Mittwoch, 26. Oktober 2011

Manuela Jäkel: Frau Boisenbergs Nummer





Die Boisenbergs verbringen bei gutem Wetter jeden Nachmittag in ihren Liegestühlen auf dem gepflegten Rasen hinter der weißgetünchten Villa.Die Liegestühle stehen immer an derselben Stelle, dicht nebeneinander, so dicht , dass die Armlehnen sich berühren. Von den dunkelroten Marmorplatten der Terrasse führen zwei Reifenspuren zum Ruheplatz Frau Boisenbergs. Dort hebt ihr Mann sie aus dem Rollstuhl und lässt sie vorsichtig auf die Liege gleiten, bevor er sich neben sie setzt. „Lass mich doch im Rollstuhl sitzen, das tut deinem Rücken nicht gut, mich dauernd zu heben,“ sagt sie oft. „Aber hier,“ sagt dann Herr Boisenberg und klopft auf seine linke Brustseite, „hier tut’s mir gut, also mache ich’s, solange ich kann.“ Die Meinung der Nachbarschafft ist allerdings, dass seine Fürsorge Herrn Boisenbergs Geldbeutel gut tut. Seine Frau ist sechs Jahre älter als er. Ihr Vater war Chefarzt an einer renommierten Klinik und das Haus, der gepflegte Garten und die kostbaren Marmorplatten gehören genau genommen ihr. „Wenn die mal das Zeitliche segnet, und glauben Sie mir, so wie die aussieht dauert es nicht mehr lange, ist er ein gemachter Mann.“ Das ist Klaras Meinung und der Metzgersfrau widerspricht selten einer. Der, der es wahrscheinlich getan hätte, Herr Boisenberg selber, geht selten einkaufen. Sophie, die Kleine von Bergers mit den Korkenzieherlocken, macht hin und wieder ein paar Besorgungen für die Boisenbergs. Größere Lieferungen werden ins Haus geschickt. Das Ehepaar geht nie auf Besuch und niemand aus dem Ort ist jemals in der Villa gewesen. So sind sie mit den Jahren zum beliebtesten Thema bei den Klatschmäulern der Kleinstadt avanciert. Bis die Aussiedler kommen. Direktor Siebel muss trotz schwerer Proteste seiner Anwälte die ungenutzte Fabrikhalle zur Verfügung stellen. Plötzlich ist wieder Leben in dem alten Gemäuer, huschen Schatten hinter den beschlagenen Fenstern umher, fremde Gerüche und Gesänge dringen auf die Straße. Manchmal geht eines der Fenster auf und blasse Gesichter blicken ernst in die fremde Welt. Lächeln tun sie nur manchmal, wenn die Lennstedter Kinder auf ihrem Schulweg vorbeikommen. Dann winken sie und die Kinder winken zurück. Bis es die Eltern verbieten. Einige sprechen im Rathaus vor, ob es da denn gar keine Möglichkeit gäbe. „Jetzt denken Sie nichts Falsches, Herr Bürgermeister, ich habe ja nichts gegen die persönlich, aber so viele und so dicht dran, verstehen Sie? Neulich stand einer drüben beim Kinderspielplatz und hat die ganze Zeit zu den Schaukeln rübergesehen ...“ Der Bürgermeister rückt unbehaglich an seiner Krawatte und schüttelt bedauernd den Kopf.
Bald sind sie überall: Auf dem Spielplatz, an der Bushaltestelle, auf der Hauptstraße und natürlich beim Einkaufen. Kinder starren, Jugendliche kichern hinter vorgehaltener Hand und Frauen sehen schnell zur Seite, wenn die Fremden im Supermarkt erscheinen, in den Hosen, Röcken und T-shirts aus der kirchlichen Kleiderkammer, blasse Gesichter unter dunklen Haarschöpfen, denen man die slawische Abstammung deutlich ansieht, zu deutlich für die Bewohner einer süddeutschen Kleinstadt. „Irgendwie anders eben.“ Klara spricht es aus, während sie drei Pfund Schweinebraten einpackt und die Kunden im Laden nicken beifällig. Ansonsten versucht man „die aus der Fabrik“ so gut es geht zu ignorieren.
Dann passiert der Vorfall mit den Siebel-Kindern. An der Kasse im Supermarkt gibt es diese leckeren Kaugummis, mit denen man Riesenblasen machen kann. „Bitte greifen Sie zu!“ steht auf einem überdimensionalen Plastikschild. Und der fünfjährige Norbert Siebel greift zu. Im nächsten Augenblick sieht Wilfried, sein älterer Bruder, einen großen Mann in schwarzer Lederjacke auf sie zukommen. Er handelt instinktiv. Seinem Bruder das Päckchen entreißen und es in den Korb eines fremden Mädchens fallen lassen, ist eins. Schon ist der Hausdetektiv da. „Die war’s!“ Wilfried weist energisch auf das zitternde Wesen mit den wasserblauen Augen. „Die war’s, die war’s,“ echot Norbert fröhlich. Alle Augen sind auf das Mädchen und einen hageren Mann gerichtet, an dessen Hosenbeine sich das Kind geklammert hat. Schon geht der Detektiv auf die Fremden zu.
Halt!“ Eine Stimme donnert durch den Verkaufsraum, dass die Marmeladengläser klirren. Niemand hat vorher Herrn Boisenberg bemerkt. Nun steht er vor Wilfried Siebel und brüllt mit einer Stimme, die ihm nicht zu gehören scheint: „Schämst du dich nicht? Dein Bruder stiehlt und du schiebst die Tat einer Unschuldigen in die Schuhe, die sich nicht wehren kann, weil sie unsere Sprache nicht spricht! Pfui Teufel, sag ich, pfui Teufel!“ Und der ruhige, zurückhaltende Mann aus der Nordstadtvilla spuckt tatsächlich auf den Kachelboden im Supermarkt. Doch damit nicht genug. Er geht zu den Fremden hin und lächelt Vater und Tochter freundlich an. „Entschuldigen Sie bitte!“ Gemeinsam verlassen sie die Einkaufshallen. „Recht gehabt hat er ja,“ verkündet Klara am nächsten Tag jedem, der es wissen will, „aber entschuldigen muss man sich bei denen nun nicht gerade. Sonst kriegen die hier noch Oberwasser!“
Von nun an hilft der Fremde den Boisenbergs öfter im Garten. Herr Boisenberg hat im Schuppen ein Brett aufgetrieben und es an zwei Seilen in den Kirschbaum gehängt. Darauf sieht man die kleine Davina oft schaukeln, während ihr Vater die Beete umgräbt. Manchmal spielen sie auch mit Frau Boisenberg am Gartentisch „Mensch-ärgere-dich-nicht“. Als alles zu spät ist, wird sich keiner erinnern wer das Gerücht in Umlauf gebracht hat, aber schließlich ist der neue „Hilfsgärtner“ junger Witwer und er hat so etwas Wildes im Blick. Sie ist zweifellos alt und invalid dazu, aber trotzdem doch gepflegt und natürlich ungeheuer wohlhabend. „Der Alte kann einem beinahe Leid tun,“ meint Ella aus dem Schuhgeschäft, „und dabei hat er den Kerl mit seinen stechenden Augen selber ins Haus gebracht. Die Russen sollen ja brutal sein, aber mancher gefällt’s halt.“ Frau Berger, ihre Freundin, schüttelt nur fassungslos den Kopf. „Auf jeden Fall wird Sophie da nicht mehr hingehen. Wer weiß, was noch alles passiert!“
Es passiert am Samstag Nachmittag.
Sophie wird auf dem Heimweg vom Spielplatz überfallen. Der Täter zerreißt ihr Kleid und nur weil sie wie am Spieß schreit, lässt er von ihr ab. Das Mädchen steht unter Schock und kann keinerlei Beschreibung abgeben. In dieser Nacht marschieren hundert Lennstedter Bürger zur Fabrik. Boisenbergs beobachten die Szene vom Fenster aus. „Asylanten raus, Sexualschweine nach Haus!“ skandieren die Menschen. Dann klirren die ersten Scheiben. „Mein Gott, Davina ist doch da drin!“ Frau Boisenberg umklammert die Armlehnen ihres Rollstuhls. „Und die anderen Kinder, mein Gott, sie werden doch den Kindern nichts tun, oder?“ Ihr Mann nimmt ihre Hand. Schweigend starren sie hinaus. Niemand kann später erklären, warum die Polizei erst eine Stunde später eintrifft. Nur mit Mühe kann sie die Menschen auseinander treiben. Ein Notarztwagen kommt mit heulenden Sirenen heran. Automatisch macht man die Gasse zur Fabrik frei, aber die Ambulanz hält vor der Villa. Frau Boisenberg wird herausgebracht, mit kalkweißem Gesicht folgt ihr Mann der Trage. Im Schein des zuckenden Blaulichts kann man lesen, was an die weiße Fassade der Villa gesprüht steht: RUSSENLIEBCHEN. Auch wer dafür verantwortlich ist, wird niemals geklärt werden. Frau Boisenberg stirbt in der gleichen Nacht an Herzversagen.
Am Morgen erscheint ein Kriminalkommissar im Haus der Familie Berger und informiert Sophies Eltern offiziell über die Festnahme eines Jugendlichen aus der Nachbarschaft. Der Sohn aus gutem Hause hat den Überfall beim Spielplatz bereits gestanden. Es war eine Art Mutprobe, um in die begehrte Clique aufgenommen zu werden.
Eine Woche später wird Frau Boisenberg beigesetzt. „Unter großer Anteilnahme der Bevölkerung“ wird es am nächsten Tag im Stadtanzeiger heißen. „Man muss natürlich hin,“ da sind Klara und Ella sich einig. Die meisten Bewohner haben übergroße Kränze und Blumensträuße bestellt. In der Kapelle stockt ihnen allerdings kurz der Atem. Vor dem Altar steht ein Rabbi. „Na, da soll doch...,“ stottert Direktor Siebel. „Ich hatte keine Ahnung, bei Gott, nicht die geringste,“ antwortet der Bürgermeister halblaut. „Das ist ja vielleicht ‚ne Nummer!“ hört man aus den Reihen der Jugendlichen. „Papa, woher weiß der das mit der Nummer?“ Das ist Sophies ernstes Kinderstimmchen. Sie hat darauf bestanden, heute dabei zu sein.
Welche Nummer meinst du?“ fragt ihr Vater zurück. „Natürlich die auf dem Arm von der Frau Boisenberg! Die geht nie wieder weg, auch nicht beim Waschen!“ Alle Augen sind plötzlich auf Sophie gerichtet, die die Aufmerksamkeit sichtlich genießt. „Die war als Kind in einem Lager, das sah fast so aus, wie die Fabrik hier. „Hiller, glaub’ ich...,“ die Kinderstirn legt sich einen Moment in Falten, dann kommt es stolz: „Jetzt weiß ich’s wieder: Hitler hieß der Besitzer von dem Lager!“ In diesem Moment beginnt der Rabbi die Trauerrede.





