Samstag, 12. März 2011

Björn Högsdal: Rudern

1.
Omar redet seit Minuten, schimpft auf die Hamas und die Iraner. Früher hatte er auf die Israelis geschimpft, aber für die Leute von der Fatah gibt es einen neuen Feind, aus den eigenen Reihen. Khalid interessiert das alles nicht.  Er hat andere Dinge im Kopf, aber er nickt und stimmt Omar zu, denn er ist ihm dankbar. Khalid hat ihn vor einem Fatah-Gebäude getroffen, auf seinen Weg durch Gazah. Omar hat Arbeit bei der Autonomiebehörde und ist mit Khalids großer Schwester verheiratet. Ohne seinen Lohn und das, was er für die Familie beiseite schafft, in  der Behörde, wäre es noch viel schwerer. Viel wichtiger für Khalid ist aber, dass es Omar war, der ihm von dem Rudern erzählt hatte. Khalid hatte erst gedacht, er würde sich über ihn lustig machen.  Aber es gab ihn tatsächlich, diesen Ruderverein, mitten in Gazah. The palestine rowing association. Hätte Omar ihm erzählt, dass sich mitten in Gazah eine Raumstation, ein Skigebiet oder eine Schule für Zauberei befindet, hätte Khalid das nicht mehr in Staunen versetzt. Dorthin, zum Rudern ist Khalid grade unterwegs. Eigentlich ist er immer dorthin unterwegs.
Khalid ist jetzt 16 Jahre alt. Noch vor wenigen Jahren hat er meist zuhause gesessen, vor dem Fernseher. Was sollte man tun, zwischen Schutt und Ruinen, zwischen Flüchtlingen und Staub. Es gibt nichts, was man tun kann. Bis er durch Omar vom Ruderverein erfuhr, war er nicht einmal auf die Idee gekommen, dass es anders sein könnte. Er ging hin und blieb. In den ersten beiden Jahren war er nicht ein einziges Mal nass geworden, was nicht unbedingt an seiner Perfektion im Umgang mit den Booten lag, sondern vielmehr daran, dass es keine Boote gab. Es wurde in einer Baracke an Maschinen gerudert. Ergometer, weiß Khalid heute. Khalid weiß auch, dass er inzwischen sehr schnell und sehr weit rudern könnte. Wenn man ihn aufs Wasser ließe. Er ist der beste Ruderer in Gazah und vielleicht wird er irgendwann für Palästina bei der Olympiade antreten. Mohammed, sein bester Freund ist auch mit dabei und er ist auch gut, aber nicht so gut wie Khalid. Beide haben das Gefühl erst zu leben, seit sie das Rudern haben. Dass sie am Meer nur an den Strand können und nicht hinaus aufs Wasser dürfen, das ist schade, aber es ist nicht schlimm. Sie haben das Rudern.

Nein, es ist so auch schon gut. Nach einer Zeit der Lähmung und Starre in seinem Leben, passiert endlich was. Das Rudern hatte ihm endlich etwas gegeben, für das er brannte, etwas, das seinen Tagen eine Form gab. Sinn und Inhalt. In jeder freien Minute ist er dort, rudert die meiste Zeit mit geschlossenen Augen und stellt sich vor, wie die Ruder ins Wasser tauchen. Er stellt sich vor, wie sich das Boot den Weg durch die Wellen bahnt, hinaus aufs offene Meer. Die Baracke mit den drei Ergometern ist für Khalid ein Ort des Friedens. Dort wird nicht geschrien und es wird nicht geschlagen, wie viele es zu Hause erleben. Es gibt nicht nur etwas zu essen für die Jungen und Mädchen, die kommen, auch saubere Bekleidung ohne Löcher und Schuhe werden ausgeteilt.

