Montag, 11. April 2011

Milena Charlotte Vanini: Heimkehr

„Brian!"
Ich kann Mathis nicht mehr zurückhalten, er läuft einfach los, quer über den Bahnsteig, hinüber zu dir, dem jungen Mann mit den dunkelbraunen, strähnigen Haaren, die du dir – vorschriftsmäßig – kurz geschnitten hast, obwohl sie dir länger viel besser stehen.
Mathis. Er hat so lange auf diesen Moment gewartet, und dich sofort erkannt, obwohl du dich so sehr verändert hast, und das liegt nicht nur an der Frisur. Das kommt von innen heraus.
Ich sehe, wie du deine Tasche abstellt, und zögernd, fast ungläubig zu dem kleinen Wesen von Fünf Jahren zu deinen Füßen blickst, das du zuletzt vor etwas mehr als eineinhalb Jahren gesehen hast. Dein Sohn.
Ich will dir das zurufen, quer über die Köpfe der Reisenden und Wartenden, ich will winken, und lachen, und strahlen, über das ganze Gesicht strahlen, und dir zeigen, wie sehr ich mich freue, und nicht nur ich, Mathis ja auch – Dein Sohn, dein Kleiner, der fast jeden Tag von dir geredet und nach dir gefragt hat – aber auf einmal kann ich das alles nicht mehr. So war das nicht geplant, so ganz bestimmt nicht. Etwas läuft falsch, ich weiß nur noch nicht, was.
Stumm sehe ich zu, wie du dich kurz zu dem Kleinen hinunterbeugst und ihn anblickst. Diese großen, dunkelbraunen Augen hat er von dir, das steht fest, ganz klar, unbestreitbar.
Dann blickst du auf, zur Decke, zu den großen Fenstern, durch die das Licht der untergehenden Septembersonne die Bahnsteige in goldenes Licht taucht, dann wieder nach unten, dein Blick streift all die Menschen auf dem Bahnhof nur kurz und macht sie zu Sekundanten in unserem Film, zu Platzhaltern, nur der Form halber anwesend. Dann erkennst du mich, und lächelst. Ein kleines Lächeln zwar nur, ein Lächeln, das deine Augen nie erreicht, aber immerhin ein Lächeln.
Und das reicht, um mich aus meiner Erstarrung zu lösen. Ich dränge mich durch die Menschen, Schritt um Schritt, kämpfe mit mir selbst, ringe, gerate in Rücklage, überzeuge mich selbst und komme schließlich direkt vor dir zum Stehen.
Ich suche deinen Blick, etwas vertrautes in deinen Gesichtszügen, aber das einstige Strahlen deiner Augen ist erloschen, und fast bin ich mir nicht mehr sicher, vor demselben Mann zu stehen, den ich einmal meinen besten Freund genannt habe. Oh Gott, Brian, was haben sie mit dir gemacht?
Jetzt stehen wir voreinander wie zwei Fremde, und Mathis... Ja, der Kleine in seinem Eifer, in seiner Freude, er zieht deine Tasche hinter sich her in Richtung Parkplatz. Ich grinse ihm zu, und bedeute ihm, schon mal vorzugehen, und er tut es.
„Er ist groß geworden.", flüsterst du, leise, aber dennoch laut genug, das ich es hören kann, und außerdem würde ich dich auch so verstehen. Glaube ich zumindest.
„Ja. Ganz nach seinem Vater."
„Danke, das du dich um ihn gekümmert hast...", du stoppst abrupt, als wäre dir mein Name entfallen, eine kurze Pause entsteht, „...Konny."
Ich verziehe das Gesicht, als du mich bei dem alten Kosenamen ansprichst, Konny, Konny, so nennt mich nicht mal Mathis, selbst für ihn bin ich nur Konstantin, Onkel Konstantin vielleicht, aber nie, niemals mehr Konny. „Hör auf mich so zu nennen. Das klingt nach Kindergarten, und aus dem Alter sind wir raus."
Eine Falle. Aufmerksam betrachte ich dein Gesicht, kann jedoch keine Regung erkennen. Früher hättest du in jedem Fall deinen Kommentar abgegeben, ganz bestimmt hättest du das, aber heute schweigst du nur, dein Blick entwischt durch die großen Bahnhofsfenster und verliert sich am blassen Himmel, in einer Welt, die wahrscheinlich nur du sehen kannst.