Text aus dem Schreibwettbewerb Friedenslesung 2011 des Kulturring in Berlin e.V.

Freitag, 21. Oktober 2011

Johann Peter: Domicella loryx / Mir

Domicella loryx

Auf jenem Archipel in der Südsee,
den der Name des weisen Salomon ziert,
trifft man ein Papageienvolk an,
das - hierin manch verwandter Vogelart ähnlich –
in einem Hautsack am Kehlkopf
Nahrung aufspart.
Die Vögel Salomons aber
zeichnet ein Übriges aus,
denn eh noch, bedingt durch räumliche Enge in ihrem Revier
oder Mangel an Futter,
Gereiztheit, gar Feindschaft, entsteht,
bieten sie in Demut
den Kropf ihrem Nachbarn,
damit er sich labe
und so zum Frieden geneigt bleibt.

Dass für Geschöpfe wie diese
nur ein entlegenes Inselreich taugt,
wundert uns nicht, auch nicht

das leuchtende Rot des Gefieders.



Mir

Lernt, sagten sie einst,
die Sprache des Feindes,
denn er ist euer Freund.
Wir lernten,
vergaßen.
Warum Russisch,
fragt man uns jetzt,
und wir reden von der Größe des Landes,
vom Potential seiner Wirtschaft,
von Dostojewski und Puschkin -
Gründe genug,
Russisch zu lernen.
Aber da ist, sag’ ich,
noch einer, heißt: „mir“.
“Mir“ heißt der Grund,
der mir mehr ist als alle;
“mir“, kleines Wort,
das zwei Dinge vereint,
so nobel und groß,
daß ein Wunder geschieht,
wenn beide sich finden.
Wenn beide sich einen
als Friede und Welt.




Herr Johann Peter Greifenstein-Nenderoth

Text aus dem Schreibwettbewerb Friedenslesung 2011 des Kulturring in Berlin e.V.

Donnerstag, 20. Oktober 2011

Katharina Jäschke: Früher-dort



Auf ihrem täglichen Gang über die endlos flache, küsten­grüne, bis zum Horizont einsehbare Weidelandschaft Nord­deutschlands begleitet die Frau stets das stille Glockengeläut des alten Breslauer Domes. Tag für Tag, Jahr um Jahr geht die Frau hier. Sie ist alt geworden und scheint wie das pastellblass verlaufende Sonnenlicht am Abend langsam zu erlöschen.
Pflichtbewusst hebt sie ihre müden Füße, Schritt für Schritt. Noch immer trägt sie ihre Nachtschatten farbenen Kleider, beschützt von einer ärmellosen Kittelschürze, früher aus grob gewebtem Leinen, heute aus leichtem, in der Sonne stumpf glänzendem Nylon. Abwechselnd erblühen darauf weiße Blümchen auf rosarot, lindgrün oder veilchenblau. Unverän­dert blickt die Frau aus traurig wissenden Augen, steif und unnahbar. Sorgfältig formt sie die weißer gewordenen Haare am Hinterkopf zu einem winzigen, altmodisch gewordenen Dutt. Tief haben sich Falten der Bitternis in ihr bleiches Gesicht gelegt.

