hätte Omar ihm erzählt, dass sich mitten in Gazah eine Raumstation, ein Skigebiet oder eine Schule für Zauberei befindet, hätte Khalid das nicht mehr in Staunen versetzt. Dorthin, zum Rudern ist Khalid grade unterwegs. Eigentlich ist er immer dorthin unterwegs.
Khalid ist jetzt 16 Jahre alt. Noch vor wenigen Jahren hat er meist zuhause gesessen, vor dem Fernseher. Was sollte man tun, zwischen Schutt und Ruinen, zwischen Flüchtlingen und Staub. Es gibt nichts, was man tun kann. Bis er durch Omar vom Ruderverein erfuhr, war er nicht einmal auf die Idee gekommen, dass es anders sein könnte. Er ging hin und blieb. In den ersten beiden Jahren war er nicht ein einziges Mal nass geworden, was nicht unbedingt an seiner Perfektion im Umgang mit den Booten lag, sondern vielmehr daran, dass es keine Boote gab. Es wurde in einer Baracke an Maschinen gerudert. Ergometer, weiß Khalid heute. Khalid weiß auch, dass er inzwischen sehr schnell und sehr weit rudern könnte. Wenn man ihn aufs Wasser ließe. Er ist der beste Ruderer in Gazah und vielleicht wird er irgendwann für Palästina bei der Olympiade antreten. Mohammed, sein bester Freund ist auch mit dabei und er ist auch gut, aber nicht so gut wie Khalid. Beide haben das Gefühl erst zu leben, seit sie das Rudern haben. Dass sie am Meer nur an den Strand können und nicht hinaus aufs Wasser dürfen, das ist schade, aber es ist nicht schlimm. Sie haben das Rudern.

Nein, es ist so auch schon gut. Nach einer Zeit der Lähmung und Starre in seinem Leben, passiert endlich was. Das Rudern hatte ihm endlich etwas gegeben, für das er brannte, etwas, das seinen Tagen eine Form gab. Sinn und Inhalt. In jeder freien Minute ist er dort, rudert die meiste Zeit mit geschlossenen Augen und stellt sich vor, wie die Ruder ins Wasser tauchen. Er stellt sich vor, wie sich das Boot den Weg durch die Wellen bahnt, hinaus aufs offene Meer. Die Baracke mit den drei Ergometern ist für Khalid ein Ort des Friedens. Dort wird nicht geschrien und es wird nicht geschlagen, wie viele es zu Hause erleben. Es gibt nicht nur etwas zu essen für die Jungen und Mädchen, die kommen, auch saubere Bekleidung ohne Löcher und Schuhe werden ausgeteilt.

