Samstag, 21. Juni 2014

Ursula Gressmann: schlaflied


schlaf kindlein schlaf

die sterne haben sich verhüllt
am himmel ziehen drohnen

bald ist da draußen totenland
mit panzern und granaten

dein vater kämpft für’s vaterland
in rabenschwarzer nacht

ich schenk dir vaters orden dann
mit einem roten band daran


doch schlaf kindlein schlaf

Montag, 9. Dezember 2013

Mathias Claudius: Kriegslied

‘s ist Krieg! ‘s ist Krieg!
O Gottes Engel wehre,
Und rede Du darein!
‘s ist leider Krieg –
und ich begehre
Nicht schuld daran zu sein!
Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen
Und blutig, bleich und blaß,
Die Geister der Erschlagenen zu mir kämen,
Und vor mir weinten, was?
Wenn wackre Männer, die sich Ehre suchten,
Verstümmelt und halb tot
Im Staub sich vor mir wälzten und mir fluchten
In ihrer Todesnot?
Wenn tausend tausend Väter, Mütter, Bräute,
So glücklich vor dem Krieg,
Nun alle elend, alle arme Leute,
Wehklagten über mich?
Wenn Hunger, böse Seuch und ihre Nöten
Freund, Freund und Feind ins Grab
Versammelten und mir zu Ehren krähten
Von einer Leich herab?
Was hülf mir Kron und Land und Gold und Ehre?
Die könnten mich nicht freun!
‘s ist leider Krieg – und ich begehre
Nicht schuld daran zu sein!


1778

Samstag, 3. November 2012

Zitate zum Soldat-Sein (1)


„Denn sie wissen, was sie tun! Krieg ist gegen den Willen Gottes. Nun ja, das ist viel gesagt und gar nichts getan. Mord ist auch gegen den Willen Gottes. Aber damit, dass ich das feststelle und Morde nicht verhindere, habe ich eben noch gar nichts getan. Und damit ist heute die Ausbildung zum Soldaten die Hohe Schule für Berufsverbrecher. Mütter und Väter sollen wissen, was sie tun, wenn sie ihren Sohn Soldat werden lassen. Sie lassen ihn zum Verbrecher ausbilden.“

– Martin Niemöller, Kassel, 25.1.1959

Freitag, 12. Oktober 2012

Britta Erlemann: Triptychon „Frieden ist mehr…“

I. Abendfrieden

Draußen
schweigt
die Dunkelheit
aus der Nachbarwohnung
gedämpfte Stimmen,
leise Schritte
der Wecker tickt
neben meinem Bett
loslassen
von der Hektik
des Tages
gleichmäßig tief
atmen
Muskeln
entspannen
im Kopf
zur Ruhe
kommen
letzte Fragen
an den vergangenen
Tag
trete meine Reise an
in die Nacht
reiche den Träumen
die Hand
flieg
ins Anderland
bis morgen.
6.5.2011

2
II. Seelenfrieden

Still
liegt sie da
ein einsamer See
im Wald
ruhig die Oberfläche
nur sanftes Plätschern
wie Entenfüße
im kühlen Wasser
Dann wieder
brandende Wogen
wie Meer
rauschend
sprudelnd
Züngelnde Flammen
knisternd heiß
mal Streichholzklein
mal Osterfeuergroß
Laues Lüftchen
mild
dann wieder Sturm
schneidend kalt
Ich kann es halten
das Auf und Ab
meiner Seele
mit Erde
unter den
Füßen
in Balance
Seelenfrieden -
keine Psychose…
21.5.2011


III. Waffenfrieden?

8. Mai 1945
Welt-Kriegsende
in Deutschland
knapp 25 Jahre später
kam ich
auf die Welt
im Frieden
keine Bomben
von Deutschen
keine Bomben
auf Deutschland
damals offiziell
und Frieden
heißt es
hätten wir
immer noch
doch herrschte seitdem
Krieg gegen Frauen:
Vergewaltigungen,
häusliche Gewalt
Krieg gegen Umwelt:
Zerstörung
Krieg gegen Arme:
Hartz IV,
prekäre Beschäftigungen
Krieg in Afghanistan:
deutsche SoldatInnen vor Ort
Krieg in Libyen:
auch mit deutschen Waffen
und das Coltan
für deutsche Handys
finanziert den
Krieg im Kongo

Frieden
ist mehr
als keine Bomben
auf Deutschland
Frieden heißt Respekt
vor allem
was lebt
und noch mehr.
7./25.5.2011




Text aus dem Schreibwettbewerb Friedenslesung 2011 des Kulturring in Berlin e.V.