Noch immer schiebt sich am Morgen der apfelsinenrote Sonnenball über die tiefe Horizontlinie, spiegeln die Wolken­streifen dieses frühe Licht wie ausgelaufenen roten Wein, und noch immer besänftigen oder bejubeln die am Abend aus dem scheinbaren Nichts erstrahlenden Planeten die Mühsal und die Freuden eines jeden Tages. Auch die alte Frau geht noch immer, ihre Schritte hallen über die Wiesen, so als schreite sie über einen gepflasterten Weg. Noch strebt sie voran. Stolz und verschlossen hütet sie ihr Geheimnis um viele vergan­gene, niemals zu heilende Verletzungen, die sie tief in sich vergraben hat. Ihr Blick scheint oft abwesend und erstarrt, nie schaut sie besänftigend, gütig oder freut sich lachend, schrankenlos. Manchmal scheinen ihre Schritte kürzer und schwerer zu werden, aber noch immer läuft sie ihren täglichen Gang.
Über die Deiche weht oft ein starker Wind aus Nordwest, trägt Wasser für die kommenden Sturmfluten herbei, aber je stärker der Wind drückt, um so deutlicher kann sie von Osten her die verklungenen Glocken hinter unsichtbaren Bergen hören.

Seit dem letzten Jahr wird die alte Frau oft von einem Kind begleitet. Es stolpert, rennt und umspringt die schweigsame Frau, greift immer wieder schutzsuchend nach ihrer großen, starken Hand. Ab und zu weht dann ein flüchtiges Lächeln über ihr Gesicht. Aber selten nur hält sie an, um sich von dem Kind am Wegrand Entdecktes zeigen zu lassen. Schau einmal, die Schafe. Schau einmal, eines ist schwarz. Und ein winziger junger Zeigefinger bohrt sich forschend in die Luft, weist hinüber, auf die von Wasseradern durchzogene Land­schaft, auf die Weide, zu den Deichen.

Gleichmütig, unbeirrt setzt die Frau ihren Gang festen Schrittes fort. Sie geht so, wie sie immer, seit ihrer Mädchen­zeit, gegangen ist. So, als müsste sie noch heute ein tägliches Ziel unbedingt und pünktlich, ohne vom Weg abzuweichen, erreichen.

Manchmal redet die Frau in einer dem Kind unbekannten Sprache, erzählt ihm Geschichten von einem fremden, fernen, scheinbar untergegangenen Land. Das Kind nennt es: früher dort. Gemeinsam entdecken sie dieses Land mit den anderen Sommern und den anderen Wintern, erkunden es wie eine noch unerforschte, kristallglitzernde Höhle. In diesem früher dort finden die fremden Laute ein freundlich tönendes Echo und sie verhallen schwerelos, wie ein bunter Regenbogen. Aber schon das plötzliche nahe Bellen eines Hundes kann das Kind wieder von der Frau entfernen, es blickt auf und sieht in eine lockende Zeit voller Lärm, vertrauter Stimmen, reizvoller Gerüche und greifbarer Dinge.
Oft beobachtet das Kind die alte Frau, wenn sie mit Menschen redet, die wie sie aus diesem fernen Land stammen. Es hört die Worte, deren Sinn es nur bruchstückweise erraten kann. Neugierig saugt es diesen melancholischen, rätselhaften Klang in sich auf. Es beobachtet, wie die Alte immer wieder die gleichen Geschichten erzählt, die in dem fremden Land mit den vielen unbekannten Menschen spielen. Das Kind ahnt, dass die fröhlichen Geschichten immer nur ein zusammenhangloser Abschnitt aus einer vergangenen Zeit, dass sie lückenhafte, kleine junge Lebensfetzen der alten Frau sind, dass in die Fröhlichkeit ein nicht zu zerreißendes Netz aus Wehmut und Bitternis gewoben ist und dass die fehlenden Mosaiksteine unaussprechlich und unerfragbar sind und nur in dieser ihm so fremd klingenden Sprache andeutungsweise genannt werden dürfen.
Das Kind steht abseits, die Höhle ist jetzt verschlossen. Es fühlt sich schuldig, weil es Worten lauscht, die Schlimmes bezeichnen und vorsichtig Schmerz andeuten, Worte wie: der Krieg, der Russe, der Pole, die Flucht, damals, früher dort. Unerlaubte Worte sind es, Worte nur für Erwachsene.

Das Kind wird die alte Frau noch einige Monate auf ihrem Weg begleiten, wird dann, wie ein Junge Jahre zuvor eine Zeit lang auf einem kleinen Fahrrad neben der Alten radeln, dann aber immer seltener neben ihr zu sehen sein und eines Tages ganz ausbleiben. Auch für dieses Kind wird die Zeit beginnen, in der es den ewig gleichen Erzählungen der Alten nur noch ungeduldig lächelnd folgen wird. Eines Tages wird das Kind es zum ersten Mal wagen, den vorsichtigen Redestrom der Alten schon am Anfang zu unterbrechen, um den Schluss, den es nun schon oft gehört haben wird, vorwegnehmend selbst zu erzählen. Das Kind wird davonstürmen, sich nicht mehr in der Höhle verkriechen, es wird leben wollen in seiner eigenen, lebendigen Welt.

Noch immer geht die alte Frau ihren Weg, einsam hört sie die verklungenen Glocken vom Breslauer Dom. Täglich noch trotzt sie dem Wind des norddeutschen Flachlandes. Ihr Kleid ist schwarz geworden, nur die bunten Farben ihrer Schürze wechseln, wie der Mond vom Neumond zum Vollmond und wieder zum Neumond wird.
Sie zählt die Verstorbenen, trifft immer seltener Lebende, um sich mit den von ihrer Kindheit her vertrauten Klängen zu umhüllen. Immer weniger wird sie von früher erzählen und das Glockengeläut vom Breslauer Dom wird schwächer gegen den scharfen Nordwestwind zu hören sein. Bald wird es verstummen und die alte Frau wird nicht mehr die frisch ausgehobenen Gräber zählen, sie wird endlich angekommen sein.



 Frau Katharina Jäschke Wiesbaden;


Text aus dem Schreibwettbewerb Friedenslesung 2011 des Kulturring in Berlin e.V.

Mittwoch, 19. Oktober 2011

Carmen Gauger: Celan u.a.


