Mittwoch, 9. März 2011

Thomas Knackstedt: Du hast die Wahl…

Zach spielt mit dem kleinen roten Ball und hat seine Umwelt völlig ausgeblendet. Mit vier Jahren kommt das vor. Man lebt für Momente in einer Zeitblase, ist voll und ganz mit einer Sache beschäftigt, hat die Antennen eingefahren. Er sieht Jonas nicht, der sich von hinten an ihn heran schleicht. Er denkt, er ist allein im Sandkasten. Er täuscht sich. Würde er Jonas Augen sehen…wäre er älter und wüsste, was in Augen geschrieben steht…er wäre hellwach. So ist er es nicht. Jonas Augen sagen: Ich will diesen Ball! Unbedingt! Egal wie. Er hat die Überraschung für sich und stößt Zach mit voller Wucht in den Rücken. Zach fällt in den Sand und seine Nase blutet. Er schreit, als er merkt, dass der Ball weg ist. Dann sieht er Jonas. Er hat den Ball in der Hand und läuft weg. Zorn und Wut machen sich in Zach breit. Er steht auf und läuft los. Eine Flutwelle aus Hass durchströmt sein Gehirn. Er holt auf, gleich hat er den anderen. Das wird er bereuen, ganz sicher…
 
Er bekommt die Schulter zu fassen und reißt den Jungen herum. Er ist noch ein Kind, seine Augen sind weit aufgerissen, stecken wie zwei viel zu große dunkle Murmeln in dem blassen, dreckverschmierten Gesicht. Aber das ist egal. Kind oder nicht. Ben ist seit zwei Jahren bei der israelischen Armee und wenn er eins gelernt hat, dann ist es, dass es völlig egal ist, ob du von einem Kind oder einem Erwachsenen erschossen wirst. Das Ergebnis bleibt gleich: Du bist tot. Ben ist 22 Jahre alt. Das Jungengesicht vor ihm mag vielleicht 12 Lebensjahre sein eigen nennen können, vielleicht. Der Kleine hat sich die ganze Zeit beim Wachposten herumgedrückt. Dann geht plötzlich die Randale los. Eine ganze Schar von Jugendlichen und Kindern strömen aus den Seitengassen. Alles Palästinenser. Steine und Flaschen fliegen. Katapultgeschosse surren wie bösartige Hornissen um die Köpfe der Soldaten. Sie gehen zunächst in Deckung und beantworten anschließend den Hagel der Wurfgeschosse mit dem Einsatz von Tränengas. Die Menge läuft so schnell auseinander, wie sie sich formiert hat. Der kleine Junge ist ganz nah an der Barrikade aus Sandsäcken. Er rennt in eine Seitengasse und Ben verfolgt ihn. Dieser kleine Bastard. Er hält irgendetwas unter seinem viel zu weiten Shirt versteckt. Vielleicht ein Brandsatz oder etwas Ähnliches. Ben schnappt sich den Burschen. Er sieht in die angstgeweiteten Pupillen des Palästinensers. Der greift unter sein Shirt und Ben zieht seine Pistole. Er richtet sie auf den Kopf des Jungen und…
Jetzt braucht er nur noch abzudrücken. Ein Kinderspiel. Nicht mehr als die minimale Anstrengung eines kleinen Muskels im vorderen Glied des Fingers. So wenig Energie, dass man sie kaum messen kann. Aber sie wird die Büchse der Pandora öffnen. Ein Hagel von Sprenggeschossen wird sich aus den Feuerschächten des F16 Kampfbombers ihren Weg in den steinigen Wüstenboden des Irak suchen. Auf diesem Boden ist der gemeldete Fahrzeugkonvoi unterwegs. Rich hat die Anweisung des Hauptquartiers noch im Ohr. Sie begann mit den Koordinaten und endete mit: „…alle festgestellten Objekte angreifen und vernichten.“
15 Fahrzeuge schleppen sich wie eine metallene Schlange durch den Wüstensand. Es sind Jeeps und Lastwagen dabei. Keine Panzer, keine Spähwagen. Es sind nicht einmal Militärfahrzeuge. Jedenfalls kann man sie nicht als solche erkennen. Weiße und rote Laster mit offenen Ladeflächen, beladen mit Menschen. Im ersten Überflug erkennt Rich Männer und Frauen, deren Blicke zum Himmel gerichtet sind. Sie schauen zu ihm hinauf. Er ist für sie der Reiter der Apokalypse. Sie haben nicht die geringste Chance. Rich dreht eine weitere Schleife und geht tiefer. Er entsichert den Feuermechanismus der Bordwaffen und nimmt das letzte Fahrzeug ins Visier…
 