Jürgen Rath: Kein Frieden auf Helgoland?


Wilhelm Thiessen wartete. Er ruckelte sich im Rollstuhl zu Recht und zupfte an der Decke über seinen Beinen. Dann schabte er sich übers Kinn, es gab ein kratzendes Geräusch. Wieder wartete er. Warten war nicht seine Stärke, immer noch nicht, trotz seiner 87 Jahre.
Endlich schwang die Doppeltür auf. Ein junger Mann kam auf ihn zu. Wilhelm kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen.
„Wer bist du?“, fragte er misstrauisch.
Der junge Mann lächelte. „Ich bin Tom, Ihr neuer Betreuer. Ich mache hier mein freiwilliges Soziales Jahr.“
Wilhelm Thiessen überlegte. Wie hieß der andere noch mal, der sonst da war? Schon vergessen! Der hier heißt Tom. Das muss ich mir merken, dachte er. Tom! Komischer Name, früher hießen die immer Thomas.
„Du willst ein Jahr lang alte Männer über die Insel schieben?“, fragte er. „Freiwillig?“
„Ich warte auf meinen Studienplatz. Ich will Arzt werden.“
„Arzt ist immer gut. Was hältst du von Sterbehilfe?“
„Wohin wollen Sie heute, Herr Thiessen?“
„Kannst du überhaupt Rollstuhl schieben?“
Der junge Mann zuckte mit den Schultern. „Wird schon gehen. Wir brauchen ja nicht aufs Oberland hinauf.“
Am Anleger blieben sie eine Zeitlang stehen und schauten zu den Seebäderschiffen hinüber, von denen gerade die Touristen ausgebootet wurden.
„Eintagsfliegen“, schimpfte Wilhelm, „kommen morgens her und sind abends wieder weg. Bringt aber viel Geld.“
„Wohin geht’s jetzt, Herr Thiessen?“
„Immer nach Norden. – Wenn du weißt, wo Norden ist.“
Auf dem asphaltierten Weg rollten sie am Kai entlang. Wilhelm Thiessen schaute über das Meer, prüfte Windrichtung und Stärke, schätzte die Sichtweite. Dann hob er die Hand, Tom zog die Bremse.
„Schlechtes Wetter, ganz schlechtes Wetter“, verkündete der alte Mann. „Ruhige See und diesige Luft, keine drei Seemeilen Sicht. Gut für Torpedoboote, aber schlecht für uns Fischer.“
Tom schüttelte den Kopf. „Es gibt keine Torpedoboote mehr.“
Wilhelm machte eine abwehrende Handbewegung, wollte nicht unterbrochen werden. „Ist egal, wie du sie nennst. Die kommen aus dem Nebel herangefegt, Torpedo abgesetzt, und dann sind sie wieder weg. Es hat sich nichts geändert in all den Jahren, wir haben immer noch Krieg.“
„Herr Thiessen, der Krieg ist seit 1945 vorbei!“
Wilhelm blickte zu seinem Begleiter auf. Er konnte ihn nur undeutlich erkennen. Meine Augen werden auch immer schlechter, dachte er.
„Du glaubst wohl, die See schützt uns? Das ist falsch, ganz falsch! Die See lädt zum Raub ein. Sie ist das Aufmarschgebiet für Mord und Totschlag.“
„Da bin ich aber mal gespannt.“
„Erst kamen die dänischen Wikinger, dann die Seeräuber. Und 1864 hatten wir einen richtigen Krieg hier vor Helgoland. Eine Seeschlacht. Die Dänen gegen die Österreicher. Da staunst du: Österreich zur See, klingt wie ein Witz.“
„Ist schon lange her“, sagte Tom gelangweilt.
„Im Jahre 1914 gab’s ein Seegefecht mit den Engländern, und dann noch mal 1917. Da wurden unserer Jungs richtiggehend verheizt, der Tommy hatte ja viel schnellere Schiffe.“
Sie hatten das Ende des Kais erreicht, hier begann der Strand. Tom half dem alten Mann aus dem Rollstuhl. Wilhelm ließ sich auf den Boden gleiten und vergrub die Hände im Sand. Heißer Sand ist gut für die Gichtknoten an den Fingern, dachte er, besser als diese ekligen Matschpackungen.
„Nach dem großen Krieg hatten mein Vater eine Zeitlang Ruhe hier auf der Insel“, sagte er, „da konnte er wieder fischen und seine Familie ernähren. Doch dann kam dieser Anstreicher aus Österreich, der ließ graben und wühlen, wollte einen riesigen Kriegshafen bauen. Wir hatten schon damals das Gefühl, dass es bald wieder losgeht.“
„Was haben Sie im Krieg gemacht?“, fragte der junge Mann mit leichter Neugierde in der Stimme. „Sie waren doch noch ziemlich jung. Wurden Sie eingezogen?“