Celan


Im Alp der Suchjahre
zerklimmst du
muttergerissen
heimattot
den blauaschigen Abhang zum Shoahhimmel
und knirschst die zerstobenen Väter
den Wegsöhnen
ins losinnernde Hirn

Dein Bittermesser
schabst du
orakelblass
frevelnd
an der gehäuteten Liebe der Deinen
für die Gehenna kein Ort ist
du Wegströmender
Seine aufwärts





Wildapfelbaum


Schlanke Stämmchen spalieren
feldsäumend auf schmaler Allee
jenen wilden Apfelbaum
der jährlich die Vögel rief
und mit rotweißen Blüten
auf kahlen spitzen Stielen
dem Urahn Frühling verhieß
Bienenweide seine Krone

Unter schattigem Laubdach
tanzten kleine Holzäpfel
dankbar den Erntereigen
mit den Kindern des Gutes
ehe auf ihre Schürzen
die Gabe des Baumes fiel

Jegliche Wetter schlugen
schwächten den wilden Apfel
der mit knorrigen Armen
und verdornenden Fingern
die ihn vorm Wild schirmenden
Büsche und Sträucher schützte

Als seine graubraune Rinde riss
stieß er den Rumpf erdwärts
wie ein vom Wetter gegerbter
ausgedienter Tagelöhner
sich festklammernd am Leben
das er Jahrhunderte hielt

Ein Schauspiel den Gaffern
die auch den Sterbenden
im Netz leuchtend ausstellen
auf dem geborstenen Stamm
Sprösslinge der Voyeure
triumphierend wie Sieger

Als ich gestern den Baum sah
auseinandergebrochen
wusste ich
die schmächtigen Stämmchen
werden sich seiner erinnern
mit großen Äpfeln werfend


Linden

Auf meinem Wanderweg
Tret ich ins kühle Längshaus ein
Besäult von Linden
dreimal so alt wie ich
Und ihre Wurzeln brüten schon am Seitenschiff
Und ihre Früchte warten auf den Wind
Um anderswo ein neues Haus zu gründen
Doch selten noch findst du die eine
Die Dörflern neugierig
Dach und Podest gewesen ist
Wo man auf Brautschau ging
Und seiner Liebsten eine Myrte flocht
Wo eine Obrigkeit die Säumigen zur Ordnung rief
Und mit dem Schwerte richtete
Der Blütenduft der Linde hat manches Urteil mildern können

Nach Kriegen pflanzt man eine Friedenslinde
Den Baum der Liebe und der Eintracht
Und aus der Freya Linde wurd` lignum sacrum
Im Rosenkranz Maria
Des Riemenschneiders letztes Bild
Zu dem wir steigen
Mühselig und beladen
Um uns zu laben
In heißer Sommerszeit in Franken






Frau Carmen Gauger Dettmannsdorf

Text aus dem Schreibwettbewerb Friedenslesung 2011 des Kulturring in Berlin e.V.

Dienstag, 18. Oktober 2011

Lotte Brügmann-Eberhardt: "Weltfrieden"

Ich schrieb „Weltfrieden“ auf und wusste nicht,
wie abstrakt dieses Wort ist.

I
Damals hatte jeder von uns ein Freundebuch. Seitenweise, bücherweise Freunde – stolze Sammlungen von menschlichen Briefmarken gingen auf dem Schulhof um. Ich liebte diese Fragenkataloge, die alles und nichts von einem wissen wollten. Zwischen Lieblingssänger und Leibgericht war die Welt noch in Ordnung und ist sie auch heute noch.
Ich blättere durch die Seiten mit gesichtslosen Menschen, Freunden – „Foto reich ich nach“. Noch heute warte ich auf eines ihrer Gesichter, das nachgereicht wird, Augen lächeln mich an und sagen, welche Farbe am besten riecht. Und vielleicht würden sie zugeben, dass die Dinge anders gekommen sind als erwartet, dass „Weltfrieden“ ein viel zu unvernünftiger Begriff für die Mein-größter-Wunsch-für-die-Zukunft-Zeile ist. Auch ich hatte dieses furchtbar abstrakte Wort aufgeschrieben. Ich muss lachen, wenn ich es heute lese.

Merkwürdig, was für eine Art Realismus uns die Welt lehrt. Die Vernunft verbietet selbst das Sich-Wünschen. Fast unvernünftig, sich etwas nicht zu wünschen, nur weil die Vernunft sagt, es sei aussichtslos – so nimmt die Vernunft uns die Aussicht auf Erfüllung und unsere Liebe zur Vernunft nimmt die Aussicht auf die Aussicht auf Erfüllung. Unsere Wünsche bleiben unerfüllt, das Unerfüllbare wird zur Posse. Der Mensch als vernunftbegabtes Wesen lernt, über das Wort „Weltfrieden“ und die, die es ernstgemeint in den Mund nehmen, zu lachen.
Er lacht über sich selbst.

II
Heute lache ich über Filme, in denen es ein Happyend gibt, schalte aber die Nachrichten weg, um sie zu sehen. Ich will keinen Krieg sehen, keine Aufstände und Attentate. Ich will nichts wissen von Hass und Menschenverachtung, will keine Terroristen und Staatsoberhäupter, will nicht die verlogene Wahrheit, will wahre Lügen. Will mich von den Medien betrügen lassen, will Weltfrieden. Konsumierbaren Weltfrieden. Nicht den, den ich als Kind wollte, nicht den, an den man glauben kann.

Wenn einer im Film sterben muss, das ist Film, das ist nicht echt, alles Ketschup. Wenn einer in den Nachrichten sterben muss, wenn ganz viele sterben müssen, das kann man nicht abschalten. Man kann die Unmenschlichkeit nicht abschalten.
Es gibt keine Fernbedienung, auf der „Weltfrieden“ steht.


Wir müssen die Welt mit unserer Vernunft erfassen oder mit der Television. Müssen versprachlichen und abstrahieren, müssen in Formeln fassen und deuten, müssen filtrieren und umschreiben, müssen ausradieren und neukreieren – die Augen vor dem Eigentlichen verschließen. Was-ist-wenn-Fragen, philosophische Dilemmata, unlösbare Gleichungen – die eine-Millionen-Euro-Frage lautet: „Gibt es den Weltfrieden? – ja, nein, vielleicht, ich mag Toastbrot.“ Ich überlege, ich schließe aus, ich kombiniere:

Es gibt kein Synonym.
Es gibt keine Relativierung.
Es gibt keinen Beweis für seine Existenz.
Also gibt es keinen Weltfrieden.

Ich löse die Frage, von meinem virtuellen Gewinn kaufe ich mir virtuelles Glück. Wen stört es, dass es keinen Weltfrieden gibt, wenn man Pay-TV haben kann. Mein Lieblingsfilm, meine Lieblingsserie – Lachend folge ich dem Regenbogen in mein Lieblingsleben. Ich reibe an einer Wunderlampe und habe drei Wünsche frei. Ich weiß nicht, was ich mir wünschen soll, jetzt, da ich zwischen 200 Sendern wählen kann.