Der Lastwagen ist voll besetzt. Mindestens dreißig Menschen hocken auf der Ladefläche. Die ganze Stadt scheint unterwegs in Richtung Markt zu sein. Fadija musste sich durch die engen Gassen drücken, um nicht in der Menschenflut zu ertrinken. Jorad hatte es genau so vorhergesehen. Menschen, sehr viele Menschen. „Du wirst Allahs Arm sein. Ein Märtyrer, der in den Himmel eingeht.“ Fadija war sich am Anfang nicht sicher, ob er mit 15 Jahren schon in den Himmel einziehen wollte, aber Jorad überzeugte ihn. Die Amerikaner sind Feinde. Sie besetzen das Land und ignorieren die alten Regeln und Gesetze. Dazu haben sie kein Recht. Darüber braucht Fadija nicht lange nachdenken. Er wollte, nein, er musst etwas tun, um seinem Land zu helfen. Aber was? Jorad zeigte ihm den Weg.
Die Weste aus Sprengstoff liegt eng an seinem Oberkörper an. Unter seiner weiten Jacke fällt das nicht auf. In dieser riesigen Menge schon gar nicht. Der Marktplatz ist mit Tausenden von Menschen gefüllt. Die Polizeistation liegt am Rande des Platzes. An die Amerikaner ist schwer heranzukommen, sie igeln sich hinter Wällen aus Stacheldraht und Beton ein. Aber ihre Helfer, die Verräter aus dem eigenen Volk, denen gewähren sie keinen solchen Schutz. Fadija würde bis vor den Eingang der Wache gehen und den Sprengsatz zünden. Ein dünner, roter Draht mit einem Schalter daran, liegt in seiner rechten Hand. Ein Druck auf den Knopf und die Luft wird zu brennen beginnen. Fadija hat eine Menge Sprengstoff an seinem Körper. Er ist eine lebende Bombe, bereit alles in Stücke zu reißen.
Als er sein Ziel erreicht, schaut er sich noch einmal um. Er ist so oft mit seiner Mutter hier gewesen. Sie kauften frisches Obst und Gemüse ein. Aber das ist Vergangenheit,  seine Mutter ist tot. Gestorben bei einem Bombenangriff. Er sieht in die Gesichter der Verkäufer, erkennt einige wieder, betet noch einmal zu Allah und konzentriert sich auf seine Aufgabe…
 
Er stoppt ab, fasst plötzlich wieder einen klaren Gedanken. Was hat er vor? Will er den anderen schubsen, weil der ihn schubste? Welchen Sinn macht das? Selbst für einen Vierjährigen…Er ruft Jonas hinterher und der bleibt tatsächlich stehen und dreht sich um. „Warum machst du das?“ Jonas zuckt mit den Schultern, ist ratlos. „Lass uns zusammen spielen. Das macht sowieso mehr Spaß, als mit dem Ball allein etwas zu machen. Ja?“ Jonas ist unsicher, weiß nicht, was er von der Situation halten soll. „Na los, komm schon.“ Dann wirft Jonas den Ball und Zach fängt ihn. Langsam gehen sie aufeinander zu und spielen…
 