„Nee, ich war mit meinem Vater auf unserem Fischkutter. Wir waren zwangsverpflichtet. Mussten raus als Vorpostenboot.“
Wilhelm blickte nach Norden, sagt lange Zeit nichts.
„Der Tommy hat uns nicht erwischt, wir waren sehr vorsichtig, wir hatten’s nicht mit Heldenmut und so. Aber wir sind auf eine Mine gelaufen. Wahrscheinlich eine eigene, die trieb im Wasser, die muss sich losgerissen haben. Die hat den Kutter geradezu auseinander gerissen, die zerfetzte uns richtiggehend.“
„Aber Sie haben überlebt.“
„Ich stand zufällig am Heck, ich bin davongekommen. Aber meinen Vater hat’s erwischt, von ihm ist nichts übrig geblieben. Ich flog durch die Explosion ins Wasser, hab mich dann irgendwo festgeklammert, es trieb ja genügend rum, ich glaub, es war das Dach vom Ruderhaus. Nach dem ersten Schreck hab ich gerufen und geschrieen, aber Vater war weg.“
„Sind Sie an Land geschwommen?“
„Ach nee, ich wollte gar nicht zurück, ich wollte weiter suchen. Aber die von dem Schnellboot haben mich nicht gelassen, die haben mich rausgezerrt aus dem Wasser und in der Koje festgebunden. Und so einer in Nazi-Uniform hat gebrüllt, dass er mich vor ein Kriegsgericht schleift, wenn ich wieder ins Wasser springen würde.“
Wilhelms Stimme war leise geworden, er schniefte und rieb sich die Augen. „Na ja, kurz vor Kriegsende wollten ein paar Kollegen mit dem Tommy Kontakt aufnehmen. Damit die unsere schöne Insel nicht kaputt machen, der Krieg war ja eh schon verloren. Aber die Nazis haben das spitz gekriegt. Die haben alle abtransportiert nach Cuxhaven und dort hingerichtet. Am 18. April, drei Wochen vor Kriegsende, stell dir das mal vor.“ Er wischte sich erst die Tränen weg, rieb dann mit dem Ärmel unter der Nase entlang. „Ich weiß das noch ganz genau, das war der Tag, an dem die Engländer unsere Insel bombardiert haben, fast zwei Stunden lang.“
Tom legte dem alten Mann seine Hand auf die Schulter. „Der Krieg ist vorbei“, sagte er, „jetzt ist Frieden. Seit mehr als 60 Jahren.“
Wilhelm blickt ärgerlich zu dem jungen Mann hoch. „Frieden? Ich hab keinen Frieden. Ich hör immer noch die Mine, wie sie hochgeht. Und ich hör immer noch die Sirenen und die Bomben. Manchmal wach ich auf, ganz schwitzig. Und ganz verzweifelt. Weil ich meinen Vater nicht finden konnte im Schlaf.“
„Posttraumatische Belastungsstörung“, sage Tom. Das Wort kam ihm locker über die Lippen, so als hätte er es schon häufig benutzt.
„Nix post, aber traumatisch. Mir geht’s immer dann schlecht, wenn ich die Tagesschau sehe oder Zeitung lese. Bosnien! Kannst du dich daran noch erinnern? Ach nein, du bist zu jung. Aber Irak, Afghanistan, Libyen, Syrien, Indonesien, Afrika! Nennst du das Frieden? Frieden ist mehr als ruhig schlafen können, nur weil ein Meer zwischen uns und den anderen liegt.“
„Sie können sich nicht den ganzen Schmerz der Welt auf die Schultern laden.“
Der junge Mann schob den Rollstuhl jetzt nach Süden, dem Anleger zu. Er deklamierte leise ein Gedicht: „Heute rufe ich dir zu, heute kannst du Frieden schaffen, lange widerstrebtest du, nun sei endlich dafür offen.“
„Reimt sich nicht“, schimpfte Wilhelm Thiessen.
„Ist nicht von mir, ist von Uwe Schmidt. Mir gefällt es trotzdem.“
Auf der Hälfte der Strecke hob Wilhelm plötzlich die Hand. Er blinzelte zu dem jungen Mann hinauf. „Wie wäre es mit ein bisschen Sterbehilfe, Herr Doktor? Du schubst mich jetzt mitsamt dem Rollstuhl über die Kaikante. Das sieht wie ein Unfall aus. Dann bin ich wieder bei meinem Vater und habe endlich Ruhe. Und du bist mich los. Und im Heim wird ein Platz frei.“
Der junge Mann riss erschrocken die Augen auf, seine Hand krallte sich um die Bremse. „Nein, das mach ich nicht!“
„Na gut, dann eben nicht.“ Wilhelm schaute seinen Betreuer vorwurfsvoll an. „Was stehst du hier rum? Fahr mich endlich nach Hause. Meine Windel ist voll.“