III
Das alte Freundebuch liegt aufgeschlagen vor mir. Ich lache, „Weltfrieden“ ist so ein abstraktes Wort. Fast alle meiner dokumentierten Freunde haben es aufgeschrieben. Ich wünschte, sie hätten ein Foto nachgereicht, damit ich in ihren Augen sehen könnte, dass sie es wirklich ernst meinten. Das wäre besser als Fernsehen, das wäre echt. Ich frage mich, ob ich einen von ihnen wiedererkennen würde – auf dem Foto erkenne ich mich selbst nicht. Auch meine Schrift hat sich verändert, meine Worte und die Gedanken zwischen den Worten. Heute würde ich nicht mehr „Weltfrieden“ in die Mein-größter-Wunsch-für-die-Zukunft-Zeile schreiben.

Der Flaschengeist wartet geduldig auf meine Antwort. Was wünsche ich mir? Ich will nicht, dass er über mich lacht. Mich auslacht für meine Wünsche. Die Werbung lebt vor, was man sich zu wünschen hat, den Rest zeigen Filme. Lieblingsfilm, Lieblingsserie.

Mein Freundebuch ist nie ganz voll geworden. Ich habe nie gut genug gesammelt. Eines Tages ist man zu alt für Freundebücher. Wenn ich die Nachrichten anschaue, denke ich, es wäre sicherer, wenn man wieder eins hätte. Was wäre wenn – und ich weiß nicht einmal, ob sie eine Lieblingsfarbe hatte. Ich nehme mir vor, die Welt zu verändern und gebe mein Freundebuch an jemanden, den ich „Freund“ nenne.

Freund“ ist ein furchtbar abstraktes Wort.

Als ich es zurückbekomme, lese ich in der Mein-größter-Wunsch-für-die-Zukunft-Zeile:

  1. dass es noch Menschen gibt, die sich Weltfrieden wünschen.
  2. dass niemand über Menschen lacht, die sich Weltfrieden wünschen.
  3. dass Menschen, die sich Weltfrieden wünschen, nicht über sich selbst lachen.

Ich begreife, dass das fast erfüllbarer Weltfrieden wäre – vernünftiger Weltfrieden, doch der Flaschengeist ist verschwunden, kein Pay-TV, keine virtuelle Millionen, denn meine Antwort war falsch:

Es gibt keinen Beweis für seine Existenz, aber jemanden, der sich „Freund“ nennt und eine Anleitung hat. Vielleicht scheitert sein Experiment, vielleicht liegt er falsch, vielleicht ist es unvernünftig – vielleicht gibt es Weltfrieden.











Lotte Brügmann-Eberhardt Kiel


Text aus dem Schreibwettbewerb Friedenslesung 2011 des Kulturring in Berlin e.V.

Samstag, 15. Oktober 2011

Werner Simon: Bombeunser


Atombombe unser auf Erden,
Gefürchtet werde dein Name.
Dein Reich komme,
Dein Wille geschehe,
wie vom Himmel so auf Erden.
Unsere tägliche Bedrohung gib uns heute.
Und erinnere uns an unsere Schuld,
wie auch wir mahnen unsere Schuldiger.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn Dein ist ein Weltreich an Strahlkraft
und die Herrlichkeit in Endlichkeit.
Amen.



Text aus dem Schreibwettbewerb Friedenslesung 2011 des Kulturring in Berlin e.V.
Herr Werner Simon Waltersberg

Sonntag, 9. Oktober 2011

Horst Decker: Auf Marsch. Marsch (u.a.)


Auf Marsch, Marsch


Links – rechts, links – rechts, links – rechts marsch,
dem Vordermann, dem geht der Arsch,
der Hintermann hat weiche Knie,
es lebe hoch die Infantrie.

Eins – zwei, eins-zwei, eins – zwei Los,
dem Seitenmann durchweicht die Hos‘.
Der Flügelmann, der ist schon tot,
er war ja auch ein Vollidiot.

Pitsch – patsch, pitsch – patsch, pitsch – patsch Fall,
wer hier noch kämpft, der hat nen Knall.
Ich lass mich fallen eh ich muss
und warte auf den letzten Schuss.

Zum Helfen ist es hier zu spät,
nur einer von den ‚Feinden‘ steht.
Wir schauen beide ringsherum,
wir waren schlau, die andern dumm.

Dann geh’n wir Arm in Arm vom Feld,
das Töten ist nicht uns`re Welt,
denn Sterben, das gehört dazu,
drum ist der Krieg für uns tabu.






Tanz und Tod


Tanz, Matrose tanz,
dein Schiff legt morgen ab,
noch sind die Knochen ganz,
noch liegst du nicht im Grab.

Noch siehst du in das Lachen,
es klingt dir heimatlich,
bald schaust du in den Rachen
und weißt er frisst auch dich.

Denn, wo dein Schiff dich ausspeit,
dort bist du unbeliebt.,
man sagt, du schlichtest einen Streit,
den’s ohne dich nicht gibt.




Kriegswesen

Schritte, Schritte, laute Tritte,
so marschiert der Krieg herbei,
hoch zu Ross in seiner Mitte,
ist der Tod erfreut dabei.

Rennen, rennen, dabei flennen,
Kinder suchen ein Versteck,
jene die die Flucht verpennen,
liegen später tot im Dreck.

Lachen, lachen froh erwachen
davon träumt die halbe Welt,
viele könnten‘s möglich machen
ging’s bei ihnen nicht um’s Geld.







Text aus dem Schreibwettbewerb Friedenslesung 2011 des Kulturring in Berlin e.V.
Herr 
Horst Decker Ranstadt 

Mittwoch, 5. Oktober 2011

Volker, Erhardt: friedenspflicht



wir
müssen unseren kindern
den frieden erklären

damit sie
nie anderen
den krieg erklären



Text aus dem Schreibwettbewerb Friedenslesung 2011 des Kulturring in Berlin e.V.
Herr 
Erhardt Volker Hamburg 

Montag, 3. Oktober 2011

Andre Steinbach: Babyn Jar (u.a.)



Vergossene Tränen, verloren,
versickert in der Vergangenheit
wie früher Schnee

Kein Grab, kein Stein,
nur die Erinnerung,
ausgelöscht die Namen,
unvergessen das Leid

Die Birken im Wäldchen
verschlucken sich an dem Licht,
nur die Blätter verdecken die Sonne
mit traurigen Augen

Angst verbreitet sich stumm,
der Abgrund liegt endlos
am Rand der Grube,
nur stumpfe Augen,
nur lautlos die Münder

Die Schüsse verklingen im Tag,
erbarmungslos,
das höhnische Gelächter
aus Uniformen ohne Gesicht.
Kein Vogelgesang mehr,
kein Rauschen im Wald

Doch die Erinnerung schläft nicht,
jetzt, in friedlichen Zeiten,
ermahnt und die Geschichte,
zum Verzeihen ohne Verdrängen





Frieden in uns

Wir brauchen Frieden,
Erinnerung und Erkenntnis,
unbeugsam.
Gedanken, die sich nicht verdrängen lassen,
die stets neu erscheinen,
langlebig,
die uns einkreisen, uns heimsuchen,
uns Hoffnung schenken,
die unsere Suche vereinen,
nach Frieden.
Sehnsucht, die alles andere ausschließt,
Angst, die uns lähmt,
Hass, der die Seele zermürbt,
stört diesen Frieden,
vergiftet unsere Gedanken
an eine bessere Zukunft.
Der Frieden in uns ist die Liebe,
offen, ohne Vorurteile, endlos
und täglich neu.






