Sonntag, 25. September 2011

Ulla Gessner Har-Gil: Raketen und Orangenblüten


Soll ich bleiben?
Soll ich weggehen?

Ein Hagelguss macht lärmend die Straße weiß.
Von Gaza werden Raketen nach Israel geschossen.
Ich höre Militärflugzeuge in Richtung Gaza fliegen.
Im Radio wird von einem neuen Bombenattentat in Jerusalem berichtet.

Der kurze israelische Frühling hat seinen Höhepunkt erreicht. Überall grünt es, blüht in allen Farben. Orangenblüten verströmen ihren betörenden Duft. Der Himmel ist blau und wolkenlos, das Meer lockt.
Sonnenhungrige spazieren am Schabbat überall auf den Straßen. Sie lachen, sie scherzen, sie umarmen, streiten und küssen sich. Arabisch, Russisch, Hebräisch ertönt auf der Strandpromenade nebeneinander. Auf den Wiesen werden Kindergeburtstage unter leuchtenden Luftballons in den Bäumen gefeiert.

Vor meinem Fenster spielen zwei Honigsauger. Sie flattern glitzernd auf und ab, hüpfen über- und untereinander her, umrunden die elektrischen Leitungen, um für eine Sekunde darauf zu verweilen, wieder abzuheben und trillernd diesen Kreislauf von Neuem beginnen. In der kleinen, palmenumsäumten Straße ist Pferdegetrappel zu hören. Ein Mann ruft und sucht "Alte Sachen". Die Nachbarin von gegenüber erntet Zitronen.
Ich greife zu der Bleibemaske an der Wand, setze sie auf mein Gesicht. Mit ihr sehe ich nur das Schöne und Gute.
Da möchte ich bleiben und mich freuen.

Zwei Riesenkrähen sind auf den grünen Leitungen vor dem Fenster gelandet. Sie vertilgen ihr Frühstück. Zwei Taubenjunge. Die Tauben sehen gelassen von gegenüber zu. Eine Krähe frißt langsamer. Da reißt ihr die andere das letzte, noch zitternde Beutestück aus dem Schnabel. Kreischend, mit waberndem Schnabel, aus dem Blutstropfen auf die Straße fallen, fliegen sie davon. Die Nachbarin von nebenan schüttet ihren Müll aus dem Fenster. Der untere Nachbar schreit empört zu ihr hoch.
Ich nehme die Weggehmaske von der Wand, setze sie auf mein Gesicht. Mit ihr sehe ich nur das Schlimme und Böse.
Da möchte ich weggehen und bin frustriert.

Ohne die Masken sehe ich beides. Das Gute und das Böse.

Soll ich bleiben?
Soll ich weggehen?
Wie eine Entscheidung treffen?

Nach einer unruhigen Nacht wache ich auf und schalte das Radio ein. In den Nachrichten wird berichtet, dass wieder einmal eine Gruppe israelischer Intellektueller und Künstler ein öffentliches Forum gegründet hat zur Wahrung der Menschenwürde. Es geht ihnen darum, die Menschenwürde als einen universellen Wert zu schützen und nicht allein als einen jüdischen. Es ist ein arabisches und jüdisches Forum.
Ich stehe auf, betrachte die beiden Masken an der Wand, lasse sie hängen. Auf der Leitung draußen schmettert ein Honigsauger sein Morgenlied.
In der Küche duftet es nach arabischem Kaffee mit Kardamom.

Am Nachmittag treffe ich mich mit einem Freund auf dem Rothschildboulevard, wo die Künstler und Intellektuellen demonstrieren. Umringt von Polizisten reden sie durch ein Megaphon. Erhöht steht eine Handvoll Ultrarechter. Sie schwingen riesige israelische Fahnen, die alles überschatten. Ihr Schrei "Israel ist unser" übertönt die Friedensbotschaft. Kein Polizist hält sie auf. Ein paar Mopedfahrer halten mitten auf der Straße mit lärmendem Motor an und jubeln den Fahnenschwingern zu. Ein bekannter israelischer Schriftsteller geht unverdrossen durch die Menge, gibt uns lächelnd die Hand mit dem Friedensgruß "Shalom".

Ach, wer es könnte, dem Shalom, dem Frieden in diesem Land Leben einhauchen!





Frau Ulla Gessner Har-Gil Tel Aviv 
Text aus dem Schreibwettbewerb Friedenslesung 2011 des Kulturring in Berlin e.V.



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