Freitag, 1. April 2011

Hans van Ooyen: Wahre Geschichte aus meiner Stadt


Ob ich die Geschichte schon gehört hätte, die heute kaum noch jemand erzählen möge, fragte der Alte mich mit demselben forschenden Gesichtsausdruck, der mir bei unseren eher zufälligen Begegnun­­gen der letzten Jahre wiederholt aufgefallen war, aber während ich noch darüber nachdachte, auf welche der vielen Geschichten, die man sich bei uns erzählt, er damit anspielte, während ich seinen Blick mit einem verlegenen Lächeln beantwortete, gleichermaßen Ratlosigkeit und Neugierde zum Ausdruck bringend, schüttelte er plötzlich hef­tig den Kopf, heftig und jungenhaft, aber doch mit einem Anflug jener milden Nachsicht, die mir an Männern seines Alters nie gefallen hat, und meinte - dabei ständig den Kopf hin- und herwiegend -, nein, was mit diesem Tomaczek geschehen sei, habe mir bestimmt keiner vor ihm erzählt, denn die Augenzeugen des Schauspiels, das sich an einem Nachmittag im Frühsommer 1941 auf dem Marktplatz in Brassert zu­getragen habe, schwiegen sicher allesamt aus Furcht, man werde sie womöglich für Mitschuldige halten, was sie eigentlich auch gewesen seien, aber er werde mich nun nicht länger auf die Folter spannen, sondern mir gleich von den Vorgängen dieses Tages berichten, so­bald er sich die Pfeife gestopft habe, und dabei öffnete er die Blech­dose, die er bisher zwischen den Fingern gedreht hatte, stopfte etwas Ta­bak in die Pfeife, drückte ihn mit dem Daumen an, ruhig und kon­zen­triert, ohne sich von meinem fordernden Blick auch nur im geringsten irritieren zu lassen, überprüfte noch einmal die Festigkeit, bevor er endlich das zerbissene Mundstück, grün und ausgelaugt vom häufi­gen Gebrauch, zwischen die braunen Zähne nahm und die ersten Zü­ge tat und kalt weiterrauchte, bis ich für ihn ein Streichholz anriß und ihm Feuer gab, worauf er fester und fester zog, dann die ersten Wol­ken aus dem Mund steigen ließ, was ihm offensichtlich einiges Ver­gnügen bereitete und ihn dazu veranlaßte, immer heftiger zu paffen, bis der Raum ganz von den süßlichen Nebelschwaden erfüllt war und ich schon zu fürchten begann, er lasse seine Gedanken zu weit ab­treiben, als daß er sich noch der Geschichte erinnern werde, die er mir zu erzählen versprochen hatte, aber während ich nach einem Mit­tel suchte, um ihm meine Gegenwart ins Gedächtnis zu rufen, teilte sei­ne Stimme schon die Stille, und ich hörte ihn von diesem Tomac­zek berichten, von jenem Mann, den ich nicht kannte, der mich nun aber - wohl wegen der geheimnisvollen Ankündigung des Alten - zu in­ter­essieren begann, ein Mann von damals etwa vierzig Jahren, Berg­mann von Beruf, Vater dreier Kinder und der beste Ankerwickler, über den die Zeche verfügte, ein stiller Mensch, der sich politisch nie­mals hervorgetan hatte, obwohl er das braune Gesocks eher heute als morgen zum Teufel wünschte, wie er seinem Bruder einmal anver­traut haben soll, ein Mann, der nie mit den Mächtigen in Konflikt geraten war, nicht bis zu jenem Tag im Frühsommer *41, an dessen Vor­abend er in seiner Stammkneipe wohl etwas über den Durst getrunken hatte, was ihn nicht nur dazu veranlaßte, heimlich eine Flasche Branntwein aus dem Regal zu nehmen, sondern auch dazu, sich wenig später auf ein Gespräch mit jungen polnischen Fremdarbeitern einzulassen, denen er bei seinem Heimweg begegnete, Dienstverpflich­teten also, die sich - anders als bald darauf die Verschleppten aus der Sowjetunion - weitgehend frei in der Stadt bewegen durften, ob­wohl auch sie von den braunen Herrenmenschen als lästiges Unge­ziefer angesehen wurden, und Tomaczek habe mit den Polenburschen nicht nur ein lockeres Gespräch am Straßenrand begonnen, son­dern er habe sich auch dazu hinreißen lassen, die Flasche im Ver­lauf der Unterhaltung aus der Tasche zu ziehen und weiterzureichen, nach­dem er selbst davon getrunken hatte, und jeder der Polenbur­schen habe einen Schluck genommen, einen Schluck nur, höchstens zwei, und Tomaczek habe sich dabei bestimmt nichts weiter gedacht, und er habe auch nicht gemerkt, daß der Ortsgruppenleiter ihn durch das Fenster des benachbarten Hauses beobachtete, so daß noch in der gleichen Nacht, als Tomaczek schon zu Hause