Sonntag, 3. April 2011

Andrea Tillmanns: Am Fluß

Mick, hat der andere irgendwann gesagt. Das klingt nach Freiheit und auch ein bißchen wie mein eigentlicher Name. Nenn mich Mick.
Du bist verrückt, hat er geantwortet. Niemand hier würde sich freiwillig einen solchen Namen geben.
Dann nenne ich dich Kwenza, hat der andere gelacht, und daran hat sich seither nichts geändert.
Er hat nie herausbekommen, was dieser Name bedeutet. Vermutlich eine Schmähung, vielleicht die Verballhornung eines Tiernamens in einem Dialekt, den er nicht kennt. Möglicherweise auch nichts dergleichen. Mick ist nie leicht einzuschätzen gewesen.
Zum ersten Mal hat er Mick vor sieben oder acht Jahren gesehen. Ein gesichtloser Schatten auf der anderen Seite des Flusses. Der Fluß ist nicht breit; man muß aufpassen, solange man den anderen nicht kennt. Die Neuen verstehen noch nicht, daß man hier ohne ein stillschweigendes Abkommen verloren ist. Ein anderer Neuer, ein sehr junger Mann noch, der Stimme nach zu urteilen, die Tag für Tag die gleichen Beschimpfungen über den Fluß geschickt hat, hat nach zwei Wochen plötzlich begonnen, auf Kwenza zu schießen, vielleicht hat er ihn auch gar nicht treffen wollen, wer weiß das schon. Das sind die Momente, in denen Kwenza zu rechnen beginnt, wie lange er diese Arbeit noch tun muß, um genügend Geld für die letzten Jahre beiseite legen zu können. Dann erscheint ihm jeder Tag als ein Tag zuviel.
Mick ist anders gewesen. Als ersten Gruß hat er Kwenza beschimpft, wie es alle tun. Nach einigen Nächten hat er begonnen mit Steinen zu werfen, wie es alle vor ihm getan haben. Aber Micks Steine sind hoch in den Himmel geflogen und dann schon kurz hinter der Mitte des Flusses gelandet. Da hat Kwenza gewußt, daß dieser Neue bleiben würde.
Zuerst hat Mick von den Ziegen erzählt. Mein Vater, hat er gesagt, der hatte noch eine riesige Herde, mehr Ziegen, als es in eurem verrückten Land überhaupt gibt. Aber dann habt ihr ja angefangen, alles zu zerstören. Und jetzt haben wir nur noch vier Ziegen, und wenn meine Frau nicht achtgibt, fressen sie ihr noch den Salat ab. Aber Ziegen, hat Mick hinzugefügt, sind wirklich gute Tiere. Alle Familien in unserem Dorf haben wenigstens eine. Und du? hat er gefragt. Gibt es bei euch Barbaren überhaupt Ziegen?
Ich habe eine Kuh, hat Kwenza schließlich geantwortet, und daraufhin hat Mick einen Moment lang geschwiegen. Kühe sind dumm, aber zu euch Barbaren passen sie ja gut, hat er schließlich gesagt und gelacht, wie er immer lacht, wenn er Kwenzas Heimat beschimpft. Nur einmal hat er nicht gelacht, als er von seiner Schwester erzählt hat und dem Mann, der den Fluß überquert hatte, und da sind ihm auch ganz andere Worte eingefallen als die üblichen Beschimpfungen. Und Kwenza hat schweigend abgewartet, bis Mick gelacht und erzählt hat, wie er den Bastard erstochen hat, und dann haben beide wieder geschwiegen für den Rest der Nacht.
Aber das ist erst später gewesen. Anfangs hat Kwenza geglaubt antworten zu müssen, wenn Mick über Kwenzas Heimat geschimpft hat. Ihr habt einen merkwürdigen Gott, hat Mick einmal gesagt, aber das ist ja kein Wunder bei einem so merkwürdigen Land.
Hältst du deinen Gott etwa für besser? hat Kwenza geantwortet, und da ist Mick aufgesprungen und hat auf Kwenzas Gott geschimpft und zwischendurch immer wieder in den Fluß gespuckt. Und als ihm keine Beschimpfungen mehr einfielen, hat er über die Menschen in Kwenzas Dorf geschimpft und sie dumme Wilde genannt, die nicht einmal den richtigen Gott anbeten.