Zu Beginn hatte Khalid keine Kraft. Sein Körper, seine Bewegungen und auch sein Kopf waren verkümmert. Er hatte meist zu Hause gesessen, vor dem Fernseher, seit sein Vater, Abu Khalid, über den ganzen Konflikt trübsinnig geworden war und sich völlig zurückgezogen hatte. In ihm war eine große Traurigkeit. Abu Khalid hatte erlebt, wie Bulldozer Häuser zerstörten, weil sie in sicherheitsrelevanten Zonen lagen. Er hatte auch erlebt, wie die Kinder israelischer Kollegen und Freunde bei Selbstmordattentaten starben. Abu hatte gerne in Israel gearbeitet, vor der zweiten Intifada, als man noch über die Grenzen kam. Als das nicht mehr ging, nur noch ganz selten einmal, zog er sich in das Haus zurück, tiefer, in sein Wohnzimmer und zu Schluss - ganz in sich selbst. Irgendwann hörte er auf zu reden und sah nur noch fern und ging auf die Toilette. Er schlief nicht, aber er aß, was auch immer man ihm vorsetzte. Ganz früher aber, als er noch in Israel arbeitete, hatte er manchmal darüber gesprochen, das die Moslems und die Juden, ja selbst die Christen im Grunde vom selben Stamm seien, dass es hier immer Juden gegeben habe und dass unter Saladin und anderen Herrschern, Gläubige jeder Religion ins Land durften. Sein Vater erzählte ihm davon, dass man einen großen Teil der Juden vor langer Zeit vertrieben habe und dass sie in der Fremde viel Schlechtes erlebt hätten. Davon dass sie das Land gekauft hatten, zumindest einen Teil und das beide Seiten Unrecht begangen haben. Und hin und wieder, ganz selten, sagte er, dass sie alle Esel seien. Die Fatah und die israelische Regierung. Die Hamas und die jüdischen Siedler in den palästinensischen Gebieten. Die Hisbollah. Aber das war als er noch geredet hatte. Jetzt war er ein bisschen verrückt. Wirklich verrückt, nicht so wie Khalids Onkel Jussuf. Der war Schauspieler am Theater gewesen und ein Mensch mit Sinn für Humor. Als es keine Arbeit mehr gab und alles immer schwieriger wurde, hatte er irgendwann begonnen sich wie ein Wahnsinniger zu verhalten. Sein Plan ging auf und er kam in eine geschlossene Anstalt, in der er sich keine Sorgen mehr machen musste um Nahrung und ein Dach über dem Kopf.
An dem Tag, an dem Jussuf eingewiesen wurde, verließ Khalids Vater ein letztes Mal das Haus, um seinen Bruder zu überreden mit dem Quatsch aufzuhören. Damals war Khalid vierzehn Jahre alt. Weder an dem Umstand das Jussuf in der Psychiatrie ist, noch  an dem Zustand seines Vaters hat sich seitdem etwas geändert. Nur Khalid war jetzt nicht mehr derselbe. Er hat jetzt Ziele und etwas worauf er sich freut. Manchmal sitzen er und Mohammed am Strand und schauen hinaus auf das blaue Meer mit den weißen Gischtflecken und dann reden sie darüber, wie das sein wird, wenn die Boote da sind. Ja, es werden Boote kommen, eine Spende aus China und sie werden bald schon hier sein. Die Hilfsorganisationen hatten sich dafür eingesetzt und dafür, dass sie auf einer bislang gesperrten Bucht würden trainieren können. Gestern waren sie alle zusammen in ein großes, altes Hotel in Gazah gegangen, dass noch intakt ist. Dort leben normalerweise die Reporter. Aber gestern waren die Rudertrainer mit ihnen dorthin gegangen. Keins von den Kindern hatte je schwimmen gelernt und jetzt, wo doch die Boote bald kommen und sie aufs Wasser gehen würden, mussten sie es lernen. Im Keller des Hotels gab es ein Schwimmbecken, daß ihnen zur Verfügung gestellt wurde. Sie bekamen Badebekleidung, frische Handtücher und bunte Schwimmhilfen aus Schaumstoff.. Khalid war noch nie in einem so schönen Haus gewesen, hatte noch nie so einen Luxus erlebt. Trotz der Aufregung, klappte das mit dem Schwimmen bei den meisten recht gut.  Sie waren kräftig geworden.
Die ganzen letzten Tage lächelt Khalid viel, auch jetzt, mit Mohammed am Strand. Es ist früher Abend. Sie dürfen nicht hinaus, aufs Meer, höchstens an den Strand und bald in die Bucht, aber schon wenn er ein wenig, nur bis zu den Knien im Wasser steht, dann fühlt er sich mit der ganzen Welt verbunden. All die Meere hängen zusammen. Das wusste er von Omar. „Schau! In dieser Richtung", hatte Omar neulich gesagt, „liegt Europa, da ist Amerika, dort Afrika." Dabei hatte er mit ausgestrecktem Arm von rechts nach links gezeigt. Als die Sonne untergeht,  gehen sie nach Hause. Er geht früh zu Bett, schläft aber unruhig. Morgen kommen die Boote.
2.
 
Der nächste Tag, in der Trainingsbaracke.
    Die Boote kommen nicht!
Mohammed erwartet Khalid mit fassungslosem Gesicht auf dem Ergometer. Die Boote kommen nicht über die Grenze, weil es Differenzen wegen der Papiere gibt und weil die Boote möglicherweise kriegsfähiges Material seien. Selbstmordattentäter könnten sich mit den kleinen Booten nachts an Militärschiffe schleichen. Es ist noch nicht einmal heraus, ob man sie nun reinlassen wird oder nicht - und doch hat Khalid das Gefühl, es könnte überhaupt nicht mehr schlimmer kommen. Er verbringt lustlos eine halbe Stunde auf dem Gerät und verlässt dann die Baracke. Als er nach Hause kommt und sich zu seinem Vater vor den Fernseher setzt, weiß er aber doch sofort, dass es schlimmer kommen wird. Jemand hat einen israelischen Soldaten entführt. Jemand von der Hamas wahrscheinlich.
 