Text aus dem Schreibwettbewerb Friedenslesung 2011 des Kulturring in Berlin e.V.

Mittwoch, 26. Oktober 2011

Manuela Jäkel: Frau Boisenbergs Nummer





Die Boisenbergs verbringen bei gutem Wetter jeden Nachmittag in ihren Liegestühlen auf dem gepflegten Rasen hinter der weißgetünchten Villa.Die Liegestühle stehen immer an derselben Stelle, dicht nebeneinander, so dicht , dass die Armlehnen sich berühren. Von den dunkelroten Marmorplatten der Terrasse führen zwei Reifenspuren zum Ruheplatz Frau Boisenbergs. Dort hebt ihr Mann sie aus dem Rollstuhl und lässt sie vorsichtig auf die Liege gleiten, bevor er sich neben sie setzt. „Lass mich doch im Rollstuhl sitzen, das tut deinem Rücken nicht gut, mich dauernd zu heben,“ sagt sie oft. „Aber hier,“ sagt dann Herr Boisenberg und klopft auf seine linke Brustseite, „hier tut’s mir gut, also mache ich’s, solange ich kann.“ Die Meinung der Nachbarschafft ist allerdings, dass seine Fürsorge Herrn Boisenbergs Geldbeutel gut tut. Seine Frau ist sechs Jahre älter als er. Ihr Vater war Chefarzt an einer renommierten Klinik und das Haus, der gepflegte Garten und die kostbaren Marmorplatten gehören genau genommen ihr. „Wenn die mal das Zeitliche segnet, und glauben Sie mir, so wie die aussieht dauert es nicht mehr lange, ist er ein gemachter Mann.“ Das ist Klaras Meinung und der Metzgersfrau widerspricht selten einer. Der, der es wahrscheinlich getan hätte, Herr Boisenberg selber, geht selten einkaufen. Sophie, die Kleine von Bergers mit den Korkenzieherlocken, macht hin und wieder ein paar Besorgungen für die Boisenbergs. Größere Lieferungen werden ins Haus geschickt. Das Ehepaar geht nie auf Besuch und niemand aus dem Ort ist jemals in der Villa gewesen. So sind sie mit den Jahren zum beliebtesten Thema bei den Klatschmäulern der Kleinstadt avanciert. Bis die Aussiedler kommen. Direktor Siebel muss trotz schwerer Proteste seiner Anwälte die ungenutzte Fabrikhalle zur Verfügung stellen. Plötzlich ist wieder Leben in dem alten Gemäuer, huschen Schatten hinter den beschlagenen Fenstern umher, fremde Gerüche und Gesänge dringen auf die Straße. Manchmal geht eines der Fenster auf und blasse Gesichter blicken ernst in die fremde Welt. Lächeln tun sie nur manchmal, wenn die Lennstedter Kinder auf ihrem Schulweg vorbeikommen. Dann winken sie und die Kinder winken zurück. Bis es die Eltern verbieten. Einige sprechen im Rathaus vor, ob es da denn gar keine Möglichkeit gäbe. „Jetzt denken Sie nichts Falsches, Herr Bürgermeister, ich habe ja nichts gegen die persönlich, aber so viele und so dicht dran, verstehen Sie? Neulich stand einer drüben beim Kinderspielplatz und hat die ganze Zeit zu den Schaukeln rübergesehen ...“ Der Bürgermeister rückt unbehaglich an seiner Krawatte und schüttelt bedauernd den Kopf.
