Freitag, 1. April 2011

Elisabeth Curtius-Hauke: Gas, Glas und Gras. Kinder Friedens- Science Fiction

Unter den grauen Häusern über die fahle Straße gehen die Kinder in ihren Kleidern aus Rot, Violett, Grün, Weiß und Blau. Himmelblau hat das früher geheißen; Daniela hat das in ihren altmodischen Büchern gelesen, und David, der Jüngste von allen, hat dazu gesagt: "So ein Unsinn, der Himmel ist doch nicht blau!" Alle haben genickt. Jetzt, tief unter den Häusertürmen, gucken sie selten so weit nach oben durch das gasige Grau; sie tun es zuletzt, weil es anfängt zu tropfen, sehr langsam und zähflüssig und mit diesen schwärzlichen Spitzen im Wasser, die auf den Kopfhelmen kleben bleiben. "Da, seht den Himmel;" ruft leise vor sich hin Daniela, die immer alles zuerst merkt, aber nur spricht, wenn es sein muss. Alle gucken nach oben und rufen erfreut: "Wie schön grauviolett der Abendhimmel heut ist!" David sagt abfällig: "Blau soll der Himmel sein, steht in dem Buch, so ein Unsinn!"
Sie gehen weiter die Straße entlang, biegen in eine kleinere ein, die wenigen Tropfen machen ihren Kleidern nichts aus, höchstens dass die schwärzlichen Splitter sie eklig verfärben, aber da kann man nichts machen; vom roten, violetten, grünen, weißen und blauen Stoff perlen die Tropfen sofort ab, undurchlässig ist der natürlich, nicht wie in den alten dummen Büchern aus dünnen Papierblättern, wo die Leute in die Häuser rennen, wenn es regnet, weil ihre Kleider durchnässt werden bis auf die Haut, was soll das heißen, wieder so ein unverständlicher Satz, ebenso wie der von dem Himmel, der angeblich blau ist. "Haben die vielleicht früher gelogen!" staunt David, und die Kinder unterhalten sich darüber, wie leicht man dahinterkommt, weil doch jeder weiß, dass es kein Mensch überlebt, wenn Kleider durchlässig sind. Keiner geht ohne Kopfhelm und ohne Gesichtstransparent auf die Straße, Kleidung schützt selbstverständlich vom Kopf bis zum Zeh, mit Haut und mit Haaren; und wenn eine Diplom-Mater ein neues Kind im Wagen ausfährt, so liegt das kostbare rare Baby ganz unter Gaze und Glas. Soweit man es jemals zu Augen bekommt; denn jedes Mal gibt es einen Menschenauflauf in den Straßen; Kinder und Kinderwagen sind selten geworden. "Vielleicht haben die doch nicht gelogen," sagt Daniela, die fast immer schweigt, und jetzt, wo sie redet, hören alle hin, sie spricht leise.
"Es ist langweilig, was sollen wir machen. Gleich schließen die Kaufzentralen und wir sehen keine Sachen mehr, nur noch Eisenrollos die Straßen entlang mit diesen öden Gasdüsen, sonst nichts!" - "Kommt, wir gehen in die alte schöne Fabrik!" schlägt Maja vor, die dabei den Clemens ansieht, weil ihr sein Gesicht so gefällt; ganz nah geht sie vor sein Gesichtstransparent mit dem ihren und guckt in die flimmernden Funken hinter dem Kunstglas, seine Augen mit der hellbraunen Iris. Daniela liest, märchenschön: "Bäume von verschiedenem Grün, deren gerade Stämme aus jeder Erdfalte wachsen und ihre Zweige im Wind spielen lassen. Bäume, die ihr Laub länger tragen, Eichen, Ulmen, Buchen und Kastanien, haben gelbliche, rötliche und ins Violette spielenden Blätter."