Friedliche Zeiten

Ich betrachte die Steine am Wegesrand.
Friedlich liegt über mir wolkenleicht
Tagesschimmer.
Wegweisend das Rauschen der Bäume
im stillen Wald.
Einsame Ruhe, durchzogen mit Vogelstimmen.
Leises Gezwitscher im Blattgrün,
sanftes Murmeln des nahen Baches,
auf dem gefallene Blätter
tanzen
zu unhörbaren Melodien.
Der Tag ruht in sich selbst,
wie eingebettet im silbrigem Schnee
vereinzelter Wolken,
leuchtend im azurenen Himmel.
Tag um Tag reiht sich in mir
wie aufgezogene Perlen,
zeigen mir wissend den Weg,
wo Frieden herrscht,
ohne Furcht vor
düsteren Zeiten,
ziehen leise Vögel ihre Kreise
jetzt einsam im Abendlicht.




Text aus dem Schreibwettbewerb Friedenslesung 2011 des Kulturring in Berlin e.V.
Herr 
Andre Steinbach Zittau 

Donnerstag, 29. September 2011

Klaus Landahl: Perpetuum Mobile



auf den trümmern der welt
strecken sie die beine aus
behaglich
genießen sie
ihr leben
weil sie die guten sind
töten sie nur chirurgisch
dreißig kinder waren dabei
hoppla
aber die ölquellen sind intakt geblieben
auf den trümmern der welt
strecken sie die beine aus
behaglich
genießen sie
ihr leben
weil sie die reichen sind
weil ihre ölquellen intakt geblieben sind
weil dreißig kinder
leicht zu verscharren sind
weil die scheinwerfer der medien
längst weitergezogen sind
auf den trümmern der welt



Text aus dem Schreibwettbewerb Friedenslesung 2011 des Kulturring in Berlin e.V.
Herr Klaus Landahl Halstenbeek

Mittwoch, 28. September 2011

Ursula Kramm-Konowalow: M.e.n.s.c.h.e.n.g.l.ü.c.k


dass ich frei bin
über die Erde zu gehen

dass du frei bleibst

mit mir über die Erde
zu gehen und ein Haus
hast zu leben und
ein Wort mich zu bitten
als deinen Gast an
deinen Tisch auf den du
mir ein Brot und Wasser
stellen kannst und
ich eine Gabe habe für uns
und wir frei sind in
einem Haus zu ruhen
wo deine Träume niemand
stört und weder du noch
ich sich verbergen oder
aufschrecken müssen
von den Schreien oder
der Gewalt anderer

dass ich friedvoll bin
Kinder zu haben und
zu kleiden ebenso
zu nähren mit Brot wie
Worten und Träumen
und ich Tiere
nicht quälen muss und
die Wälder nicht
niederbrennen weder
hier noch dort
Friedenstaube 1, Seite 2

denkst du

das ist doch nicht genug

zu klein und zu gering

nur Haus Brot Wasser Kinder
Wälder Blumen und Tiere zu haben
und Worte zum Bitten oder Schenken
und den Himmel friedvoll
jede Nacht sehen können
die Sonne am Morgen leuchtend
den Fluss und das Meer fließend
Berge und Tal blühend

dann weißt du nicht
und wir wüssten nicht
wenn dies zu wenig ist
und ein zu kleiner Frieden
für einen Menschen
dass Menschenrecht
erst wirklich Recht ist
wenn jeder Mensch
vom Tage seiner
Geburt an besäße:

ein Dach ein Bett ein Brot
und Wasser auf dem Tisch
ebenso Regen Himmel Hoffnung
dazu lachende Kinderträume
unter Bäumen und Wolken
und Worte der Liebe und Treue






Poetische Übergänge


Komm´ wir erfinden eine Brücke,
nicht aus Eisen, Holz und Stein,
friedvoll soll die Brücke sein.

Komm´ wir träumen von der Brücke,
über Berge, Flüsse, Orte wird sie gehen,
ohne Pfeiler und Fundamente stehen.

Komm´ wir errichten solche Brücke
nur aus Wörtern, Klang und Laut
in den Sprachen aller Länder aufgebaut.

Horch´ wir lernen in anderen Sprachen
was heißt Brücke, Frieden, Holz und Stein,
Berge, Flüsse, Städte, dein und mein.






Frau Ursula Kramm Konowalow, Kuhsdorf 
Text aus dem Schreibwettbewerb Friedenslesung 2011 des Kulturring in Berlin e.V.

Sonntag, 25. September 2011

Ulla Gessner Har-Gil: Raketen und Orangenblüten


Soll ich bleiben?
Soll ich weggehen?

Ein Hagelguss macht lärmend die Straße weiß.
Von Gaza werden Raketen nach Israel geschossen.
Ich höre Militärflugzeuge in Richtung Gaza fliegen.
Im Radio wird von einem neuen Bombenattentat in Jerusalem berichtet.

Der kurze israelische Frühling hat seinen Höhepunkt erreicht. Überall grünt es, blüht in allen Farben. Orangenblüten verströmen ihren betörenden Duft. Der Himmel ist blau und wolkenlos, das Meer lockt.
Sonnenhungrige spazieren am Schabbat überall auf den Straßen. Sie lachen, sie scherzen, sie umarmen, streiten und küssen sich. Arabisch, Russisch, Hebräisch ertönt auf der Strandpromenade nebeneinander. Auf den Wiesen werden Kindergeburtstage unter leuchtenden Luftballons in den Bäumen gefeiert.

Vor meinem Fenster spielen zwei Honigsauger. Sie flattern glitzernd auf und ab, hüpfen über- und untereinander her, umrunden die elektrischen Leitungen, um für eine Sekunde darauf zu verweilen, wieder abzuheben und trillernd diesen Kreislauf von Neuem beginnen. In der kleinen, palmenumsäumten Straße ist Pferdegetrappel zu hören. Ein Mann ruft und sucht "Alte Sachen". Die Nachbarin von gegenüber erntet Zitronen.
Ich greife zu der Bleibemaske an der Wand, setze sie auf mein Gesicht. Mit ihr sehe ich nur das Schöne und Gute.
Da möchte ich bleiben und mich freuen.