bei seiner Frau im Bett lag, eine Sitzung der örtlichen Parteileitung einberufen wurde, auf der man beschloß, an dem Saukerl Tomaczek ein Exempel zu sta­tu­ieren, woraufhin wenig später einige Nazis unter Führung des Orts­grup­penleiters grölend vor dem Haus des friedlich Schlummernden auf­getaucht seien und den verstörten Bergmann aus dem Bett gezerrt hät­ten, und während der Alte mir das alles erzählte, dabei wieder und wie­der Pausen einlegend und versonnen dem Rauch nachblickend, sah ich den Marktplatz vor mir, wie ich ihn hundertmal zuvor gesehen ha­be, links den Bunker mit seinen armdicken Mauern wie eine wider­sinnige Trutzburg, vor mir den gepflasterten Platz, weit hinten, mitt­wochs und samstags von den Ständen der Obst-, Gemüse- und Blu­men­händler verdeckt, die halbhohe Steinwand, rechts die Geschäfte im Parterre des neuerbauten Wohnhauses, in meinem Rücken die leb­hafte Brassertstraße und vor mir eine Menge stummer Bürger, Ge­schäftsleute und kleine Angestellte, deren Gesichter ich mir nie habe mer­ken können, dazwischen die Bergmänner aus der alten Kolonie mit Frauen und Kindern, aber allesamt nicht so herausgeputzt, wie sie mir heute oft vorkommen, eine schweigende, ängstliche und neugie­rige, fast lauernde Menschenmenge, die die Hälse reckt und regungslos dem Treiben folgt, das sich vor ihren Augen abspielt, in Sze­ne gesetzt von den örtlichen Parteibonzen, die seit Jahren auf die­se Stunde gewartet haben, und ich dazwischen und lauernd und ängst­lich und stumm, den Spalt zwischen den Schultern meiner Vorderleute verbissen gegen das Drücken und Drängen der Nachfolgenden verteidigend, während der Mann vorn auf die bereitgestellten Kisten gehievt wird, von festen Männerhänden geschoben, gezogen, ge­drückt, von den Fäusten eines dicken Mannes in Uniform am Kragen gepackt, und während ein Raunen durch die wie erstarrt Stehenden geht, während sie den Mann, von dem ich nur weiß, daß er Tomac­zek heißt, hin- und herzerren, bis er die Position einnimmt, die sie ihm zugedacht haben, während hinter mir das Geschiebe und Gepuffe von neuem beginnt, sehe ich zum ersten Mal sein Gesicht, sehe die Angst dort, die dunkle Kruste aus getrocknetem Blut und Dreck im Mundwinkel, die hilflos rudernden Arme und das Schild vor seiner Brust, diesen hämmernden, pochenden, nicht mehr auszulöschenden Schrift­zug auf Pappdeckel, dieses „Ich bin ein Polackenfreund“, und dazwischen und darüber und darunter und immer wieder Arme unter Uni­formtuch, die ihn vor und zurück und zur Seite zerren, als genüge die­ser Augenblick der Erniedrigung ihnen nicht, als müsse die Inszenie­rung weiter vervollkommnet werden, Hände und Hände, nun auch neben mir, vor mir, hinter mir, Hände, die sich mit Pferdedung beladen, sich zu Fäusten ballen, während meine Hände sich tiefer und tie­fer in die Hosentaschen graben, während ich mit aufgerissenen Au­gen starre, angewidert und gelähmt, die Hände noch tiefer in die Ta­schen bohre, damit ich sie nicht auch in den Pferdekot greifen sehe, während die Fäuste sich recken, während der Kot auf seinen Körper pras­selt, während die neben mir nun die ersten Steine werfen, wäh­rend ihn eins der Geschosse am Kinn trifft und das Blut auf seine Jacke spritzt, auf die Schrift vor seiner Brust und auf die Hände, die ihn noch immer halten, während er zu wanken beginnt, sich kaum mehr auf den Beinen zu halten vermag, aber trotzdem nicht zu Boden geht, während ich dieses Pochen in mir höre, das Blut in den Schläfen, die Frage, warum ich nicht aufschreie, warum ich nicht vor ihn tre­te, um ihn mit meinem Körper zu schützen, warum ich ihnen nicht in die Fressen schlage, warum ich nicht, wenn ich schon alles dies nicht tun kann, warum ich dann nicht wenigstens fortgehe, während ich noch immer hier stehe, die Hände in den Hosentaschen vergraben, starr­stumm, fragte mich der Alte, der mir diese Geschichte erzählte, noch einmal, ob man sie mir jemals erzählt habe, und ich - noch immer zwischen den Männern, Frauen und Kindern auf dem Marktplatz mei­ner Stadt - schrie ihm mein Nein ins Gesicht, daß er erschreckt verstummte und mich musterte, als wäre ich ihm fremd.



(23,1 P.)

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