Die Kinder biegen um eine Ecke, dann um noch eine, kriechen schnell unter dem Rollo durch, das sich soeben sirrend herabsenkt. Sie stehen in dem verlassenen Hof der Fabrik. Gesichert ist diese Fabrik nicht wie die anderen neuen, nur Schießscharten, keine Gasdüsen hat sie, dafür ist die zu alt. Alles ist still zwischen den Mauern, sie gehen über den kahlen Hof in die Halle, knipsen die Taschenlampen an und halten die Wegwaffen vor sich, ohne die kein Kind je aus dem Haus fährt; alle tragen Gürtel und darin eine dünne Patrone mit Tränengas, einen Sesamschlüssel, eine Kassette für Nährpillen und eine Lampe, deren Licht niemals nachlässt, das wäre viel zu gefährlich. Alles sieht vollständig gleich aus, an den unverlierbaren Gürtel angeschweißt. Jedes Kind bekommt seinen weißsilbern leuchtenden Gürtel zum Schuleintritt geschenkt, in der Feierstunde mit rhythmischem Schießen und Kunstnebelkampf. In den alten Büchern steht, dass die Kinder zum Schuleintritt sangen und spitze Tüten bekamen mit süßen Sachen zum Essen, riesenhaft sollen die gewesen sein, was mussten die Ärmsten schleppen, wie gut haben sie es heute dagegen mit den pinkfarbenen Nährpillen in den formschönen Silberkassetten. Jedenfalls sagt Daniela, dass alles so gewesen ist, sie, die diese alten Bücher gefunden hat oben im Glasdach der Fabrik; sie liest die von Anfang bis Ende, jeden anderen langweilen sie.
Manches ist doch aufregend, weil es so unwirklich ist, wie das von dem blauen Himmel und gar das von den riesigen Plätzen im Freien und direkt auf der Erde, die haben Wiese geheißen, W und I und E und S und wieder E. Das müssen Plätze gewesen sein so groß wie das Stadion, in dem der Suprapotentator immer zu uns spricht, wenn schulfrei ist. Aber die Plätze namens Wiese waren über und über voll Gras. So Sachen liest Daniela manchmal vor, kaum zu glauben, aber besser als Langeweile, die uns quält, dagegen kann auch der Diplom-Schularzt kaum etwas machen, besser ist es, dass sie uns ihre Lügengeschichten vorliest, Schlaraffenlandmärchen aus uralter Zeit:
"Wir gehen in die hoch im Gras stehende mit blauem Rittersporn, violetten Winden und Wicken und weißem Wegerich besäte Wiese hinein, die Kühe liegen im Schatten der Kastanienbäume, das Wasser rinnt dünnfädig aus einem grauen Steinrohr, unter uns Täler, ringsherum ein Tal mit tieferen Tälern, Tal an Tal und Wiese an wiese, wenige Häuser, dort oben als höchstes der Berg. Darüber eine blaue Glasglocke der Himmel, ringsum drehend ziehen wir mit den Fingern die Linie im Horizont nach. Wir stehen mittendrin."
Wiesen und richtiges Wasser im Freien und der blaue Himmel, lauter Lügen auf einmal! Wiese an Wiese. Wer so etwas glaubt! Denn diese Wiesen sind über und über voll Gras, was gar nicht geht, weil doch jedes Kind weiß, dass es so viel Gras gar nicht gibt auf der ganzen Welt. Milliarden würde das kosten, wenn es möglich wär, wer zahlt dann die wichtigen Sachen, unsere künstlerisch gestalteten Waffen. Gras haben eben nur die Reichsten in ihren Töpfen rings um die Penthäuser, in denen die Wehrwalter wohnen hoch über unseren Dächern. Da stehen die Gefäße mit dem unbezahlbaren Gras. Wir sehen die Töpfe mit dem kostbaren Gras ja nur manchmal in der Television, und vor allem ist daran betäubend der helle Duft, der aus dem Odorator kommt. Richtig benebelt wird man davon, Maria wird davon übel. Unser täglich Gas. Sie verbieten dem Hund, an der Schmeckdüse zu saugen, weil er dann immer kotzt.
Daniela ist leise und lieb, aber manchmal denken sie doch, ob sie sie nicht einfach beschwindelt, wenn sie von Häusern. Die Häuser, von denen sie redet, die sollen in Tausenden und in Gruppen direkt auf dem Erdboden gestanden haben, umgeben von lauter Gras, und das hat W-i-e-s-e geheißen. Wer soll das glauben, ist ja der reinste Science-Fiction-Roman, der nach der Zeit der Bevölkerungs- Dezimierung spielt, die sie in der Schule immerfort durchnehmen, wir können es schon nicht mehr hören. Daniela veräppelt sie offensichtlich. Liest vor aus dem Buch, den Zeilen mit den Fingern werden sie folgen; nur noch ganz langsam können sie lesen, in der Schule haben es die Jüngsten nicht mehr gelernt, wozu denn lernen, was keiner mehr braucht. Lesen, lang ist es her.