Die Gewissheit folgt schnell, so wie die Reaktion aus Israel. Khalid verflucht die Hamas still in sich, als er am nächsten Tag erfährt, dass nicht nur die Boote nicht rein gelassen werden, sondern dass auch die Bucht nicht mehr freigegeben wird zum Üben. Am liebsten würde er einen Stein durch die Scheibe des Hamasgebäudes neben der Baracke schmeißen. Aber das wäre dumm und gefährlich. Er muss an die Worte seines Vaters denken. Alles Esel. In den folgenden Tagen wird nach dem israelischen Soldaten gesucht.  In einigen Vierteln verlassen die Leute ihre Häuser weil angekündigt wurde, dass sie zerstört werden.
Drei Tage später kommt Abu Khalid in die geschlossene Anstalt. Khalid war Morgens aus dem Haus gekommen und hatte die Flugblätter gefunden mit der Information, dass alle das Viertel verlassen sollen, da es illegal sei und eingeebnet wird. Omar und Khalids Schwester waren gekommen um die Familie zu sich zu holen, in eine Umgebung, mit etwas mehr Sicherheit. Sie hatten alles gepackt, was sich verstauen ließ, alles was wichtig ist, aber als sie Khalids Vater mitnehmen wollten, fing er zum ersten Mal seit langer Zeit an Laute von sich zu geben und zu zeigen, daß noch Energie in ihm war. Er schlug um sich, zerstörte Teile der Einrichtung und schrie in einem erstickten, gurgelnden Ton. Sie versuchten ihn zu beruhigen, aber nach einer Stunde hatte Omar genug und packte sich den alten Mann. Er nahm ihn über die Schulter mit zum Auto. Es wurde auch später nicht besser und sie brachten ihn am nächsten Tag in die Anstalt zu seinem Bruder Jussuf.
Trotz all dieser Ereignisse geht Khalid weiter zum Rudern. Er strengt sich noch mehr an, pullt noch härter und geht immer weiter an seine Grenzen. Zur Baracke hat er es jetzt sogar näher, als vom Haus seines Vaters aus. Bei Omar zu wohnen ist eigentlich ganz in Ordnung und Abu Khalid geht es scheinbar auch langsam besser. Es heißt er hat aufgehört zu schreien und er redet wieder, manchmal soll er sogar lächeln. Heute werden sie ihn und Jussuf besuchen. Bald, aber jetzt zieht Khalid noch seine Bahnen, er schließt die Augen und rudert auf dem Meer. Er zerschneidet die Wellen in wuchtigen Zügen und setzt Kurs auf den Horizont. 
Später in der Anstalt. Sie sitzen an einem Tisch, Omar, Khalid, Khalids Schwester, sein Vater und Onkel Jussuf. Betretenes Schweigen, es ist eine seltsame Atmosphäre und Khalid wünscht sich, er wäre noch beim Rudern. Seit sie da sind hat Abu khalid zwar wirklich manchmal etwas gelächelt und ein paar Sätze gesagt, aber es ergibt alles keinen Sinn. Weder das Lächeln noch seine Worte. Khalid fragt sich wie lange sie noch bleiben. Er fühlt sich schlecht deswegen, aber sein Vater ist schon so lange fort, irgendwo in seinem Kopf. Als Khalid auf die Uhr an der Wand schielt spricht Onkel Jussuf ihn an:
    Du magst Boote, oder? Das hat dein Vater erzählt. Ich bin früher manchmal raus gefahren. Mit einem kleinen Boot aus Holz. Bist du oft auf dem Meer?
Nein, man kann nicht aufs Meer.
Schade. Ich frag mich ob das Boot immer noch in dem Schuppen liegt.
Es liegt noch in dem Schuppen. Khalid hat sich genau beschreiben lassen wo das Boot früher war. Der Schuppen ist ziemlich verfallen, eigentlich ist es ein Trümmerhaufen, aber unter Brettern und Wellblech entdeckt Khalid das Boot. In dieser Nacht schläft er wieder schlecht. Beim Rudern am nächsten Tag erzählt er Mohammed davon. Mohammed musste auch umziehen, aber er wohnt jetzt weiter weg von der Baracke und kommt deshalb erst später.
Ein altes Holzboot, kein Sportgerät, wie auf den Fotos und Postern. Aber ich glaube es ist noch ganz und die beiden Ruder sind auch noch da.
Dann los, raus aufs Meer!
Beide lachen, sie wissen, dass das nicht geht.  Wenn Khalid jetzt rudert und die Augen schließt, sieht er sich in dem Boot aus dem Schuppen. Er fühlt sich diesem Boot nahe und es ist so etwas wie ein Versprechen auf das Meer. Da spielt es fast keine Rolle, dass er natürlich nicht wirklich raus fahren kann. Er ist froh, dass bei all dem was passiert und was passiert ist, dass er trotzdem rudern kann. Er will nicht mit den anderen versteckt in der Wohnung kauern, nicht vor dem Fernseher sitzen und ägyptische Serien oder Al-Dschazeera sehen. Warum schließen sie sich in den Häusern ein um es dann trotzdem im Fernsehen zu sehen. Beim Rudern kommt er in einen monotonen Rhythmus und der Kopf setzt aus. Das ist fast das beste am Rudern. Der Moment der Trance, wenn das Denken endet.
3.
Es ist dunkel, sehr dunkel und Mohammed stolpert über einen Hund, fällt der Länge nach hin und wird unter dem umgedrehten Boot begraben. Khalid verliert ebenfalls die Balance und lässt das hintere Ende des Bootes fallen. Mit lauten Krach schlägt es auf dem Pflaster auf und der Hund läuft schnell davon.
Bist du verletzt, Mohammed?
Ein Moment Stille, dann poltert es ein wenig.
Nein, alles in Ordnung.
Mann, pass doch auf. Bist viel zu laut.
Das war doch keine Absicht!
Sie sind auf halbem Weg zum Strand, Onkel Jussufs Boot ist schwer und es ist schwierig, es nur mit dem Kopf und einer Hand tragen zu können, aber sie brauchen die andere Hand. Für die Ruder. Sie dürfen nicht entdeckt werden, es ist gefährlich hier draußen, mitten in der Nacht. In der Ferne hört man Sirenen und Hubschrauber. Vor vierundzwanzig Stunden hatte ein Kampfhubschrauber das Hamasgebäude neben der Trainingsbaracke beschossen und die Baracke wurde mit zerstört. Die Ergometer sind alle drei kaputt. Khalid und Mohammed hatten am folgenden Tag eine Stunde erstarrt vor der Ruine gestanden. Dann hatte er einen Stein aufgehoben, ihn auf die Trümmer des Hamasgebäudes geworfen und war davon gerannt. Mohammed versuchte ihm zu folgen, aber Khalid war zu schnell für ihn. Mohammed suchte eine Weile nach Khalid, dann dachte er an den Strand. Dort fand er ihn und sie saßen lange Zeit schweigend nebeneinander.  Es war Mohammed der auf dem Heimweg sagte:
 
