Dienstag, 25. Januar 2011

Björn Reusch: Sie brachten den Frieden

  Ich rannte durch die kleinen Gässchen unseres Viertels. Ich rannte und rannte so schnell ich konnte, ich musste doch pünktlich sein. Der kalte Wind peitsche mir ins Gesicht und meine Augen fingen an zu tränen, aber ich durfte einfach nicht zu spät kommen. Endlich kam ich bei unserem Haus an, schon draußen konnte ich gedämpft verschiedene Stimmen hören, die sich eifrig unterhielten: ich war zu spät. Ich holte einmal tief Luft und öffnete die Tür.

Da saßen sie. Die ganze Verwandtschaft war aus allen Teilen des Landes zu Besuch und trank gerade Tee. Ich verbeugte mich und begrüßte meine Onkel und Tanten so, wie es die Sitte verlangte. Ich ließ mir nichts anmerken, aber in mir stieg dieses panische Gefühl auf, denn alle Plätze waren besetzt, bis auf einen. „Aito-chan, du kannst dich neben deinen Onkel Sikora setzen.“ Ich blickte schluckend auf meinen Onkel aus Hiroshima. Schon vor dem Öffnen der Tür war mir klar gewesen, dass nur dieser Platz frei sein konnte, da niemand etwas mit ihm zu tun haben wollte.
Mein Onkel hatte ein absolut entstelltes Gesicht. Zwar trug er immer weiße Bandagen, doch waren diese recht lose und an einigen Stellen konnte man sehen, dass die Haut in Fetzen herabzuhängen schien. Außerdem war er komisch. Während sich die anderen über Politik und Sport unterhielten, saß er immer schweigend da und starrte melancholisch aus dem Fenster. Wollte er sich dann mal in die Gespräche einmischen, wurde er einfach ignoriert. Niemand schenkte ihm auch nur einen Blick. Er tat mir leid, doch einmal hörte ich wie Onkel Nakamami zu seiner Frau flüsterte: „Das ist ansteckend, komme Sikora bloß nicht zu nahe, wenn dir dein Leben lieb ist“. Und das machte mir Angst, panische Angst. Ich wollte nicht so aussehen und auch nicht so einsam sein, wie er.
Ich lächelte meine Mutter an und setzte mich artig neben meinen Onkel. Er blickte mir in die Augen und sagte etwas zu mir, das ich nicht verstehen konnte. Ich denke, er hatte das freundlich gemeint, mir jedoch kam es vor, als spräche eine wiederauferstandene, halb verweste Mumie zu mir. Ich erwiderte diese Geste mit einem Lächeln. Der Schweiß floss in Strömen meinen Rücken hinab. Es kostete wahnsinnig viel Kraft nicht einfach aufzustehen und weit wegzurennen.
Als Ablenkung versuchte ich das Gespräch meiner Gegenüber aufzuschnappen, um mich vielleicht einmischen zu können. Aber mein Onkel tippte mir auf die Schulter und deutete auf seine leere Tasse. Ich schenkte ihm sofort Tee ein und wollte mich erneut von ihm abwenden, als er zu mir in absolut klarer Sprache sagte: „Komm näher mein Kind, ich will dir etwas erzählen.“ Im ersten Moment war ich zu irritiert, um etwas anderes zu tun, als ihn anzustarren. Ich fragte mich, warum er plötzlich so klar und verständlich sprach. Ich rückte näher, aber nicht zu nahe. Ich merkte, wie die Angst immer stärker wurde. Würden seine Bakterien nun auch mich befallen? Mir wurde schlecht, aber tapfer blickte ich ihm in die Augen und lauschte seinen Worten. „Ich kann sehen, dass ich auf dich abschreckend wirke. Ich bin nicht mehr ich, das sehe ich jeden Tag selbst im Spiegel. Angewidert wende ich mich dann wieder ab, träume von alten Zeiten, in denen alles noch in Ordnung war. Du kannst es dir vielleicht nicht vorstellen, aber ich war einmal ein genauso stattlicher Mann wie dein älterer Bruder. Bis die Amerikaner kamen und ihre Engel des Todes auf unsere Stadt schickten.“ Er hatte wieder diesen leeren Blick und ich wusste nicht, ob das schon alles war, oder ob er weitersprechen würde. Doch dann fuhr er fort:
Das war an einem wundervollen, heißen Sommertag. Und es war mein erster freier Tag seit langem. „Im Krieg arbeitete ich in einer Fabrik, welche Patronenhülsen herstellte. Im Krieg musste jeder etwas für das Wohl des Staates tun. Aber an diesem Tag hatte ich frei und blieb zu Hause. Ein prächtiges Haus ein paar Kilometer vom Stadtkern entfernt. Meine Frau hatte leider nicht frei.“ Sikora schluckte tief und ich fühlte, dass er litt. Ich fragte mich, warum er mir das erzählte, hörte ihm aber weiterhin zu.
„Nachdem ich mich von ihr verabschiedet hatte, kniete ich einfach nur in unserem Garten und lauschte den Vögeln. Sie sangen wunderbar und seit langem fühlte ich mich wieder frei. Ich atmete tief den Duft der Blumen ein, ich beobachtete vergnügt das Schauspiel der beiden Eichhörnchen, die sich von Baum zu Baum hüpfend um eine Nuss stritten. Mal hatte das eine Hörnchen die Nuss, bis das andere wutentbrannt auf es sprang und ihm die Nuss stibitzte. Dann hörte ich es, wieder einmal der Lärm eines Flugzeuges. Sie waren in den letzten Tagen häufiger da gewesen. Ich ging ins Haus, um zu hören, was das Radio zu sagen hatte. Ich wollte es gerade einschalten, als ich einen heftigen Knall hörte. Das letzte was ich sah, war eine grelle Lichterscheinung, dann warf mich eine Druckwelle zu Boden und ich spürte, wie eine ungeheure Hitze