"Lasst uns weit fortgehen, in ein schönes Land, von Bergen eingeschlossen, und oben weiß von Schnee und unten bunt von Blumen, und die Sonne scheint, und die Wolken ziehen; und ist kein Krieg und keine Krankheit; und die Menschen, die dort leben, lieben einander und werden alt und sterben ohne Schmerz."
Ihre Stablampen haben die Kinder angeknipst und leuchten auf das Buch, das weiß glänzt unter den Strahlen vom Licht. Sie atmen halblaut, als sie hören, schweigen und leuchten zuletzt umher in der finsteren Halle. Sie sehen die Stapel von dünnen Kabeln überzogen mit grasgrünem Kunststoff, sie sehen Haufen von Plastikfolien in Rot, Violett, Grün, Weiß und Blau. Sie lösen sich aus dem Lichtkreis und laufen umher, stöbern in den verlassenen Sachen, trommeln an Kisten und Hohlformen aus Kunststoff, rascheln mit den Resten in den Farben ihrer Kleider. Sie vergleichen die Farben miteinander und finden es zuletzt ganz schön hier, weil es so bunt ist wie sie. "Bunt von Blumen", wiederholt Daniela eine Zeile aus ihrem Buch, und die anderen fragen, wie das gewesen sein soll, denn Blumen sind ja fast ausgestorben auf Erden. Wiese mit Wasser, bunt von Blumen, das wollen sie spielen. Vergessene Dinge liegen in der Fabrik, in vielen Farben. Jeder sucht sich einen Gegenstand aus. Maria ist der rote Mohn und Lisa ist rote Rose. David ist die blaue Kornblume. Daniela ist die Lilie und die weiße Winde. Maya ist das violette Geißblatt, genannt Jelängerjelieber, das in dem merkwürdigen Buch den Duft der Liebe hat, so komisch steht das dort wirklich geschrieben. "Kommt, wir spielen so ein Märchen von Bäumen und Blumen. Das ist das Glashaus der Fee, und darin sind lauter Blumen!"
Bunt wie Blüten tanzen die Kinder auf dem Dach. Daniela vor sich hin so ein altmodisches Wort flüstert "Häusermeer". Die Kinder spüren etwas von ihren eigenen Träumen, die eigentlich noch ähnlich sind wie die Lügenmärchen in den alten Büchern, so etwas hält sich lange. Sie halten sich aneinander fest, sie lehnen sich aneinander, weil es ein bisschen unheimlich ist hier auf dem nächtlichen Dach und auch ein bisschen feierlich ganz allein unter dem Himmelsgewölbe zwischen dem Häusermeer, alles Wörter aus den altmodischen Büchern, die ihren Träumen so merkwürdig gleichen. Der violett-schwarze Nachthimmel ist wie eine Glasglocke über dem Häusermeer mit ihrem Glashaus, das jetzt ein Blumenbeet, Blütenmeer ist. Sie tanzen behutsam herum um das Glashaus, denn auch Tanzen ist verboten als nervenzerrüttende Bewegung, sogar David ist leise und sagt, sonderbar klingt das aus seinem sonst so spöttischen Mund, etwas wie aus Danielas Büchern. "Da oben", zeigt er gegen den Himmel, wo er sich aufbäumt über dunstigem Gashauch der Stadt: "Da oben war früher der - - - G O T T ". Alle sehen erst hoch, folgend seinem zeigenden Finger, dann schnell zu Boden, grade weil alle wissen, grad in dieser Sekunde, was er damit meint. Sie schauen dann wieder hinauf und rundherum und herunter. Sind inmitten der Häuserwälder, das Glashaus mit den bunten Blumen und den grünen Blättern sieht von draußen aus wie in Märchen aus den altmodischen Büchern. "Sieht aus - wie lebendig", sagt leise Daniela und zeigt auf die Blumen und Blätter hinter dem schimmernden Glas. Alle nicken. Wie richtige Blumen.
Den Töchtern und Söhnen
Den Neffen und Nichten
Den Enkeln und Urenkeln  



(22,6 P.)

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