..Schleich dich heute Nacht raus, wir treffen uns an der Baracke.
Sie vereinbarten eine Zeit und Khalid schlich sich aus dem Haus Omars und seiner Schwester. Es fielen keine Worte, als sie sich trafen. Sie sahen sich nur kurz an, marschierten los und holten das Boot.
Khalid und Mohammed haben sich aufgerappelt, ihre Last geschultert und sind wieder unterwegs. Man kann das Meer jetzt schon riechen, aber vielleicht ist das auch nur das Boot, dass nach all den Jahren in dem Schuppen noch immer voll des Meeres ist. Khalid und Mohammed sind stark, sie haben lange trainiert und sie wissen, dass sie sehr schnell und weit rudern können. Gleich, nur noch ein bisschen, dann tauchen die Ruder ins Wasser ein und das Boot bahnt sich seinen Weg durch die Wellen, in Richtung Europa, Amerika, vielleicht Afrika, oder einfach nur zum Horizont.

Freitag, 11. März 2011

Oelmann, Vera: Der Feind ist jung und schön

 
Einmal habe ich den Feind aus der Nähe gesehen. Er war jung und schön und hatte große dunkle Augen, die ganz erstaunt in den Himmel sahen. So, als erblicke er dort etwas sehr Schönes und Wunderbares. Und ich hoffe noch heute, dass er es wirklich gesehen hat.
 
Er lag mit ausgebreiteten Armen auf dem Hahnweg direkt vor der Tür des kleinen Zöllnerhäuschens meiner Großmutter in Braubach am Rhein. Von seiner Leiste führte eine dünne rote Spur bis zum Rinnstein und weiter bis zum Gully.
 
Es war im Frühjahr 1945, unmittelbar vor dem Ende des zweiten Weltkriegs. Uns Kindern war es strikt versagt, nach den Straßenkämpfen vor die Tür zu gehen, weil wir die vielen Toten nicht sehen sollten. Am Morgen ist jemand vom Bürgermeisteramt mit einem Sprachrohr durch die Stadt gegangen und hat dieses Verbot verkündet. Aber ich habe das Fenster und den grünen Holzladen in der Wohnstube geöffnet und mir den Franzmann angesehen. „Franzmann“. So nannten sie damals die Franzosen, die über den Rhein gekommen waren um zurückzuschlagen für das, was die deutsche Wehrmacht in Frankreich angerichtet hatte.
 
Ganz lange habe ich ihn mir angeschaut, den jungen toten Soldaten, und ich fand überhaupt nichts Feindliches an ihm. Im Gegenteil. Ein bisschen sah er aus mit seinen halblangen dunklen Haaren, dem feinen Gesicht und der schmucken Uniform wie der Prinz, der Dornröschen vom hundertjährigen Schlaf erweckt hatte und der sich nun selbst nach dem Kampf mit der Dornenhecke ein wenig ausruhte.
 
Es war zum ersten Mal in meinem damals fünfjährigen Leben, dass ich einen Jungen so ausgiebig und lange betrachtete. Und es war in der Tat noch ein Junge, denn er zählte kaum 17 Lenze. „Das soll der Feind sein?“ Ich konnte es gar nicht glauben. Und wenn ich mir in späteren Jahren mein Leben vorstellte, wenn ich Geschichten und Gedichte schrieb, so sah der jugendliche Liebhaber, der Held darin immer ein wenig aus wie jener junge tote Soldat.
 
Großmutter ertappte mich bei meinen heimlichen, versonnenen Betrachtungen. Aber sie schalt nicht mit mir, weil ich gegen das Verbot einfach das Fenster geöffnet hatte. Sie schaute auf den toten Jungen und ich sag, dass ihre Augen ganz feucht wurden. „Dieser verdammte Krieg,“ entfuhr es ihr zornig. „So ein junger Bursche! So ein Bub! Mein Gott, die arme Mutter! Es ist eine Schande!“
„Aber,“ so sprach sie weiter und es klang als ob sie sich selbst trösten müsse, „seine Seele ist nun im Himmel. Ja, seine Seele ist bei Gott.“
„Und da ist immer Frieden”, fügte sie nach einer Weile leise hinzu.
 