Zu Beginn hatte Khalid keine Kraft. Sein Körper, seine Bewegungen und auch sein Kopf waren verkümmert. Er hatte meist zu Hause gesessen, vor dem Fernseher, seit sein Vater, Abu Khalid, über den ganzen Konflikt trübsinnig geworden war und sich völlig zurückgezogen hatte. In ihm war eine große Traurigkeit. Abu Khalid hatte erlebt, wie Bulldozer Häuser zerstörten, weil sie in sicherheitsrelevanten Zonen lagen. Er hatte auch erlebt, wie die Kinder israelischer Kollegen und Freunde bei Selbstmordattentaten starben. Abu hatte gerne in Israel gearbeitet, vor der zweiten Intifada, als man noch über die Grenzen kam. Als das nicht mehr ging, nur noch ganz selten einmal, zog er sich in das Haus zurück, tiefer, in sein Wohnzimmer und zu Schluss - ganz in sich selbst. Irgendwann hörte er auf zu reden und sah nur noch fern und ging auf die Toilette. Er schlief nicht, aber er aß, was auch immer man ihm vorsetzte. Ganz früher aber, als er noch in Israel arbeitete, hatte er manchmal darüber gesprochen, das die Moslems und die Juden, ja selbst die Christen im Grunde vom selben Stamm seien, dass es hier immer Juden gegeben habe und dass unter Saladin und anderen Herrschern, Gläubige jeder Religion ins Land durften. Sein Vater erzählte ihm davon, dass man einen großen Teil der Juden vor langer Zeit vertrieben habe und dass sie in der Fremde viel Schlechtes erlebt hätten. Davon dass sie das Land gekauft hatten, zumindest einen Teil und das beide Seiten Unrecht begangen haben. Und hin und wieder, ganz selten, sagte er, dass sie alle Esel seien. Die Fatah und die israelische Regierung. Die Hamas und die jüdischen Siedler in den palästinensischen Gebieten. Die Hisbollah. Aber das war als er noch geredet hatte. Jetzt war er ein bisschen verrückt. Wirklich verrückt, nicht so wie Khalids Onkel Jussuf. Der war Schauspieler am Theater gewesen und ein Mensch mit Sinn für Humor. Als es keine Arbeit mehr gab und alles immer schwieriger wurde, hatte er irgendwann begonnen sich wie ein Wahnsinniger zu verhalten. Sein Plan ging auf und er kam in eine geschlossene Anstalt, in der er sich keine Sorgen mehr machen musste um Nahrung und ein Dach über dem Kopf.
An dem Tag, an dem Jussuf eingewiesen wurde, verließ Khalids Vater ein letztes Mal das Haus, um seinen Bruder zu überreden mit dem Quatsch aufzuhören. Damals war Khalid vierzehn Jahre alt. Weder an dem Umstand das Jussuf in der Psychiatrie ist, noch  an dem Zustand seines Vaters hat sich seitdem etwas geändert. Nur Khalid war jetzt nicht mehr derselbe. Er hat jetzt Ziele und etwas worauf er sich freut. Manchmal sitzen er und Mohammed am Strand und schauen hinaus auf das blaue Meer mit den weißen Gischtflecken und dann reden sie darüber, wie das sein wird, wenn die Boote da sind. Ja, es werden Boote kommen, eine Spende aus China und sie werden bald schon hier sein. Die Hilfsorganisationen hatten sich dafür eingesetzt und dafür, dass sie auf einer bislang gesperrten Bucht würden trainieren können. Gestern waren sie alle zusammen in ein großes, altes Hotel in Gazah gegangen, dass noch intakt ist. Dort leben normalerweise die Reporter. Aber gestern waren die Rudertrainer mit ihnen dorthin gegangen. Keins von den Kindern hatte je schwimmen gelernt und jetzt, wo doch die Boote bald kommen und sie aufs Wasser gehen würden, mussten sie es lernen. Im Keller des Hotels gab es ein Schwimmbecken, daß ihnen zur Verfügung gestellt wurde. Sie bekamen Badebekleidung, frische Handtücher und bunte Schwimmhilfen aus Schaumstoff.. Khalid war noch nie in einem so schönen Haus gewesen, hatte noch nie so einen Luxus erlebt. Trotz der Aufregung, klappte das mit dem Schwimmen bei den meisten recht gut.  Sie waren kräftig geworden.
Die ganzen letzten Tage lächelt Khalid viel, auch jetzt, mit Mohammed am Strand. Es ist früher Abend. Sie dürfen nicht hinaus, aufs Meer, höchstens an den Strand und bald in die Bucht, aber schon wenn er ein wenig, nur bis zu den Knien im Wasser steht, dann fühlt er sich mit der ganzen Welt verbunden. All die Meere hängen zusammen. Das wusste er von Omar. „Schau! In dieser Richtung", hatte Omar neulich gesagt, „liegt Europa, da ist Amerika, dort Afrika." Dabei hatte er mit ausgestrecktem Arm von rechts nach links gezeigt. Als die Sonne untergeht,  gehen sie nach Hause. Er geht früh zu Bett, schläft aber unruhig. Morgen kommen die Boote.
2.
 
