Samstag, 29. Januar 2011

Thomas Pielke: Vietnam

 Langsam und vorsichtig, ohne dabei eine schnelle Bewegung zu verursachen, schob Thu ein dunkelgrünes Palmenblatt zur Seite und spähte hinaus. Was sie sah, ließ sie erschaudern. Ihr Heimatdorf Son My war von jeglichem Lebenszeichen leer gefegt. Auf den Straßen waren keine spielenden Kinder zu sehen. Stattdessen stiegen vereinzelt dunkle Rauchwolken auf. Zunächst lauschte die sechzehnjährige Vietnamesin und als sie, außer dem Rauschen des Windes durch die tropischen Bäume, keinen Laut vernehmen konnte, traute sie sich aus ihrem Versteck heraus. Schritt für Schritt kam sie dem Rand des Dorfes näher, während sich ein mulmiges Gefühl in ihr breit machte. Zwischen den einfachen Häusern aus Stein und Holz angekommen, verließ Thu ihre Kraft und sie sackte zu Boden. Im staubigen Dreck kamen die Erinnerungen des Tages zurück in ihren Kopf gestürmt.
Die junge Vietnamesin war am Morgen, wie jeden Tag, früh aufgewacht. Doch plötzlich, als sie gerade dabei war, ihren morgendlichen Reisbrei zu sich zu nehmen, ertönte das Rattern von schweren Hubschraubern über dem Dorf und die Hölle schien über die Welt hereinzubrechen. Gewehrkugeln durchbrachen die hölzernen Wände ihrer elterlichen Hütte und hinterließen Löcher in Boden und den kargen Möbeln. Reflexartig duckte sich Thu unter den Esstisch und verharrte regungslos. „Jetzt ist der Krieg auch zu uns gekommen.“, dachte sie in diesem Moment und blickte sich panisch um, bis sie ihren Bruder unter einer Sitzbank in der Ecke kauern sah. Mit einer beruhigenden Handbewegung gab sie Diem, der vier Jahre jünger als sie selbst war, zu verstehen, dass er an seinem Platz verharren sollte. Eine weitere Salve, deren tödliche Kugeln genau zwischen Thu und ihrem Bruder einschlugen und dabei Holzsplitter aus dem Boden rissen, ließ sie schlagartig zusammenzucken. „Was wollen die hier?“, flüsterte Diem durch den Raum, so dass seine Schwester ihn gerade verstehen konnte. „Ich weiß es auch nicht!“, antwortete Thu mit fester und gleichzeitig beruhigender Stimme. Instinktiv tat sie das, was wohl jede große Schwester tun würde: Ihrem Bruder Mut zureden ihn und beschützen wollen. „Bleib bitte da wo du gerade bist. Es ist bestimmt gleich vorbei.“ Tatsächlich entfernten sich die Einschläge der automatischen Kanonen langsam und mit ihnen auch das Rattern der Rotoren. Vorsichtig kroch Thu unter dem Tisch hervor. „Bleib da!“, zischte sie ihrem Bruder zu, bevor sie die Haustür einen Spalt öffnete und hinaus spähte. „Niemand zu sehen.“, informierte sie Diem, um sich sofort danach ein Herz zu fassen und die Tür nach draußen zu durchschreiten. Trotz der morgendlichen Stunden schlug der jungen Vietnamesin bereits eine feuchte Hitze entgegen. Die Straße schien wie leer gefegt. So gut wie alle Bewohner des Dorfes Son My hatten sich während des kurzen, aber schnellen Angriffs in ihre Hütten geflüchtet. Thu begann einem Weg zu folgen, der sie aus der Siedlung hinaus und zu einem nahe gelegenen Reisfeld führte. Ein Blut überströmter Mann saß an eine Häuserwand gelehnt. Sein Kopf war auf seine Brust gesunken und seine Augen geschlossen. Tränen liefen aus Thus mandelförmigen Augen und die honigfarbenen Wangen hinab, doch sie konnte sich nicht um das einzelne Schicksal kümmern und wendete ihren entsetzten Blick von der durchlöcherten Leiche des Mannes, den sie nur zu gut, wie alle Menschen des Dorfes, kannte, ab. Thus Ziel war es, das Reisfeld zu erreichen, auf dem ihre Eltern täglich arbeiteten um das Überleben ihrer Familie zu sichern. Um das Wohlergehen ihrer Eltern sehr besorgt, verfiel sie in einen schnellen Gang durch die immer noch menschenleeren Hütten des Dorfes. Plötzlich blieb sie stehen und wäre am liebsten, so schnell sie ihre Beine nur tragen konnten, zurück gerannt, doch eine Art unsichtbare Barriere schien sie an der Stelle festzuhalten, an der sie stand. Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete Thu, wie dutzende schwer bewaffnete Männer in Tarnanzügen auf den Rand des Dorfes zu liefen. Sie schienen von überall zu kommen. Sie liefen die Straße entlang und brachen durch das Unterholz des dichten Waldes hinaus. Nach endlos scheinenden Sekunden konnte sich die Vietnamesin endlich aus ihrer Starre befreien, doch da war es bereits zu spät. Von hinten packten sie zwei starke Hände mit brutaler Kraft und rissen sie zu Boden. Mit dem Gesicht im staubigen Sand liegend konnte Thu erkennen, wie die Kameraden des Mannes, der sie gerade niedergeworfen hatte, in die Hütten, rechts und links des Weges, einfielen. Schrille Schreie, gefüllt mit Todesangst und tiefer Panik, drangen aus den hölzernen Gebäuden. Thu wurde grob an der Rückseite ihres T-Shirts gepackt und über den Boden schleifend in die nächste Hütte gezerrt. Die Augen der jungen Vietnamesin füllten sich mit Tränen der schieren Angst. In dem hölzernen Gebäude angekommen, ließ ihr Peiniger sie los und Thu kroch schnell in die nächste Ecke, in die sie sich schützend kauerte. „Was soll das?“, fragte sie den starken, weißhäutigen Mann, der sie grinsend anstarrte. Er antwortete in einer für Thu unverständlichen Sprache. Sie konnte lediglich ein Wort des Kauderwelsch verstehen „Gock“. Ein Schimpfwort der amerikanischen Soldaten welches die vietnamesische Bevölkerung umschloss. „Diese Männer sind Amerikaner!“, schoss es ihr durch den Kopf. „Warum tut ihr das?“, fragte sie wimmernd. „Ihr seid doch hierher gekommen um uns von der Diktatur zu befreien. Warum tut ihr uns das an?“ Doch statt Worte, folgten grausame Taten als Antwort. Der Fremde in seiner Tarnuniform beugte sich über Thu hinab und zog sie an ihren Armen hoch. Mit einer weiteren, sehr schnellen Bewegung hatte er sein Opfer auf den nächsten Tisch geschleudert und ihr die Shorts von den Beinen gerissen. Mit aufgerissenen Augen starrte Thu den Mann an. Doch im nächsten Moment schloss sie diese wieder und schrie qualvoll auf, als sie ungeahnte Schmerzen in ihrem Unterleib verspürte. „Warum tust du das?“, schluchzte sie immer wieder. Aber als Antwort bekam sie nur ein erregtes Stöhnen. Nach Minuten, die einer Unendlichkeit gleich zukommen schienen, ließ der Soldat von seinem Opfer ab und verließ die Hütte. Thu lag immer noch, mit heruntergelassenen Hosen auf dem hölzernen Tisch. In ihrer Angst und unter den Qualen schien ihr Geist den Körper verlassen zu haben. Langsam kam ihr Bewusstsein zurück und brachte entfernte Schreie und das Rattern von automatischen Gewehren mit sich. Mit einem Satz war sie auf ihre Beine gesprungen, drohte aber sofort wieder wankend umzufallen. Die ihr zugefügte Gewalt hatte nicht nur ihren Geist, sondern auch ihren Körper geschwächt. Doch nach wenigen Sekunden war das Schwindelgefühl verschwunden und Thu zog ihre Hose hoch. „Ich muss hier weg.“, flüsterte sie leise. Die Tür der kleinen Hütte wurde schlagartig aufgestoßen. In der Angst, ihr Peiniger würde zurückkommen, sprang Thu hinter ein Fass, welches in der Ecke stand. Doch sie täuschte sich. Ein alter Mann, sie kannte ihn nur zu gut, er war ihr Lehrer, kam herein getorkelt. Sein eigentlich weißes Hemd, war fast komplett mit dem Rot seines eigenen Blutes getränkt. Er machte einen Schritt nach vorne und schaute sich in der Hütte um, doch im selben Augenblick erschien ein hoch gewachsener Mann in Tarnkleidung im Türrahmen. In seinen Händen hielt er ein Gewehr, aus welchem, unter Mündungsfeuer, Kugeln austraten und das Fleisch des alten Mannes durchschlugen. Während der Schütze genauso schnell wieder verschwand, wie er erschienen war, stürzte der Lehrer mit einem Stöhnen auf den hölzernen Tisch, auf dem Augenblicke zuvor noch Thu gelegen hatte und begrub ihn krachend unter sich. Das Mädchen erschrak. Sie musste mit ansehen, wie der Mann, den sie schon seit ihrer frühesten Kindheit kannte, qualvoll aus der Welt schied. Mit einer neu gefassten Entschlossenheit stand sie aus ihrem Versteck auf und Schritt langsam auf die geöffnete Tür zu, während aus den Straßen immer noch die Geräusche von Kämpfen an ihre Ohren drangen. Vorsichtig schaute sie aus der Tür erst nach Rechts und dann nach Links. Sie konnte erkennen, wie mehrere der Dorfbewohner auf dem Marktplatz am Ende der Strasse erschossen wurden. Angewidert wandte sie ihren Blick ab und lief los, so schnell sie ihre Beine nur tragen konnten. Hölzerne Hütten und Häuser schienen nur so an ihr vorbei zu huschen und nach wenigen Augenblicken konnte sie unbehelligt den Rand tropischen Waldes erreichen, von dem das Dorf umschlossen war. Sie bahnte sich einige wenige Meter durch das dichte Grün der Palmen und Büsche und merkte, wie ihre Beine nachgaben. Sie hatte keine Kraft mehr sich aufrecht zu halten und sackte in sich zusammen.
