Montag, 2. August 2010

Samira Begmann (Schweiz): Brot und Wein

Ich werde Brot und Wein auf die Bank stellen - für den Reisenden. Die Bank am Rande des Weges zu unserem Dorf, unter der Krone des Kastanienbaums. Dort, wo müde Reisende rasten und Schutz vor Regen und Sonnenhitze suchen.
Dort rastete der Reisende. Er war müde, hungrig und vom Regen durchnässt. Schutz vor dem Regen fand er, doch blieb er hungrig. Ich werde ihm also Brot und Wein dort hinstellen, sodass er auch seinen Hunger stillt.
Er hatte Töpfe hergestellt und reiste in andere Dörfer um sein Werk zu verkaufen. Im uns benachbarten Dorf wurde er ausgeraubt, verprügelt und weggejagt. Mit den übrig gebliebenen Töpfen machte er sich auf den Weg zu unserem Dorf, um sie zu verkaufen. Mit seinen Töpfen trug er auch die Enttäuschung, die Wut und den Groll aufgrund dessen, was ihm im benachbarten Dorf widerfahren war. Auf dem Weg hatte er gerastet, aber seine Last konnte er nicht ablegen. Nun war er dazu auch noch hungrig.
Am Ende unseres Dorfes begegnete ihm ein Dorfbewohner und sah ihn missgünstig an. Dies war wie das Salz, das ihm im benachbarten Dorf auf die offene seelische Wunde gestreut worden war.
Inmitten unseres Dorfes begegnete dem Reisenden eine Gruppe von Dorfbewohnern. Einer von ihnen rief dem Reisenden zu: „Hej! Wir dulden hier keine Bettler!“ Der Reisende erwiderte: „Ich bin kein Bettler, ich möchte nur meine Töpfe verkaufen.“ Doch jener hörte ihm gar nicht zu, sondern schubste ihn. Die Wunde des Reisenden zog das Messer und stah den Schubser. Die Gruppe fiel über den Reisenden her und trat auf ihn ein, bis er verschied.
Daraufhin zogen die Angehörigen des Reisenden in unser Dorf und töteten die Familien der Gruppenmitglieder. Danach brachen alle Männer unseres Dorfes auf und überfielen das Dorf des Reisenden. Die Blutrache nahm ihren Anlauf und zog sich über Jahrhunderte, durch Generationen, verfeindete Familien, Stämme und Völker hinweg, bis niemand mehr wusste, welcher Pfeiler diese unüberwindbare Kluft auf diesem unseligen Balkan ausgemacht hatte.
Ich werde Brot und Wein auf die Bank stellen, sodass der Reisende seinen Hunger stillt und seinen Groll dämpft. Dann werde ich selber ans Ende des Dorfes gehen und ihm als erste begegnen. Ich werde ihn freundlich begrüssen und nach seinen Absichten fragen. Dann werde ich ihm alle Töpfe abkaufen und einen guten Preis dafür zahlen.
Auf dass wir neu anfangen können!




(19,6 P.)

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