„Meinst du denn, Großmutter, dass Soldaten auch in den Himmel kommen? Sie schießen doch die Menschen tot!“ Sie sah mich groß an, indem sie mir über das Haar strich, ihren Arm um mich legte und mich an sich drückte. „Aber gewiss, Kind. Natürlich kommen sie in den Himmel! Da bin ich ganz sicher. Denn schau, dieser Junge ist bestimmt nicht aus Übermut in den Krieg gezogen und aus Lust am Töten. Wahrscheinlich wurde er ebenso gezwungen wie so viele unserer Männer.“ „Wieso gezwungen, Großmutter?“ Fragend sah ich sie an. „Man kann doch niemanden zwingen, zu schießen. Der braucht das doch einfach nicht zu tun. Ich jedenfalls würde das nicht tun, auch wenn man mir das noch so oft befiehlt!“ Großmutter nickte: „Wenn alle so denken würden, Kind gäbe es keine Kriege. Das wäre schön. Aber leider denken nicht alle so. Schau mal, selbst ihr Kinder zankt und streitet euch ja auch ab und zu und manchmal schlagt ihr euch sogar. Wenn einer anfängt zu schlagen, schlägt der andere zurück, weil er kein Feigling sein will. Damit fängt es an. Dann greifen die Freunde ein, um zu helfen und am Ende weiß keiner mehr so ganz genau, worum eigentlich gestritten wird. Siehst du, das ist dann auch schon ein kleiner Krieg.“
 
Das verstand ich. „Und bei den Erwachsenen ist das ebenso?“ „Ja, jedenfalls sehr ähnlich. Nur viel, viel schlimmer, denn die Erwachsenen kämpfen nicht nur mit den Fäusten, sondern mit Panzern und Flugzeugen, mit Bomben, Raketen, Kanonen, Giftgas und Gewehren. Wenn die Großen, die ein Land regieren, sich streiten, geht es meistens um Macht, um Geld, um Landbesitz oder um den Glauben. Dann kämpfen aber nicht die Regierenden gegeneinander, sondern sie befehlen ganz einfach ihren Untertanen, das für sie zu tun. Das ist ja das Verbrechen. Sie geben einfach den Befehl, Krieg zu führen! Und wehe, jemand weigert sich, in den Krieg zu ziehen! Befehl ist Befehl, da müssen alle gehorchen. Und wenn einer nicht mitmachen will, dann ist er ein Befehlsverweigerer, ein Deserteur, dann wird er eingesperrt oder sogar getötet.“
 
Mir stockte der Atem, und empört rief ich dazwischen: „Das ist ja fürchterlich, Großmutter! Das ist ja eine richtige Gemeinheit, ein Verbrechen!“ „Ist es auch, Kind. Dein Vater zum Beispiel würde doch jetzt auch viel lieber mit dir spielen, zur Arbeit gehen und Geld für euch verdienen oder im Garten Blumen und Gemüse pflanzen, anstatt draußen an der Front zu kämpfen. Aber er muss. Denn im Kampf hat er wenigstens noch eine kleine Chance, am Leben zu bleiben. Wenn er sich geweigert hätte, wäre er schon verhaftet worden, vielleicht sogar schon tot. Glaub mir“, fügte sie hinzu, „eigentlich wollen die wenigsten Soldaten töten. Sie wollen beschützen. Nämlich das, was sie lieb haben: ihre Kinder, ihre Frauen, ihre Tiere und natürlich auch ihr Land, ihre Stadt und das Haus, in dem sie wohnen. Ja, wenn sich alle Väter der Welt gemeinsam weigern würden, in den Krieg zu ziehen, dann gäbe es vielleicht eine Chance, in Frieden zu leben. Aber das bleibt wohl immer ein schöner Traum, denn die Menschen sind sich selten einig.“
 
„Aber der junge Soldat dort ist doch noch gar kein Vater, Großmutter. Er sieht ja aus wie ein Schulbub. Warum war der denn im Krieg?“ wagte ich einzuwenden. Großmutter schluckte. „Ja, das ist er sicher auch noch. Es ist ganz schrecklich! Weißt du, wenn die erwachsenen Männer in so einem fürchterlichen Krieg verwundet, gefangen genommen oder sogar tot und nicht mehr für den Krieg zu gebrauchen sind, dann holen sie einfach die Kinder, die noch zur Schule gehen oder die jungen Burschen, die gerade damit begonnen haben, einen Beruf zu erlernen oder zu studieren.“
 
Ganz interessiert und sehr aufgeregt lauschte ich dem, was Großmutter sagte, während ich meine Augen nicht von dem toten Jungen wenden konnte. Richtig zornig wurde sie, als sie
fortfuhr: „Wer sich Krieg ausdenkt, ist ein Verbrecher! Er muss entweder den Teufel im Leib haben oder sehr krank im Kopf sein. In jedem Fall gehört er weggesperrt! entweder ins Gefängnis oder in eine Heilanstalt. Denn Krieg ist immer eine ganz entsetzliche Sache. Für alle, die damit beginnen und für alle, die hineingezogen werden. Und meistens trifft es dann auch noch die Unschuldigen, die gar keinen Krieg wollten, die Frauen, die Kinder und diesen Bub da!“ Großmutters Augen blitzten. Erstaunt sah ich sie an. So kannte ich sie gar nicht. Sie die immer so gern lachte und uns Kindern Geschichten und Märchen erzählte, die mit uns sang und tanzte, sah plötzlich selbst aus wie eine mutige Kämpferin. Aber ich merkte sehr wohl, dass sie auf ihre Art für etwas sehr Gutes, nämlich für eine friedliche Welt kämpfte.
 
Nach einer Weile des Schweigens, in der sie erschöpft die Augen schloss und vor sich hin nickte, so als müsse sie das, was sie von sich gegeben hatte, sich noch einmal selbst bestätigen, sagte sie leise: „Krieg ist die Hölle auf Erden!“ Fast drohend schaute sie nach oben und fügte flüsternd hinzu: „Und der liebe Gott wäre kein lieber Gott, wenn er die Menschen, die auf Erden schon die Hölle erlebt haben, nicht bei sich aufnähme.“
 
Dann holte Großmutter eine wollene Decke und ging hinaus, um sie über dem toten Jungen auszubreiten. „Es wird kalt werden heute Nacht“, meinte sie „und wir wollen doch nicht, dass er friert.“
 
Zwei Tage später wurde er abgeholt. Man trug in der Wolldecke durch die Sommergasse hinunter in die Rheinstraße. Dort stand ein großer Lastwagen mit vielen Toten. Niemand weiß genau, wohin sie gebracht wurden.
 
 
Nachwort
 
Vor einiger Zeit erzählte ich einer Freundin von diesem traurigen Erlebnis aus meinen Kindertagen. Sie meinte, dass es eigentlich schade sei. Schade, dass ein Mensch, den meine Gedanken nach so langer Zeit, nach über sechzig Jahren noch immer begleiten, nichts davon weiß. „Oh doch,“ sagte ich nur, „er weiß es. Da bin ich mir ganz sicher. Er weiß es bestimmt, denn er ist jetzt hier. Ich spüre es ganz genau.“ Sie sah mich an und verstand. 

Donnerstag, 10. März 2011

Michael Obert: Das Projektil

 
Ich sah das Mündungsfeuer, die Kugel, wie sie auf mich zukroch, langsam auf mich zukroch, sich ihren Weg durch die Dämmerung fraß, eine Made in morschem Holz, sah ihren Kopf – silbern, geriffelt, leicht verrußt –, sah diesen Kopf vor mir, so nah, dass meine Augen sich kreuzten und ihn verdoppelten, sah ihn, sah ihn nicht, spürte, wie das Glück in mich eindrang, wo mein Nasenrücken in die Stirn tauchte, unter der er sich fortsetzte wie ein Eisberg unter polaren Wassern, in einer unsichtbaren Linie, der das Projektil folgte, während Eis splitterte, eine Robbe schrie und sich kochendes Wasser eitergelb färbte, dann brombeerschwarz, aufgeladen vom magnetischen Feld völliger Fremde, einer Rundung jenseits des Verstands, jeden Verstands und jeden Verstehens, jenseits des Diesseits, und mein sinkender Körper blätterte in den Seiten des Kalenders, Tage, die kühler werden mit jedem Millibar, das sich zusätzlich auf die Brust legt – dann erst hörte ich den Knall. Ich habe immer gewusst, dass in Kandahar, Afghanistan, mein Leben sich wenden würde.

Mittwoch, 9. März 2011

Thomas Knackstedt: Du hast die Wahl…

Zach spielt mit dem kleinen roten Ball und hat seine Umwelt völlig ausgeblendet. Mit vier Jahren kommt das vor. Man lebt für Momente in einer Zeitblase, ist voll und ganz mit einer Sache beschäftigt, hat die Antennen eingefahren. Er sieht Jonas nicht, der sich von hinten an ihn heran schleicht. Er denkt, er ist allein im Sandkasten. Er täuscht sich. Würde er Jonas Augen sehen…wäre er älter und wüsste, was in Augen geschrieben steht…er wäre hellwach. So ist er es nicht. Jonas Augen sagen: Ich will diesen Ball! Unbedingt! Egal wie. Er hat die Überraschung für sich und stößt Zach mit voller Wucht in den Rücken. Zach fällt in den Sand und seine Nase blutet. Er schreit, als er merkt, dass der Ball weg ist. Dann sieht er Jonas. Er hat den Ball in der Hand und läuft weg. Zorn und Wut machen sich in Zach breit. Er steht auf und läuft los. Eine Flutwelle aus Hass durchströmt sein Gehirn. Er holt auf, gleich hat er den anderen. Das wird er bereuen, ganz sicher…
 