Der nächste Tag, in der Trainingsbaracke.
    Die Boote kommen nicht!
Mohammed erwartet Khalid mit fassungslosem Gesicht auf dem Ergometer. Die Boote kommen nicht über die Grenze, weil es Differenzen wegen der Papiere gibt und weil die Boote möglicherweise kriegsfähiges Material seien. Selbstmordattentäter könnten sich mit den kleinen Booten nachts an Militärschiffe schleichen. Es ist noch nicht einmal heraus, ob man sie nun reinlassen wird oder nicht - und doch hat Khalid das Gefühl, es könnte überhaupt nicht mehr schlimmer kommen. Er verbringt lustlos eine halbe Stunde auf dem Gerät und verlässt dann die Baracke. Als er nach Hause kommt und sich zu seinem Vater vor den Fernseher setzt, weiß er aber doch sofort, dass es schlimmer kommen wird. Jemand hat einen israelischen Soldaten entführt. Jemand von der Hamas wahrscheinlich.
 
Die Gewissheit folgt schnell, so wie die Reaktion aus Israel. Khalid verflucht die Hamas still in sich, als er am nächsten Tag erfährt, dass nicht nur die Boote nicht rein gelassen werden, sondern dass auch die Bucht nicht mehr freigegeben wird zum Üben. Am liebsten würde er einen Stein durch die Scheibe des Hamasgebäudes neben der Baracke schmeißen. Aber das wäre dumm und gefährlich. Er muss an die Worte seines Vaters denken. Alles Esel. In den folgenden Tagen wird nach dem israelischen Soldaten gesucht.  In einigen Vierteln verlassen die Leute ihre Häuser weil angekündigt wurde, dass sie zerstört werden.
Drei Tage später kommt Abu Khalid in die geschlossene Anstalt. Khalid war Morgens aus dem Haus gekommen und hatte die Flugblätter gefunden mit der Information, dass alle das Viertel verlassen sollen, da es illegal sei und eingeebnet wird. Omar und Khalids Schwester waren gekommen um die Familie zu sich zu holen, in eine Umgebung, mit etwas mehr Sicherheit. Sie hatten alles gepackt, was sich verstauen ließ, alles was wichtig ist, aber als sie Khalids Vater mitnehmen wollten, fing er zum ersten Mal seit langer Zeit an Laute von sich zu geben und zu zeigen, daß noch Energie in ihm war. Er schlug um sich, zerstörte Teile der Einrichtung und schrie in einem erstickten, gurgelnden Ton. Sie versuchten ihn zu beruhigen, aber nach einer Stunde hatte Omar genug und packte sich den alten Mann. Er nahm ihn über die Schulter mit zum Auto. Es wurde auch später nicht besser und sie brachten ihn am nächsten Tag in die Anstalt zu seinem Bruder Jussuf.
Trotz all dieser Ereignisse geht Khalid weiter zum Rudern. Er strengt sich noch mehr an, pullt noch härter und geht immer weiter an seine Grenzen. Zur Baracke hat er es jetzt sogar näher, als vom Haus seines Vaters aus. Bei Omar zu wohnen ist eigentlich ganz in Ordnung und Abu Khalid geht es scheinbar auch langsam besser. Es heißt er hat aufgehört zu schreien und er redet wieder, manchmal soll er sogar lächeln. Heute werden sie ihn und Jussuf besuchen. Bald, aber jetzt zieht Khalid noch seine Bahnen, er schließt die Augen und rudert auf dem Meer. Er zerschneidet die Wellen in wuchtigen Zügen und setzt Kurs auf den Horizont. 
Später in der Anstalt. Sie sitzen an einem Tisch, Omar, Khalid, Khalids Schwester, sein Vater und Onkel Jussuf. Betretenes Schweigen, es ist eine seltsame Atmosphäre und Khalid wünscht sich, er wäre noch beim Rudern. Seit sie da sind hat Abu khalid zwar wirklich manchmal etwas gelächelt und ein paar Sätze gesagt, aber es ergibt alles keinen Sinn. Weder das Lächeln noch seine Worte. Khalid fragt sich wie lange sie noch bleiben. Er fühlt sich schlecht deswegen, aber sein Vater ist schon so lange fort, irgendwo in seinem Kopf. Als Khalid auf die Uhr an der Wand schielt spricht Onkel Jussuf ihn an:
    Du magst Boote, oder? Das hat dein Vater erzählt. Ich bin früher manchmal raus gefahren. Mit einem kleinen Boot aus Holz. Bist du oft auf dem Meer?