Es hat drei Nächte gedauert, bis sie wieder miteinander gesprochen haben. Kwenza hat Mick nicht gesagt, wie lang die Nächte dazwischen gewesen sind, aber das hat der andere wohl auch gemerkt, sonst hätte er nicht das erste Wort nach dem Schweigen gesagt.
Manchmal hat Mick von seinem Land gesprochen, im Süden ist es ganz anders, hat er dann gesagt, vielleicht ein bißchen wie bei euch, Kwenza, nur viel schöner natürlich. Dann hat er von den Tieren erzählt, die er seinem Sohn vor ein paar Tagen gezeigt hat, das ist ja der Vorteil, hat er hinzugefügt, wenn man immer nachts arbeitet.
Später hat Kwenza über die Bäume gesprochen, die auf beiden Seiten des Flusses wachsen, denn mit Bäumen kennt er sich aus. An einem anderen Tag hat er von den Kräutern erzählt, die seine Frau in einem Teil ihres kleinen Gartens anpflanzt, damit schmeckt alles gleich besser, auch wenn dadurch ein bißchen Platz für Salat oder Gemüse verlorengeht.
Du bist wirklich verrückt, hat Mick geantwortet, da habt ihr gerade genug zu essen und verschenkt den Boden für diesen Unsinn. Das sollte meine Frau mal versuchen, hat er gelacht, aber auf eine solche Idee kommt wohl nur ihr Barbaren.
Letzte Woche hat Mick über die Hochzeit seiner ältesten Tochter geredet. Völlig verrückt, hat er gesagt, heiratet tatsächlich einen Europäer! Und ihr Hochzeitskleid, also weißt du, Kwenza, so würdest selbst du deine Frau nicht laufen lassen! Und jetzt wollen sie in der Stadt leben, dort arbeitet ihr Mann, immerhin faulenzt er nicht den lieben langen Tag. Verdient gar nicht so schlecht, sogar ein bißchen mehr als ich, und mehr als ihr in eurem verrückten Land sowieso. Meine Frau mag ihren Schwiegersohn nicht so gerne, aber er ist eigentlich gar nicht so übel, für einen Europäer zumindest. Was denkst du, Kwenza, würdest du deine Töchter einen Europäer heiraten lassen? Dann hat er zu lachen begonnen und in den Fluß gespuckt. Aber besser ein Europäer als einer von euren Männern, hat er hinzugefügt und wieder gelacht.
Paß bloß auf, hat Kwenza geantwortet und einen Stein hinübergeworfen, aber natürlich zu kurz. Kwenzas Steine landen immer im Fluß.
Selbst dazu bist du zu blöd, hat Mick gelacht und sich dicht ans Ufer gestellt. Versuch nur weiter dein Glück, du triffst mich ja doch nicht! Und nach einer Weile, als Kwenza nur schweigend im Feuer gestochert hat, hat Mick gerufen: Hey, Kwenza, dann versuch wenigstens zu fangen, und ihm etwas hinübergeworfen. Probier mal, was meine Frau mir heute Leckeres eingepackt hat, hat er gerufen, so was Gutes kennt ihr Barbaren da drüben ja gar nicht. Da ist Kwenza keine Entgegnung eingefallen, und so hat er das Brot schweigend neben seinem Feuer gegessen.
So also ist Mick gewesen. Auch der Neue hat als ersten Gruß eine Beschimpfung herübergeschickt. Mick? Der kommt nicht mehr, hat er auf Kwenzas Frage geantwortet. Hat wohl im Bett geraucht, oder eine umgefallene Kerze. Jetzt schnippt der Neue die glühende Kippe in den Fluß. Was geht’s dich an? Er scharrt mit der Stiefelspitze die Asche zusammen und wirft einige feuchte Holzscheite in die Flammen.
Kwenza überlegt, dem Neuen zu sagen, daß das Holz nicht für die Nacht reichen wird, wenn er es nicht richtig aufschichtet. Dann schüttelt er leicht den Kopf. Vielleicht morgen. Heute ist es zu früh. Er starrt auf die Spiegelung des Feuers in dem gekräuselten Wasser des Grenzflusses. Nur ein toter Feind ist ein guter Feind, denkt Kwenza. Das sagen sie alle. Nur ein toter Feind, denkt er wieder, und dann noch ein paar mal, aber das ändert nichts.

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