Er bekommt die Schulter zu fassen und reißt den Jungen herum. Er ist noch ein Kind, seine Augen sind weit aufgerissen, stecken wie zwei viel zu große dunkle Murmeln in dem blassen, dreckverschmierten Gesicht. Aber das ist egal. Kind oder nicht. Ben ist seit zwei Jahren bei der israelischen Armee und wenn er eins gelernt hat, dann ist es, dass es völlig egal ist, ob du von einem Kind oder einem Erwachsenen erschossen wirst. Das Ergebnis bleibt gleich: Du bist tot. Ben ist 22 Jahre alt. Das Jungengesicht vor ihm mag vielleicht 12 Lebensjahre sein eigen nennen können, vielleicht. Der Kleine hat sich die ganze Zeit beim Wachposten herumgedrückt. Dann geht plötzlich die Randale los. Eine ganze Schar von Jugendlichen und Kindern strömen aus den Seitengassen. Alles Palästinenser. Steine und Flaschen fliegen. Katapultgeschosse surren wie bösartige Hornissen um die Köpfe der Soldaten. Sie gehen zunächst in Deckung und beantworten anschließend den Hagel der Wurfgeschosse mit dem Einsatz von Tränengas. Die Menge läuft so schnell auseinander, wie sie sich formiert hat. Der kleine Junge ist ganz nah an der Barrikade aus Sandsäcken. Er rennt in eine Seitengasse und Ben verfolgt ihn. Dieser kleine Bastard. Er hält irgendetwas unter seinem viel zu weiten Shirt versteckt. Vielleicht ein Brandsatz oder etwas Ähnliches. Ben schnappt sich den Burschen. Er sieht in die angstgeweiteten Pupillen des Palästinensers. Der greift unter sein Shirt und Ben zieht seine Pistole. Er richtet sie auf den Kopf des Jungen und…
Jetzt braucht er nur noch abzudrücken. Ein Kinderspiel. Nicht mehr als die minimale Anstrengung eines kleinen Muskels im vorderen Glied des Fingers. So wenig Energie, dass man sie kaum messen kann. Aber sie wird die Büchse der Pandora öffnen. Ein Hagel von Sprenggeschossen wird sich aus den Feuerschächten des F16 Kampfbombers ihren Weg in den steinigen Wüstenboden des Irak suchen. Auf diesem Boden ist der gemeldete Fahrzeugkonvoi unterwegs. Rich hat die Anweisung des Hauptquartiers noch im Ohr. Sie begann mit den Koordinaten und endete mit: „…alle festgestellten Objekte angreifen und vernichten.“
15 Fahrzeuge schleppen sich wie eine metallene Schlange durch den Wüstensand. Es sind Jeeps und Lastwagen dabei. Keine Panzer, keine Spähwagen. Es sind nicht einmal Militärfahrzeuge. Jedenfalls kann man sie nicht als solche erkennen. Weiße und rote Laster mit offenen Ladeflächen, beladen mit Menschen. Im ersten Überflug erkennt Rich Männer und Frauen, deren Blicke zum Himmel gerichtet sind. Sie schauen zu ihm hinauf. Er ist für sie der Reiter der Apokalypse. Sie haben nicht die geringste Chance. Rich dreht eine weitere Schleife und geht tiefer. Er entsichert den Feuermechanismus der Bordwaffen und nimmt das letzte Fahrzeug ins Visier…
 
Der Lastwagen ist voll besetzt. Mindestens dreißig Menschen hocken auf der Ladefläche. Die ganze Stadt scheint unterwegs in Richtung Markt zu sein. Fadija musste sich durch die engen Gassen drücken, um nicht in der Menschenflut zu ertrinken. Jorad hatte es genau so vorhergesehen. Menschen, sehr viele Menschen. „Du wirst Allahs Arm sein. Ein Märtyrer, der in den Himmel eingeht.“ Fadija war sich am Anfang nicht sicher, ob er mit 15 Jahren schon in den Himmel einziehen wollte, aber Jorad überzeugte ihn. Die Amerikaner sind Feinde. Sie besetzen das Land und ignorieren die alten Regeln und Gesetze. Dazu haben sie kein Recht. Darüber braucht Fadija nicht lange nachdenken. Er wollte, nein, er musst etwas tun, um seinem Land zu helfen. Aber was? Jorad zeigte ihm den Weg.
Die Weste aus Sprengstoff liegt eng an seinem Oberkörper an. Unter seiner weiten Jacke fällt das nicht auf. In dieser riesigen Menge schon gar nicht. Der Marktplatz ist mit Tausenden von Menschen gefüllt. Die Polizeistation liegt am Rande des Platzes. An die Amerikaner ist schwer heranzukommen, sie igeln sich hinter Wällen aus Stacheldraht und Beton ein. Aber ihre Helfer, die Verräter aus dem eigenen Volk, denen gewähren sie keinen solchen Schutz. Fadija würde bis vor den Eingang der Wache gehen und den Sprengsatz zünden. Ein dünner, roter Draht mit einem Schalter daran, liegt in seiner rechten Hand. Ein Druck auf den Knopf und die Luft wird zu brennen beginnen. Fadija hat eine Menge Sprengstoff an seinem Körper. Er ist eine lebende Bombe, bereit alles in Stücke zu reißen.
Als er sein Ziel erreicht, schaut er sich noch einmal um. Er ist so oft mit seiner Mutter hier gewesen. Sie kauften frisches Obst und Gemüse ein. Aber das ist Vergangenheit,  seine Mutter ist tot. Gestorben bei einem Bombenangriff. Er sieht in die Gesichter der Verkäufer, erkennt einige wieder, betet noch einmal zu Allah und konzentriert sich auf seine Aufgabe…
 