Thu verdrängte die Erinnerung an die frühen Stunden des Tages und stand von dem Staubigen Grund der Straße auf. Sie durchwanderte die Wege zwischen den einfachen Häusern, wagte aber keines davon zu betreten. Die Straßen waren mit dutzenden von Leichen bedeckt. Sie konnte unter ihnen keinen einzigen Soldaten ausmachen, es handelte sich nur um die toten Körper der Dorfbewohner. Die junge Vietnamesin schauderte. Sie war mit diesen Menschen aufgewachsen, hatte sie jeden Tag gesehen, mit ihnen gesprochen und ein gemeinsames Leben geführt. Doch jetzt waren sie teilweise bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Sie blickte in Gesichter, die keine klaren Züge mehr aufwiesen, sondern nur noch aus einer blutigen Masse bestanden. Thu hätte am liebsten laut geweint, doch aus ihren Augen traten keine Tränen hervor und ihre Kehle schien wie zugeschnürt. „Diem!“, flüsterte sie und ihre Schritte wurden schneller und schneller, bis sie in ein rasantes Laufen verfallen war, welches schlagartig ein Ende fand, als sie an der Hütte ihrer Eltern angekommen war. Langsam drückte sie mit ihrer Hand gegen die Tür, die daraufhin quietschend zurück schwang. „Diem?“, wiederholte sie in das Halbdunkel des Wohnraums. Doch der Anblick, der sich ihr bot, ließ ihre Hoffnung auf eine Antwort ihres Bruders schnell im Keim ersticken. Diem lag mit ausgestreckten Gliedmaßen auf dem Boden des Raumes. Seine Augen waren geschlossen und sein Kopf schien in einer roten, zähflüssigen Masse gebettet zu sein, während seine Stirn einen einzelnen, ebenso roten Punkt aufwies. „Diem“; rief Thu panisch und sank neben dem kalten Körper ihres Bruders zu Boden. Doch auch jetzt, vom Tod ihres Bruders mit Trauer überwältigt, wollten keine Tränen über ihre Wangen fließen. Es schien, als dass das Leid, von welchem sie an diesem Tag Zeuge geworden war, ihre Tränen hatte versiegen lassen. Langsam, dabei den Blick starr auf das friedlich, fast schlafend wirkende, Gesicht ihres Bruders gerichtet, stand Thu auf. Sie musste los lassen und versuchen, mit der tiefen Hoffnung, dass sie noch lebten, ihre Eltern zu finden. Thu verließ die Hütte, welche ihr seit ihrer jüngsten Kindheit ein Heim geboten hatte. Innerlich wusste sie, dass sie nie wieder auch nur eine Nacht in dem kleinen Gebäude verbringen würde. Sollten mehr Menschen als gedacht den Tag überlebt haben und in das Dorf zurückkehren, würde sie jedoch die Ferne suchen und wenn möglich nie wieder in ihrem Leben diesen Ort besuchen. Langsam schritt sie die Strasse hinab, die zu den Reisefeldern führte, auf den ihre Eltern täglich hart arbeiteten um ihre Kinder zu ernähren. Erst jetzt, wo das Dorf mit den Leichen und dem unendlichen Leid hinter ihrem Rücken verschwand und in der Ferne zu schrumpfen schien, stieg in ihr die Trauer empor. Sie erinnerte sich an die schönen Zeiten, die sie mit ihren Freunden und Verwandten in Son My verbracht hatte und daran, dass nichts mehr so sein würde wie noch einen Tag zuvor. Die Hölle war an diesem Tag über das kleine vietnamesische Dorf herein gebrochen und hatte das Leben der wenigen Überlebenden für immer verändert.
Das letzte, was Thu je hören sollte, war das Klicken des Zünders der Landmine, auf die sie in diesem Moment der tiefen Traurigkeit getreten war.

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