Nein, man kann nicht aufs Meer.
Schade. Ich frag mich ob das Boot immer noch in dem Schuppen liegt.
Es liegt noch in dem Schuppen. Khalid hat sich genau beschreiben lassen wo das Boot früher war. Der Schuppen ist ziemlich verfallen, eigentlich ist es ein Trümmerhaufen, aber unter Brettern und Wellblech entdeckt Khalid das Boot. In dieser Nacht schläft er wieder schlecht. Beim Rudern am nächsten Tag erzählt er Mohammed davon. Mohammed musste auch umziehen, aber er wohnt jetzt weiter weg von der Baracke und kommt deshalb erst später.
Ein altes Holzboot, kein Sportgerät, wie auf den Fotos und Postern. Aber ich glaube es ist noch ganz und die beiden Ruder sind auch noch da.
Dann los, raus aufs Meer!
Beide lachen, sie wissen, dass das nicht geht.  Wenn Khalid jetzt rudert und die Augen schließt, sieht er sich in dem Boot aus dem Schuppen. Er fühlt sich diesem Boot nahe und es ist so etwas wie ein Versprechen auf das Meer. Da spielt es fast keine Rolle, dass er natürlich nicht wirklich raus fahren kann. Er ist froh, dass bei all dem was passiert und was passiert ist, dass er trotzdem rudern kann. Er will nicht mit den anderen versteckt in der Wohnung kauern, nicht vor dem Fernseher sitzen und ägyptische Serien oder Al-Dschazeera sehen. Warum schließen sie sich in den Häusern ein um es dann trotzdem im Fernsehen zu sehen. Beim Rudern kommt er in einen monotonen Rhythmus und der Kopf setzt aus. Das ist fast das beste am Rudern. Der Moment der Trance, wenn das Denken endet.
3.
Es ist dunkel, sehr dunkel und Mohammed stolpert über einen Hund, fällt der Länge nach hin und wird unter dem umgedrehten Boot begraben. Khalid verliert ebenfalls die Balance und lässt das hintere Ende des Bootes fallen. Mit lauten Krach schlägt es auf dem Pflaster auf und der Hund läuft schnell davon.
Bist du verletzt, Mohammed?
Ein Moment Stille, dann poltert es ein wenig.
Nein, alles in Ordnung.
Mann, pass doch auf. Bist viel zu laut.
Das war doch keine Absicht!
Sie sind auf halbem Weg zum Strand, Onkel Jussufs Boot ist schwer und es ist schwierig, es nur mit dem Kopf und einer Hand tragen zu können, aber sie brauchen die andere Hand. Für die Ruder. Sie dürfen nicht entdeckt werden, es ist gefährlich hier draußen, mitten in der Nacht. In der Ferne hört man Sirenen und Hubschrauber. Vor vierundzwanzig Stunden hatte ein Kampfhubschrauber das Hamasgebäude neben der Trainingsbaracke beschossen und die Baracke wurde mit zerstört. Die Ergometer sind alle drei kaputt. Khalid und Mohammed hatten am folgenden Tag eine Stunde erstarrt vor der Ruine gestanden. Dann hatte er einen Stein aufgehoben, ihn auf die Trümmer des Hamasgebäudes geworfen und war davon gerannt. Mohammed versuchte ihm zu folgen, aber Khalid war zu schnell für ihn. Mohammed suchte eine Weile nach Khalid, dann dachte er an den Strand. Dort fand er ihn und sie saßen lange Zeit schweigend nebeneinander.  Es war Mohammed der auf dem Heimweg sagte:
 
..Schleich dich heute Nacht raus, wir treffen uns an der Baracke.
Sie vereinbarten eine Zeit und Khalid schlich sich aus dem Haus Omars und seiner Schwester. Es fielen keine Worte, als sie sich trafen. Sie sahen sich nur kurz an, marschierten los und holten das Boot.
Khalid und Mohammed haben sich aufgerappelt, ihre Last geschultert und sind wieder unterwegs. Man kann das Meer jetzt schon riechen, aber vielleicht ist das auch nur das Boot, dass nach all den Jahren in dem Schuppen noch immer voll des Meeres ist. Khalid und Mohammed sind stark, sie haben lange trainiert und sie wissen, dass sie sehr schnell und weit rudern können. Gleich, nur noch ein bisschen, dann tauchen die Ruder ins Wasser ein und das Boot bahnt sich seinen Weg durch die Wellen, in Richtung Europa, Amerika, vielleicht Afrika, oder einfach nur zum Horizont.

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