Er stoppt ab, fasst plötzlich wieder einen klaren Gedanken. Was hat er vor? Will er den anderen schubsen, weil der ihn schubste? Welchen Sinn macht das? Selbst für einen Vierjährigen…Er ruft Jonas hinterher und der bleibt tatsächlich stehen und dreht sich um. „Warum machst du das?“ Jonas zuckt mit den Schultern, ist ratlos. „Lass uns zusammen spielen. Das macht sowieso mehr Spaß, als mit dem Ball allein etwas zu machen. Ja?“ Jonas ist unsicher, weiß nicht, was er von der Situation halten soll. „Na los, komm schon.“ Dann wirft Jonas den Ball und Zach fängt ihn. Langsam gehen sie aufeinander zu und spielen…
 
Es gibt keine Distanz mehr zwischen ihnen. Da, wo eben noch Platz genug war, um Hass und Wut sich ausbreiten zu lassen, ist jetzt plötzlich unmittelbare Nähe. Der Junge schluckt, seine Hände verkrampfen sich, er schüttelt wortlos den Kopf. Ben hat den Abzug der Pistole gespannt. Eine Träne läuft über das Gesicht des Jungen. Dann rutscht etwas unter seinem Shirt hervor. Langsam, fast wie in Zeitlupe, fällt ein ovaler Laib Brot zu Boden. Ben’s Finger hat den Abzug fast durchgezogen, hält dann aber inne. Ein Brot, keine Bombe. „Verdammt noch mal, was mache ich hier?“ Das sind genau die Gedanken, die ihm durch den Kopf gehen. „Er ist ein Kind. Ein kleines Kind. Vor zehn Jahren war ich ganz genau so.“ Ben steckt die Pistole in den Gürtel. Er bückt sich, nimmt den Brotlaib vom Boden und reicht ihn dem Jungen. Der weiß nicht, was er tun soll. Ist das ein Trick? Zögernd nimmt er das Brot. Seine Augen weichen keine Sekunde von Bens Gesicht. Der macht eine nickende Geste, fordert den Jungen wortlos auf, zu verschwinden. Ein kurzes, unsicheres Lächeln huscht über das Gesicht des Kindes. Er umklammert das Brot fest mit den Händen und läuft los…
 
Er behält die Szene ganz fest in seinem Blick. Es sind Kinder. Unschuldige Kinder. Egal was die Vorgesetzten oder die Politiker sagen. Seine Hand entspannt sich. Er arretiert den Sicherungshebel und merkt, wie ihm der Schweiß in den Nacken läuft. Wie oft hat er diese Situation trainiert. Nicht nachdenken, einfach nur funktionieren. Wenn das Hauptquartier sagt: Angreifen und vernichten, dann wird genau das getan. Er war nicht dazu in der Lage gewesen. Rich hatte den zweiten Anflug eingeleitet, die Waffen entsichert und war zu allem entschlossen, letztendlich aber zu nichts fähig gewesen. Er sah die Gesichter der Männer, Frauen und Kinder vor sich. Kinder! Kein Kind kann ein Soldat sein! Lass sie erzählen, was sie wollen. In Richs Welt funktionierte das so nicht. Ganz und gar nicht. Er schnappt sich das Funkgerät und nimmt Verbindung auf. „Hier ist nichts; ganz und gar nichts. Ich komme zurück.“  Während der Bomber an Höhe gewinnt, denkt Rich an seine eigenen Kinder, seine Frau, die Verwandten und Freunde. Die Menschen auf den Lastern besitzen genau das: Familie…
 
Die Familie ist das Wichtigste auf der Welt. Sie ist durch nichts zu ersetzen. Er liebte seine Mutter abgöttisch, sie war eine Heilige für ihn. Der Vater war im Krieg gefallen und seine Mutter verdoppelte ihre Liebe zu Fadija, um den Vater zu ersetzen. Als sie starb, wollte Fadija nicht mehr leben. Aber Jorad nahm ihn auf. Er wurde seine Familie. Er war strenger als die Mutter, aber er war da. Und das zählte für Fadija. Heute wird er seiner Mutter folgen. Er freut sich darauf. Seine Augen blicken zum Himmel und er hofft, das Antlitz der Mutter zu sehen. Dann drückt er den Knopf in seiner Hand und die Welt versinkt in einem Inferno aus Feuer…
 
Es gibt viele Möglichkeiten eine Geschichte zu beenden. Bei Deiner eigenen Geschichte hast Du die Wahl. Niemand hilft dir, Dein Geschichtsbuch zu schreiben. Keiner kann deine Entscheidung verhindern oder rückgängig machen. Du allein entscheidest, ob falsch oder richtig. Du hast die Wahl...