Dienstag, 31. August 2010

Frederieke Ruberg: Die einsame Mauer


Jocey saß auf der eingestürzten Mauer am Stadtrand. Auf seinem Schoß lag das Maschinengewehr, welches einer der Männer, die ihn zusammen mit den anderen Kindern hergebracht hatten, ihm vor Wochen in die Hände gedrückt hatte. Die Munition hing über seiner Schulter. Inzwischen hatte er sich an das Gewicht gewöhnt.
Die Explosionen hatten aufgehört und es kamen keine Flugzeuge mehr. Die Erwachsenen feierten. Sie sagten, dass nun endlich der Frieden gekommen sei. Sie redeten davon, dass das Regime des Diktators gestürzt worden sei und, dass sich nun alles ändern würde – zum Besseren. Jocey verstand von diesen politischen Dingen nichts, doch die Erwachsenen hatten ihm erklärt, dass er nun nicht mehr würde kämpfen müssen. Er konnte endlich nach Hause zurückkehren, zurück zu seiner Mutter und seiner 4-jährigen Schwester, die nur drei Jahre jünger war als er selbst.
Er erinnerte sich noch daran, wie sie sich unter Tränen von ihm verabschiedet hatten. Seine Mutter hatte vor ihm gekniet und ihn umarmt. Er hatte ihre Tränen nass und kalt auf seiner Wange gespürt. Danach hatten die Männer ihn und die anderen Kinder auf einem ihrer Trucks mitgenommen. Auch jetzt wartete er auf einen der Trucks, die schon vor dem Morgengrauen die Stadt verlassen würden. Einer der Männer hatte ihm gesagt, dass er ihn mit nach Hause nehmen würde.
Jocey starrte auf den Horizont, der sich bereits heller färbte. Er war erleichtert, dass er nun endlich gehen durfte. Er war erleichtert, dass er nun nicht mehr kämpfen musste. Es ängstigte ihn, wie sehr das Gewicht der Waffe ihn inzwischen beruhigte. Früher hatte er Angst vor den Gewehren gehabt, hatte sich davor gefürchtet, mit einer geladenen Waffe auf ein Ziel zu feuern. Mit der Zeit hatte er sich daran gewöhnt; von Mal zu Mal war es ihm einfacher gefallen.
Noch immer sah er in seinen Träumen, wie die getroffenen Männer zu Boden fielen, wie das Blut aus ihren Wunden quoll und zu Boden tropfte, wie sie ihn aus ihren leeren Augen anstarrten. Jocey schüttelte den Kopf, wie als wollte er diese düsteren Gedanken abschüttelt. Plötzlich war ihm kalt und sein Hals war trocken. Er wollte jetzt nicht an die Kämpfe denken; es reichte, wenn er jede Nacht von den Toten träumte und dann Schweiß gebadet und schreiend aufwachte. Die anderen Kindern hatten ebenfalls Albträume. Auch sie schrien in der Nacht. Keiner von ihnen hatte je offen darüber gesprochen.
Vielleicht würde Jocey auch seine Freunde in seinem Dorf wieder sehen. Sie waren alle in verschiedenen Trucks fort gebracht worden, einige hatte man von ihm getrennt. Er hoffte, dass sie überlebt hatten. Zu oft hatte er die anderen Kinder, die hier im Lager seine Freunde geworden waren, sterben sehen. Bei einigen war es schnell gegangen, andere hatten gelitten, hatten unter Schmerzen geschrien und waren später verblutet oder ihren anderen Verletzungen erlegen. Er hoffte, dass es seinen Freunden nicht so ergangen war. Er hatte den Fußball, den sie sich damals vor ihrer Abreise gebastelt hatten, in seinem Zimmer versteckt. Vielleicht würden sie gemeinsam auf dem kleinen Platz im Dorf spielen können. Er war immer gut im Tore schießen gewesen. Er fragte sich, ob er immer noch so gut spielen konnte, nachdem er so lange nicht hatte üben können.
Das Geräusch eines Motors schreckte ihn auf. Jocey sah sich um und sah in einer Staubwolke einen dunklen Truck die Straße empor rasen. Er sprang auf und riss sich den Gurt des Maschinengewehrs über den Kopf. Er wusste selbst nicht, warum er die Waffe mitgenommen hatte. Die Munition würde er nicht zurück lassen. Seine Schwester würde ihn für einen Helden halten, wenn er so zu ihr zurück kehrte. Ihm gefiel dieser Gedanke.
Der Fahrer des Trucks drückte die Bremsen durch, die Reifen drehten auf dem sandigen Untergrund durch und das Fahrzeug hielt rutschend neben der Mauer. In dem Fahrerhäuschen waren alle Plätze besetzt; es waren zwei Männer, die dort saßen. Derjenige am Steuer hatte Jocey angeboten, ihn mitzunehmen.
Jocey lief zur Rückseite des Fahrzeugs. Zwei Männer auf der Ladefläche sprangen auf und ließen die hintere Klappe hinunter. Sie halfen Jocey zu ihnen hinauf zu klettern. Drei weitere Männer saßen auf der Ladefläche, zwischen ihnen zwei Jungen in Joceys Alter. Sie nickten einander zu. Niemand sprach. Sie wollten alle nur nach Hause.
Jocey ließ sich in einer Ecke nieder und zog seine Beine an. Der Truck rollte an und wurde immer schneller. Der Fahrtwind blies ihm hart uns Gesicht und er wandte den Kopf ab, damit der Staub nicht in seine Augen drang. Er sah zurück zu der eingestürzten Mauer, auf der er gerade noch gesessen hatte. Das Maschinengewehr wurde immer kleiner und kleiner, bis es kaum noch zu erkennen war. Er würde nie wieder eine solche Waffe brauchten.
Jocey lehnte sich zurück. Frieden. Er fragte sich, wie dieser wohl sein würde.


(21,0 P.) 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen