Freitag, 1. April 2011

Susann Obando Amendt: Briefe an Rosalie


Ich warte, warte, dass der Morgen dem Vormittag weicht und dass das Kaufcenter seine Türen öffnet. Der Zeiger der Wanduhr schleicht dahin, bis er der neunten Stunde naht und ich mich auf den Weg machen kann. Im Korridor ziehe ich mir Schuhe und Mantel über, beobachtet von den vielen Gesichtern, die in Fotorahmen an der Wand hängen: die Jungs, Enkel und Urenkel. Und Rosali.
Im obersten Schubfach der Kommode stapeln sich die Briefe an sie, Briefe, zu denen sich immer ein neuer gesellt, wenn es etwas zu erzählen gibt. Sie warten wie ich auf den jüngsten Tag, denn noch vermag es niemand, Briefe zu denen zu tragen, die in den Himmel voraus gegangen sind.
Erwartungsvoll verlasse ich die Wohnung und schreite die Stufen in den Tag hinab. Vor der Haustür bleibe ich stehen und atme die kalte Luft ein. Über mir steigen Flugzeuge vom städtischen Airport mit erhobenen Nasen in den frostblauen Himmel. Unwillkürlich denke ich an die Geschwader, die damals mit brummenden Motoren der polnischen Grenze zugeflogen sind und denen ich als Junge so inbrünstig zugewinkt hatte. Beschämt wische ich den Gedanken fort und gehe weiter, bis ich es erreiche, das Einkaufscenter mit der hohen Glasfassade.
Leute drängen sich in das Rund der Drehtür. Ich dränge mit und betrete mit einem tiefen Atemzug den weiten Gang des Kaufhauses. Vergitterungen rattern hoch, Stände werden aufgebaut. Stumm grüße ich bekannte Gesichter und deren Lächeln zerfließt in mir zu einem wohligen Gefühl.
Mich zieht es weiter, an den Läden vorbei, bis ich die Sitzbank zwischen dem Buchladen und dem Eiscafe erreiche. Stimmen schwirren und Lachen, Kaffeelöffel klappern, Kuchengabeln stoßen in duftiges Gebäck. Hier hat sich die Luft mit dem Duft von Kaffee und Waffeln voll gesogen - hier lasse ich mich nieder.
Viele Leute hasten vorbei, doch manche beschenken mich mit einem Kopfnicken, einem Lächeln, und jedes Mal sackt mir winziges Glück bis tief in den Magen.
Gäste sitzen an den Tischen des Cafes, darunter eine Mutter und ihre Tochter. Ich kenne die zwei, schließlich sitze ich oft hier. Was sie heute treibt, weiß ich nicht, aber ich muss schmunzeln, weil sie sich Schokoküsse an die Nasenspitze ditschen. Als sie meinen Blick bemerken, wende ich mich ab, und doch steht die Mutter plötzlich neben mir. Ich höre etwas von neuem Job und dass sie mich einladen möchte. Dann reicht sie mir eine Tasse auf einem Teller.
Verblüfft greife ich zu und sehe ihr nach, als sie wieder an ihren Tisch geht. Der Geruch süßer Schokolade steigt mir in die Nase und lässt Erinnerungen wach werden: an meine Söhne, an Rosali mit dem Kinderwagen, an Richard und mich, wie wir als Buben Mutters Vorrat an Blockschokolade geplündert haben. Und an das Lachen der Kameraden, die damals in Russland gefallen sind.
Ich muss schlucken.
Meine Hand zittert und die Tasse auf den Teller fängt an zu klappern. Schon beim bloßen Gedanken daran spüre ich sie in den Knochen, diese Kälte des Winters 1941/ 42 in den tiefen Weiten Russlands. Ich sehe mich und die Kameraden da draußen, frierend in den Schützengräben bei minus 40 Grad, frierend am Öfchen im Mannschaftsbunker.
Jeder Happen Schokolade war ein Stückchen Trost aus der Heimat. Dann die Scheißerei, die sich Anfang 1942 durch meine Därme gewühlt hatte. Sie ließ mir die Uniform am Körper schlottern - und keine Medizin weit und breit. Die Versorgungsmaschinen kamen bei der Kälte nicht in die Luft und die Versorgungsgespanne blieben im Schnee stecken. Da stopften mich die Kameraden mit Schokolade, erst mit meinen, dann mit ihren Vorräten, die bald wie unsere gesamte Verpflegung zur Neige gingen. Es wurde rationiert. Der Hunger nagte in jedem Magen, viele erfroren draußen in der Nacht. Dann zogen ihnen die Lebenden die Mäntel aus, um sich selbst drin einzuhüllen, und jede Jackentasche, jede Hosentasche wurde nach Essbarem durchgesucht. Dann endlich ein Versorgungsgespann und Kisten mit - Schokolade.
Ich werde nie diese Gier der Kameraden vergessen, mit der sie sich auf die Täfelchen gestürzt haben. Tage später wiederum schmeckte jeder Bissen nach Krieg und Kälte, Verzweiflung und Tod. Und keiner mehr stillte den Hunger, weder den körperlichen, noch den nach mütterlicher Wärme.
Zum Glück war Richard bei mir, mein älterer Bruder. Er hat mich gepflegt, mich versorgt. Mit einem Augenzwinkern hat er mir vieles von seinen Rationen überlassen, als wollte er sagen: Kopf hoch, Kleiner! Das Leben wartet auf uns. Er hat mir sogar Wachgänge abgenommen, damit ich am Öfchen hocken konnte. Bis wir ihn eines Morgens steif gefroren im Graben fanden.
Monate später wurde ich verletzt in einer Frachtmaschine die Heimat ausgeflogen. Ohne Richard und meinen inneren Frieden. Danach konnte ich nie wieder eine Maschine betreten, nie wieder Schokolade essen, denn jedes Mal wurde mir bewusst, wie sehr mir mein Bruder fehlt.
Nur - was tue ich jetzt mit dieser Tasse?
Verlegen rühre ich in der samtigen Flüssigkeit. Mit nassen Augen betrachte ich die Sahne, die Muster in die dunkle Oberfläche zeichnet. Ich werde nur so tun, ja, so tun, als tränke ich, um die junge Frau nicht zu kränken. Also hebe ich die Tasse an meine Lippen, zitternd, und dieses Zittern ist es, weswegen mir ein Schlückchen in den Mund gerät. Warm und süß zerrinnt es auf meiner Zunge, landet in meinem Magen. Erschrocken will ich die Tasse fortstellen, doch etwas lässt mich innehalten, eine Erinnerung, die gar keine ist: der Bub Richard, der mir zuzwinkert. Kopf hoch, Kleiner! Das Leben wartet auf uns.
Stille breitet sich in mir aus, unsagbar tröstliche Stille,
und mir ist, als bräuchte ich in diesem Moment gar nichts mehr, nicht einmal das Lächeln eines Menschen.
Verzaubert nehme ich noch ein paar Schlucke, dann stelle ich die Tasse glücklich neben mir ab. Ich denke an meinen Schreibtisch und an die Schachtel mit dem Briefpapier und erhebe mich. Mit langsamen Schritten verlasse ich das Kaufcenter. Ich schaue wieder zu den Flugzeugen hinauf, die über mir im Blau verschwinden. Etwas wie Frieden sinkt auf mich herab und lässt mich kräftig ausschreiten. Ich muss diesen wundersamen Augenblick unbedingt zu Papier bringen. Ich muss Rosali davon erzählen. Und ich bin mir sicher, dieser Brief wird ganz besonders schön.



(23,1 P.)

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