die Kleidung in meine Haut brannte. Das war das Schlimmste, was ich jemals erlebt hatte. Als ich nach einiger Zeit aufblickte, konnte ich durch das Fenster eine riesige Wolke erkennen, so ungeheuer riesig, dass ich das Ende im Himmel nicht sehen konnte. Eine Wolke so schwarz wie die Nacht. Es war schrecklich. Ich richtete mich auf, um das Radio einzuschalten, doch ich hörte nur ein Knistern. Alles tat mir weh. Ich hörte Geschrei draußen auf den Straßen, das Geschrei ungeheuren Schmerzes. Geschrei so grell, dass es mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ich stand da wie gelähmt, wusste nicht, was zu tun war. Ich blickte panisch umher. Was war nur geschehen? Ich konnte es mir nicht erklären. Alles tat mir weh und ich hatte Mühe auf zwei Beinen zu stehen. Als ich hinaus auf die Straßen blickte, konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ein Kind starrte mich an, sah mir direkt in die Augen. Der Anblick dieses kleinen Geschöpfes war grauenhaft. Die Haut schien sich zu einem Brei verwandelt zu haben, sie hing jetzt lose herab. Ich konnte an manchen Stellen das rosa Fleisch und die Knochen erkennen. Durch die Finsternis, die sich über die Stadt gelegt hatte und kein Sonnenlicht mehr auf die Erde hinab ließ, kamen mehr Menschen.“
Er machte eine kurze Pause und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Erst jetzt merkte ich, dass ich wieder ich selbst war. Die ganze Zeit schien es mir, als wäre ich selbst in diesem Haus und blickte jetzt über all das Elend. Schon lange hatte ich meinen Ekel vergessen und lauschte gebannt seinen Worten: „Aus dem Schatten der Stadt kamen mehr Menschen. Auch sie sahen einfach nur grauenhaft aus. Manchen waren die Augen so geschwollen, dass sie nichts mehr sahen und sich an andere Menschen festkrallten, um nicht verloren zu gehen. Sie flehten, sie schluchzten und sie weinten. Ich kann das ganze Elend nicht beschreiben, da es zu schrecklich ist. Ich bekomme heute noch manchmal Alpträume, in denen ich diese jämmerlichen Gestalten sehe, die sich mir nähern und ihre Augen sind so leer, eine Leere, die jeden in eine ungeheure Trauer versetzt. Ich wache auf, schweißgebadet und merke, dass meine Augen feucht sind. Ich konnte ihren Anblick nicht ertragen. Sie kamen in mein Haus und ich versorgte ihre Wunden so gut wie möglich. Ich reinigte ihre Wunden, aus denen dicker, gelblicher Eiter quoll und ich sprach ihnen Mut zu. Als ich mir endlich eine kleine Pause gönnen konnte, dachte ich an meine Frau, die in einem Krankenhaus in der Innenstadt arbeitete. Ich wusste, dass sie tot war.“
Tränen quollen langsam seine Wangen herab und auch ich konnte ein Schluchzen nicht verhindern. So etwas Grausames hatte ich noch nie gehört. „Ich wusste, dass sie das nicht überleben hatte können. Ich fühlte mich so einsam, eine schwarze Trauer nahm mir die Luft zum Atmen. Ich hasste diese Momente, in denen ich mich nicht in die Arbeit stürzen konnte, in denen ich nicht der anderen Leid lindern konnte, um das meine zu vergessen. Noch viele Monate versorgte ich die Kranken in meinem Haus. Ein übler Geruch hatte sich festgesetzt, der Tod schien zu Besuch. Ich erlebte viele Tode mit, ich war wie paralysiert. Kleine Jungen und Mädchen, die wimmernd um Atem rangen, bis auch bei ihnen die Kraft nachließ und sie der Tod umarmte.
Am 15. August erklärte der Tenno, unser Kaiser, die bedingungslose Kapitulation im Radio. Und auch hörte ich, dass das Schicksal unserer Stadt auch noch Nagasaki heimgesucht hatte. Diese Bomben der Amerikaner hatten den Krieg beendet. Der Krieg war beendet, aber auf welche Weise! Ich kann bis heute nicht verstehen, wie jemand solch grässliche Waffen einsetzen konnte. Die Amerikaner hatten Frieden durch Gewalt gebracht. Dabei waren wir wahrscheinlich nur Testobjekte für die neuen Waffen der Zukunft, für die Waffen des Teufels. Sie haben hunderttausende von Zivilisten getötet und Familien zerstört. Und auch an mir kann man die Folgen der Bombe erkennen. Schau mich an! Ich bin ein Monster, ein Wrack, ein Schatten meiner Selbst. Wir werden abfällig Hibakusha genannt und keiner will etwas mit uns zu tun haben.“ Seine melancholische Stimmung war in Wut umgekehrt. „Deine Mutter ist die einzige, die mich nicht vergisst und die mich noch einlädt. Diese Treffen hier sind die einzigen Lichtblicke in meinem Leben. Denn seitdem meine Frau aufgehört hat zu sein, fühle auch ich, dass ich innerlich aufgefressen bin und mein Körper einfach nur noch funktioniert. Das Elend der Menschenmassen hat mir gezeigt, wie grausam Menschen sein können und den Glauben an das Gute im Menschen habe ich schon lange vergessen. Denn das Gute scheint wohl eher die Ausnahme zu sein.“
Eine Stille hatte sich über den Raum gelegt und jeder starrte Sakura-san an. Einige hatten bei seinen letzten Worten beschämt auf den Boden geblickt. Und ich kann bis heute dieses unglaubliche Verbrechen nicht verstehen.

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