Bald sind sie überall: Auf dem Spielplatz, an der Bushaltestelle, auf der Hauptstraße und natürlich beim Einkaufen. Kinder starren, Jugendliche kichern hinter vorgehaltener Hand und Frauen sehen schnell zur Seite, wenn die Fremden im Supermarkt erscheinen, in den Hosen, Röcken und T-shirts aus der kirchlichen Kleiderkammer, blasse Gesichter unter dunklen Haarschöpfen, denen man die slawische Abstammung deutlich ansieht, zu deutlich für die Bewohner einer süddeutschen Kleinstadt. „Irgendwie anders eben.“ Klara spricht es aus, während sie drei Pfund Schweinebraten einpackt und die Kunden im Laden nicken beifällig. Ansonsten versucht man „die aus der Fabrik“ so gut es geht zu ignorieren.
Dann passiert der Vorfall mit den Siebel-Kindern. An der Kasse im Supermarkt gibt es diese leckeren Kaugummis, mit denen man Riesenblasen machen kann. „Bitte greifen Sie zu!“ steht auf einem überdimensionalen Plastikschild. Und der fünfjährige Norbert Siebel greift zu. Im nächsten Augenblick sieht Wilfried, sein älterer Bruder, einen großen Mann in schwarzer Lederjacke auf sie zukommen. Er handelt instinktiv. Seinem Bruder das Päckchen entreißen und es in den Korb eines fremden Mädchens fallen lassen, ist eins. Schon ist der Hausdetektiv da. „Die war’s!“ Wilfried weist energisch auf das zitternde Wesen mit den wasserblauen Augen. „Die war’s, die war’s,“ echot Norbert fröhlich. Alle Augen sind auf das Mädchen und einen hageren Mann gerichtet, an dessen Hosenbeine sich das Kind geklammert hat. Schon geht der Detektiv auf die Fremden zu.
Halt!“ Eine Stimme donnert durch den Verkaufsraum, dass die Marmeladengläser klirren. Niemand hat vorher Herrn Boisenberg bemerkt. Nun steht er vor Wilfried Siebel und brüllt mit einer Stimme, die ihm nicht zu gehören scheint: „Schämst du dich nicht? Dein Bruder stiehlt und du schiebst die Tat einer Unschuldigen in die Schuhe, die sich nicht wehren kann, weil sie unsere Sprache nicht spricht! Pfui Teufel, sag ich, pfui Teufel!“ Und der ruhige, zurückhaltende Mann aus der Nordstadtvilla spuckt tatsächlich auf den Kachelboden im Supermarkt. Doch damit nicht genug. Er geht zu den Fremden hin und lächelt Vater und Tochter freundlich an. „Entschuldigen Sie bitte!“ Gemeinsam verlassen sie die Einkaufshallen. „Recht gehabt hat er ja,“ verkündet Klara am nächsten Tag jedem, der es wissen will, „aber entschuldigen muss man sich bei denen nun nicht gerade. Sonst kriegen die hier noch Oberwasser!“
Von nun an hilft der Fremde den Boisenbergs öfter im Garten. Herr Boisenberg hat im Schuppen ein Brett aufgetrieben und es an zwei Seilen in den Kirschbaum gehängt. Darauf sieht man die kleine Davina oft schaukeln, während ihr Vater die Beete umgräbt. Manchmal spielen sie auch mit Frau Boisenberg am Gartentisch „Mensch-ärgere-dich-nicht“. Als alles zu spät ist, wird sich keiner erinnern wer das Gerücht in Umlauf gebracht hat, aber schließlich ist der neue „Hilfsgärtner“ junger Witwer und er hat so etwas Wildes im Blick. Sie ist zweifellos alt und invalid dazu, aber trotzdem doch gepflegt und natürlich ungeheuer wohlhabend. „Der Alte kann einem beinahe Leid tun,“ meint Ella aus dem Schuhgeschäft, „und dabei hat er den Kerl mit seinen stechenden Augen selber ins Haus gebracht. Die Russen sollen ja brutal sein, aber mancher gefällt’s halt.“ Frau Berger, ihre Freundin, schüttelt nur fassungslos den Kopf. „Auf jeden Fall wird Sophie da nicht mehr hingehen. Wer weiß, was noch alles passiert!“