Zwei Riesenkrähen sind auf den grünen Leitungen vor dem Fenster gelandet. Sie vertilgen ihr Frühstück. Zwei Taubenjunge. Die Tauben sehen gelassen von gegenüber zu. Eine Krähe frißt langsamer. Da reißt ihr die andere das letzte, noch zitternde Beutestück aus dem Schnabel. Kreischend, mit waberndem Schnabel, aus dem Blutstropfen auf die Straße fallen, fliegen sie davon. Die Nachbarin von nebenan schüttet ihren Müll aus dem Fenster. Der untere Nachbar schreit empört zu ihr hoch.
Ich nehme die Weggehmaske von der Wand, setze sie auf mein Gesicht. Mit ihr sehe ich nur das Schlimme und Böse.
Da möchte ich weggehen und bin frustriert.

Ohne die Masken sehe ich beides. Das Gute und das Böse.

Soll ich bleiben?
Soll ich weggehen?
Wie eine Entscheidung treffen?

Nach einer unruhigen Nacht wache ich auf und schalte das Radio ein. In den Nachrichten wird berichtet, dass wieder einmal eine Gruppe israelischer Intellektueller und Künstler ein öffentliches Forum gegründet hat zur Wahrung der Menschenwürde. Es geht ihnen darum, die Menschenwürde als einen universellen Wert zu schützen und nicht allein als einen jüdischen. Es ist ein arabisches und jüdisches Forum.
Ich stehe auf, betrachte die beiden Masken an der Wand, lasse sie hängen. Auf der Leitung draußen schmettert ein Honigsauger sein Morgenlied.
In der Küche duftet es nach arabischem Kaffee mit Kardamom.

Am Nachmittag treffe ich mich mit einem Freund auf dem Rothschildboulevard, wo die Künstler und Intellektuellen demonstrieren. Umringt von Polizisten reden sie durch ein Megaphon. Erhöht steht eine Handvoll Ultrarechter. Sie schwingen riesige israelische Fahnen, die alles überschatten. Ihr Schrei "Israel ist unser" übertönt die Friedensbotschaft. Kein Polizist hält sie auf. Ein paar Mopedfahrer halten mitten auf der Straße mit lärmendem Motor an und jubeln den Fahnenschwingern zu. Ein bekannter israelischer Schriftsteller geht unverdrossen durch die Menge, gibt uns lächelnd die Hand mit dem Friedensgruß "Shalom".

Ach, wer es könnte, dem Shalom, dem Frieden in diesem Land Leben einhauchen!





Frau Ulla Gessner Har-Gil Tel Aviv 
Text aus dem Schreibwettbewerb Friedenslesung 2011 des Kulturring in Berlin e.V.



Dienstag, 6. September 2011

Ursula Gressmann: Rechtfertigung


unwissend
sind wir nicht
doch
eine schützende wand
aus bequemlichkeit
und gewohnheit
umgibt uns
was gut
was böse ist
bestimmen wir selbst
und sprechen uns
frei von schuld



Dieses Friedenslesungsgedicht wurde durch die Autorin gesondert zur Veröffentlichung in diesem Blog freigegeben.