Es gibt keine Distanz mehr zwischen ihnen. Da, wo eben noch Platz genug war, um Hass und Wut sich ausbreiten zu lassen, ist jetzt plötzlich unmittelbare Nähe. Der Junge schluckt, seine Hände verkrampfen sich, er schüttelt wortlos den Kopf. Ben hat den Abzug der Pistole gespannt. Eine Träne läuft über das Gesicht des Jungen. Dann rutscht etwas unter seinem Shirt hervor. Langsam, fast wie in Zeitlupe, fällt ein ovaler Laib Brot zu Boden. Ben’s Finger hat den Abzug fast durchgezogen, hält dann aber inne. Ein Brot, keine Bombe. „Verdammt noch mal, was mache ich hier?“ Das sind genau die Gedanken, die ihm durch den Kopf gehen. „Er ist ein Kind. Ein kleines Kind. Vor zehn Jahren war ich ganz genau so.“ Ben steckt die Pistole in den Gürtel. Er bückt sich, nimmt den Brotlaib vom Boden und reicht ihn dem Jungen. Der weiß nicht, was er tun soll. Ist das ein Trick? Zögernd nimmt er das Brot. Seine Augen weichen keine Sekunde von Bens Gesicht. Der macht eine nickende Geste, fordert den Jungen wortlos auf, zu verschwinden. Ein kurzes, unsicheres Lächeln huscht über das Gesicht des Kindes. Er umklammert das Brot fest mit den Händen und läuft los…
 
Er behält die Szene ganz fest in seinem Blick. Es sind Kinder. Unschuldige Kinder. Egal was die Vorgesetzten oder die Politiker sagen. Seine Hand entspannt sich. Er arretiert den Sicherungshebel und merkt, wie ihm der Schweiß in den Nacken läuft. Wie oft hat er diese Situation trainiert. Nicht nachdenken, einfach nur funktionieren. Wenn das Hauptquartier sagt: Angreifen und vernichten, dann wird genau das getan. Er war nicht dazu in der Lage gewesen. Rich hatte den zweiten Anflug eingeleitet, die Waffen entsichert und war zu allem entschlossen, letztendlich aber zu nichts fähig gewesen. Er sah die Gesichter der Männer, Frauen und Kinder vor sich. Kinder! Kein Kind kann ein Soldat sein! Lass sie erzählen, was sie wollen. In Richs Welt funktionierte das so nicht. Ganz und gar nicht. Er schnappt sich das Funkgerät und nimmt Verbindung auf. „Hier ist nichts; ganz und gar nichts. Ich komme zurück.“  Während der Bomber an Höhe gewinnt, denkt Rich an seine eigenen Kinder, seine Frau, die Verwandten und Freunde. Die Menschen auf den Lastern besitzen genau das: Familie…
 
Die Familie ist das Wichtigste auf der Welt. Sie ist durch nichts zu ersetzen. Er liebte seine Mutter abgöttisch, sie war eine Heilige für ihn. Der Vater war im Krieg gefallen und seine Mutter verdoppelte ihre Liebe zu Fadija, um den Vater zu ersetzen. Als sie starb, wollte Fadija nicht mehr leben. Aber Jorad nahm ihn auf. Er wurde seine Familie. Er war strenger als die Mutter, aber er war da. Und das zählte für Fadija. Heute wird er seiner Mutter folgen. Er freut sich darauf. Seine Augen blicken zum Himmel und er hofft, das Antlitz der Mutter zu sehen. Dann drückt er den Knopf in seiner Hand und die Welt versinkt in einem Inferno aus Feuer…
 
Es gibt viele Möglichkeiten eine Geschichte zu beenden. Bei Deiner eigenen Geschichte hast Du die Wahl. Niemand hilft dir, Dein Geschichtsbuch zu schreiben. Keiner kann deine Entscheidung verhindern oder rückgängig machen. Du allein entscheidest, ob falsch oder richtig. Du hast die Wahl...

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