Es passiert am Samstag Nachmittag.
Sophie wird auf dem Heimweg vom Spielplatz überfallen. Der Täter zerreißt ihr Kleid und nur weil sie wie am Spieß schreit, lässt er von ihr ab. Das Mädchen steht unter Schock und kann keinerlei Beschreibung abgeben. In dieser Nacht marschieren hundert Lennstedter Bürger zur Fabrik. Boisenbergs beobachten die Szene vom Fenster aus. „Asylanten raus, Sexualschweine nach Haus!“ skandieren die Menschen. Dann klirren die ersten Scheiben. „Mein Gott, Davina ist doch da drin!“ Frau Boisenberg umklammert die Armlehnen ihres Rollstuhls. „Und die anderen Kinder, mein Gott, sie werden doch den Kindern nichts tun, oder?“ Ihr Mann nimmt ihre Hand. Schweigend starren sie hinaus. Niemand kann später erklären, warum die Polizei erst eine Stunde später eintrifft. Nur mit Mühe kann sie die Menschen auseinander treiben. Ein Notarztwagen kommt mit heulenden Sirenen heran. Automatisch macht man die Gasse zur Fabrik frei, aber die Ambulanz hält vor der Villa. Frau Boisenberg wird herausgebracht, mit kalkweißem Gesicht folgt ihr Mann der Trage. Im Schein des zuckenden Blaulichts kann man lesen, was an die weiße Fassade der Villa gesprüht steht: RUSSENLIEBCHEN. Auch wer dafür verantwortlich ist, wird niemals geklärt werden. Frau Boisenberg stirbt in der gleichen Nacht an Herzversagen.
Am Morgen erscheint ein Kriminalkommissar im Haus der Familie Berger und informiert Sophies Eltern offiziell über die Festnahme eines Jugendlichen aus der Nachbarschaft. Der Sohn aus gutem Hause hat den Überfall beim Spielplatz bereits gestanden. Es war eine Art Mutprobe, um in die begehrte Clique aufgenommen zu werden.
Eine Woche später wird Frau Boisenberg beigesetzt. „Unter großer Anteilnahme der Bevölkerung“ wird es am nächsten Tag im Stadtanzeiger heißen. „Man muss natürlich hin,“ da sind Klara und Ella sich einig. Die meisten Bewohner haben übergroße Kränze und Blumensträuße bestellt. In der Kapelle stockt ihnen allerdings kurz der Atem. Vor dem Altar steht ein Rabbi. „Na, da soll doch...,“ stottert Direktor Siebel. „Ich hatte keine Ahnung, bei Gott, nicht die geringste,“ antwortet der Bürgermeister halblaut. „Das ist ja vielleicht ‚ne Nummer!“ hört man aus den Reihen der Jugendlichen. „Papa, woher weiß der das mit der Nummer?“ Das ist Sophies ernstes Kinderstimmchen. Sie hat darauf bestanden, heute dabei zu sein.
Welche Nummer meinst du?“ fragt ihr Vater zurück. „Natürlich die auf dem Arm von der Frau Boisenberg! Die geht nie wieder weg, auch nicht beim Waschen!“ Alle Augen sind plötzlich auf Sophie gerichtet, die die Aufmerksamkeit sichtlich genießt. „Die war als Kind in einem Lager, das sah fast so aus, wie die Fabrik hier. „Hiller, glaub’ ich...,“ die Kinderstirn legt sich einen Moment in Falten, dann kommt es stolz: „Jetzt weiß ich’s wieder: Hitler hieß der Besitzer von dem Lager!“ In diesem Moment beginnt der Rabbi die Trauerrede.





Text aus dem Schreibwettbewerb Friedenslesung 2011 des Kulturring in Berlin e.V.