Donnerstag, 1. September 2011

Mario Tomašegović: Sieben Kerben


„Meiner ist fünfundzwanzig Zentimeter“, tönte Goran, „habt ihr nur Zierfische zu bieten?“
Die Männer um ihn herum schielten auf ihre Stiefel.
„Ihr Luschen, solange keiner einen größeren aus dem Meer zieht, dürft ihr mich Poseidon rufen.“ Goran reckte einen Köcher wie ein Zepter in die Höhe. Blau-silbern glitzerte darin eine Sardine.
Das Meer war aufgewühlt und warf Schaumkronen gegen die Küste, die Luft war frisch und salzig und roch nach gegrilltem Fisch.
Goran schulterte seinen Rucksack und trottete über die Hafenpromenade zum „Matrosen“. Er fand einen Tisch im Freien.
Die ersten Sonnenstrahlen des Frühlings kribbelten auf seinem Gesicht. Warm und weich wie Annas Küsse. Goran mochte das Hafenrestaurant mit dem Blick auf die „Insel der Verliebten“. Manchmal pflügten im Frühjahr Delphine durch die Bucht, schnellten meterhoch aus dem Wasser, stießen Klicklaute aus und begleiteten die Fischerboote. Sein Großvater hatte ihm auf vielen Fahrten beigebracht: Füttere die Delphine, dann füttern sie dich.
Goran erinnerte sich gut an einen nebelverhangenen Morgen. Stundenlang begleiteten sie eine Gruppe Tümmler, bis sie auf einen Makrelenschwarm stießen. Die Augen seines Großvaters leuchteten. Er entkorkte einen „Plavac“ und stimmte das „Lied von Maria“ an.
Der Kellner unterbrach die Melodie aus einem anderen Leben. Räuspernd stellte er ein Glas Weißwein ab.
Goran gab ihm die Sardine. „Sag Ante, er soll mir einen Traum zaubern.“
Er lehnte sich zurück und musterte die Gäste. Im Schatten einer Dattelpalme saß ein Priester. Vor ihm eine Ausgabe der „Katholischen Wochenchronik“ und ein Likör.
Im Anfang war die Lüge und die Lüge war bei Gott und Gott war die Lüge. Goran sah sich verstohlen um, als hätte er eine Todsünde begangen. Er wischte sich Schweiß von der Stirn und mit ihm den ketzerischen Gedanken.
Am Eingang hockte ein alter Mann, in den Händen eine Mandoline. Ein schlohweißer Bart und langes, zerzaustes Haar verliehen ihm das Aussehen eines Propheten. Er erinnerte Goran an die Skulptur des Jeremias am Portal der Kapelle von St. Michael.
Der Alte wischte sich mit dem Handrücken die Nase ab und übte einige Akkorde. Er summte eine Melodie und spielte die ersten Töne von „Maria“. Eine männliche Stimme erschallte. „Maria, deine Augen wie zwei glühende Sterne, glitzern wie Diamanten aus der Ferne, dein Lachen wie die Sonne, deine Lippen eine Wonne. Eine Liebesgöttin entsteigt dem Meer, entfacht aus Leidenschaft ein Heer. Wie ein Rausch kommst du über mich, Passion Maria nenn’ ich dich.“
Der Kellner knallte dem Alten eine Literflasche selbstgebrannten Slibowitz auf den Tisch und der Mandolinenspieler verstummte.
Goran nickte ihm anerkennend zu. Wer war seine Maria, fragte er sich und dachte an Anna und die Nächte auf der „Insel der Verliebten“. Sah ihre leidenschaftlichen Augen, schmeckte das Salz auf ihren Brüsten, hörte ihr Keuchen unter dem Mandelbaum. Wie lange war es her?
„Hier kommt die leckerste Sardine zwischen Zadar und Zaton.“
Ante, der Koch des „Matrosen“, riss Goran aus seinen Tagträumen.
Er stellte den Teller auf den Tisch und zog die struppigen Augenbrauen nach oben. „Mit Knoblauch und Rosmarin mariniert, ein paar Tropfen Olivenöl und dann zart gegrillt. Dazu frischer Mangold und Pellkartoffeln!“
„Komm in dreißig Minuten wieder“, raunte Goran „dann verrat’ ich dir, ob du gefeiert oder gefedert wirst.“
Der Koch zog eine beleidigte Miene und verschwand.
Die Sardine schmeckte nach der unendlichen Weite des Meeres. Mangold und Kartoffeln schmolzen auf der Zunge, kitzelten Kindheitserinnerungen wach. Goran am Strand mit dem Großvater. Die aufgehende Sonne an einem kühlen Morgen. Der Gesang der Matrosen. Frische Miesmuscheln. Der Geschmack von Freiheit.
Goran fühlte sich lebendig und leicht und unbesiegbar. Jeder Atemzug hielt, was das Leben versprach.
„Kamerad, is‘ noch frei?“
Eine müde Stimme drang an Gorans Ohr. Ein von Brandnarben durchzogenes Gesicht tauchte auf. Ein Gefühl der Beklommenheit klebte auf der Stirn wie die Schweißperlen auf dem kahlrasierten Schädel.
„Setz dich“, erwiderte Goran, „du bist eingeladen.“
„War tagelang jagen, hinter’m schwarzen Fluss. Hab’ jede Nacht von `nem kühlen Glas Wein geträumt.“ Der Junge wischte sich mit dem Ärmel über Mund und Stirn. Das linke Auge zuckte wie ein Metronom. „Wo jagst‘n du?“, fragte er. Mit Daumen und Zeigefinger formte er einen Kreis, sah hindurch, als zielte er durch ein Fadenkreuz.
Goran schaute in glasige Augen, wie er sie tausendfach gesehen hatte, seit dem Tag als alles begann. Leer und starr. Wie die Augen einer Sardine, wenn man sie aus dem Netz zieht und sie nach Luft schnappt. Er schluckte eine Antwort runter. Es ging nie zu Ende. Ein Leben im Fadenkreuz. Ein Leben, an dem der Gestank des Todes klebte.
Der Kellner brachte ein zweites Glas. Goran schenkte ein. Einige Tropfen verspritze er auf den Boden. Als Gabe an die Heiligen. Wie sein Großvater es immer getan hatte.
„Lass uns auf’n Jubiläum anstoßen.“ Der Junge hob sein Glas.
Den linken Arm stieß er in die Höhe. Es fehlte die Hand.
„Vor zweihundert Tag‘n hab’ ich sie verloren.“ Er küsste den Stumpen und streckte ihn in Richtung des Geistlichen. „Gepriesen sei der Herr!“
Der Priester bekreuzigte sich. Aus der Innentasche der Soutane zog er einen Rosenkranz und legte ihn auf den Schoß.
Goran wischte sich mit einer Serviette Schweiß von der Stirn. Er rieb die vernarbten Striemen am Hals. „Aus welchem Dorf kommst du?“, fragte er.
„S’ existiert nicht mehr.“ Der Junge blickte in das Weinglas, als würden darin Bilder der Vergangenheit auftauchen. „Mit der Ziegenherde war ich ob‘n in den Hügeln. Plötzlich `s schrille Pfeifen und die Einschläge. Hab’ mich versteckt. Überall Explosionen und Feuer. Die Häuser brannten lichterloh. Die Luft glühte. Die Hitze drang bis zu meinem Versteck und verbrannte mir die Haut. Stundenlang Blitze. Stundenlang. Mate, Ante, Mutter, Vater, suchte in den Trümmern, meine Hand, ich…“ Der Junge biss sich auf die Unterlippe. Das Glas in seiner Hand zersplitterte und schnitt sich tief ins Fleisch.
Goran sprang auf und verband die Wunde mit einer Serviette. Er legte dem Jungen einen Arm um die Schulter.
„Wir haben alle unseren Scheiterhaufen.“ Goran richtete die Worte an die verdreckten Jackenknöpfe des Jungen, als fürchtete er, bei einer Lüge ertappt zu werden. „Entweder lernen wir, mit dem Feuer zu leben oder wir verbrennen.“ Die Striemen an seinem Hals schwollen an und pulsierten. „Die Dinge sind nicht so, wie wir sie sehen und empfinden, sie sind so, wie der Tod sie uns lehrt.“
„Der Tod is‘ mein einziger Freund“, platzte es aus dem Jungen heraus, „mich hat er am Leben gehalten.“ Er hob sein Gewehr vom Boden und knallte es auf den Tisch. Mit den Fingerkuppen fuhr er über dünn eingeritzte Kerben am Kolben. „Hab’ sieb‘n g‘schafft“, zitterte er, „sieb‘n Schatten für meine Hand.“ Schweißtropfen rannen über sein Kinn und fielen auf seinen Schoß. Trotz der Hitze knöpfte er die Jacke bis zum Kragen zu. Mit dem Daumen strich er über die letzte Kerbe. „Sieb‘n“, flüsterte er.
Goran starrte auf den Stumpen und kratzte die Striemen am Hals.
Der Kreislauf der Erniedrigungen fand kein Ende. Seit dreihundertsiebzehn Tagen spuckte das Leben ihm Verachtung ins Gesicht. „Was hat das sinnlose Töten uns eingebracht?“, fragte er und rieb sich die geröteten Augen, „die Tage hinter uns das Grauen, die Tage vor uns eine Lüge. Wir sind eine verbrannte Generation.“
Müde schulterte er sein Gewehr und den bleischweren Rucksack. Fischkonserven, Brotwecken, ein Messer, Ersatzpatronen und ein Band von Pablo Neruda als Begleiter durch einen ewigen Alptraum.
„Leb wohl.“ Er reichte dem Jungen die Hand.
Der machte eine abfällige Geste und streckte dem Geistlichen den Stumpen entgegen.
Goran rannte zum Strand. Die Striemen am Hals brannten wie Feuer. Er spürte den Gürtel, der sich immer enger um seine Kehle schnürte. An jenem Morgen als ihn das Grauen in den Abgrund riss, er den Tod mehr als das Leben liebte. Er lief schneller und sah die bleichen Hände, die ihn vom Balken schnitten und mit Leben bestraften und er stürzte durch die Dämmerung der Zeit und kniete auf einem Felsen.
Anas Stimme wie ein Echo über dem Meer seiner Verzweiflung: Warum immer der gleiche Wahnsinn und heuchlerische Parolen von Ehre, Vaterland und Heldentum, Lügen als Wahrheit verpackt und zum Spottpreis verscherbelt, erfunden von dreckigen Saubermännern, die die Jugend in einen schäbigen Tod schickten, erfunden, um ihre Taschen mit dreckigem Geld zu füllen, erfunden, um ihre dreckige Gier nach Macht zu befriedigen, und warum Ströme von Tränen und Blut vergießen und warum das Leben nicht mit Liebe statt mit Hass krönen?



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