Ich weiß nicht so genau, was du in ihr siehst, in dieser, deiner Gedankenwelt, gestützt von den Pfeilern deiner Erinnerungen, zusammengehalten vom Netz deiner Geschichte, aber ich kann es mir denken.
Fast zwei Jahre warst du im Krieg. Deinen Sohn, der nicht geplant war, und dessen Mutter sich davongemacht hat, habe ich übernommen. Das macht man unter Freunden so.
Was hast du wohl in diesen zwei Jahren gesehen? So sehr ich versuchen will, das nachzufühlen, ich weiß doch, dass ich das niemals können werde. Ich war nicht dort. Ich habe nur die Nachrichten gesehen, und schon das war zu viel für mich. Nach meiner Vorstellung hast du zwei Jahre lang in einer Hölle gelebt, von der ich nur aus deinen paar Briefen weiß.
Ich habe den gottverdammten, verfluchten Tag erwartet, an dem du wieder vor mir stehen würdest, ich habe mich auf ihn gefreut, ihn herbeigesehen, und dennoch zugleich gefürchtet, weil ich nicht genau wusste was auf mich zukommen würde, wie ich mich verhalten sollte, dir gegenüber.
Ich habe nie gewollt, dass wir hier, an diesem Punkt ankommen würden, voreinander stehend, und nicht mehr weiter wissend. Du verstört, zerrüttelt, und ich nicht in der Lage, dir zu helfen. Mit keiner Tat, mit keinem Wort. Deine Augen haben einfach zu viel gesehen, dein Herz zu viel ertragen müssen für deine gerade mal 24 Jahre. Du hast Kameraden, Freunde verloren, den Glauben an dich, und die Richtigkeit dessen, was du getan hast, wofür du eingestanden bist.
Aber man muss stark sein, in Zeiten wie diesen, stärker als du das sein konntest. Alle haben sie dir gesagt, du solltest den Kopf hocheben, nicht aufgeben, weitermachen, weitergehen, dass das alles einen Sinn hätte.
Ich auch.
Aber jetzt erkenne ich, wie es wirklich um dich steht. Dass es längst zu spät ist, du mit jedem Tag etwas mehr an deiner Last zerbrichst.
Gib nicht auf, haben alle gesagt, Gib niemals auf. Lass den Kopf nicht hängen. Alles wird gut. Alles wird wieder gut.
Und du hast gelächelt, gelächelt und genickt. Du, der Mustersoldat, immer präsent und loyal, hast die ganze Welt eiskalt angelogen, und es war dir so egal.
In deinem letzten Brief hast du von Jonathan und Jesse, Zwillingen aus deiner Einheit, erzählt, die bei einem vorher gegangenen Einsatz ihr Leben verloren. Da hast du, nach eigenen Angaben, den Glauben daran verloren, dass das, was du getan hast richtig war. Du hast dich mit den Zwillingen nie so wirklich gut verstanden, sie wären dir immer zu patriotisch gewesen, zu sehr von ihren Idealen geleitet, hast aber geschrieben, sie würden fehlen. Im Gesamtbild.
Und außerdem sei es doch so sinnlos, sie hätten noch so viel vorgehabt in ihrem Leben, wie die ganzen anderen auch.
Vielleicht sei es kindisch, hast du geschrieben, kindisch, utopisch, aber du hast immer ein Foto aller Sieger haben wollen, wenn ihr gewonnen habt, und das habt ihr, zumindest offiziell.
Ihr seid nur noch dort gewesen, um das Land zu Stabilisieren, aber vom Volk wurdet ihr nicht angenommen. Einer aus dem Volk hat für den Tod von Jonathan und Jesse gesorgt, das Volk war euch der eigentliche Feind, die ganze Zeit über, und das war es, was dir nicht in den Kopf wollte.
Offiziell war der Krieg vorbei, und trotzdem ging er weiter. Von den Vorgesetzten wurden Durchhalteparolen geschwungen, das werden sie immer noch, aber was wissen die denn schon? Waren die jemals dort, wo du warst? Im Krieg?
Und selbst wenn es anders wäre. Wer heute Sieger sehen will geht auf die Friedhöfe, dort liegen so viele von ihnen.
Und du? Du bist erst 24, aber in deinen Augen, die keine Tränen mehr zu haben scheinen, kann ich lesen, dass deine Seele Jonathan und Jesse und all den anderen schon längst gefolgt ist, und nur deine Hülle zurückgelassen hat, hier und jetzt.
Du bist zuhause, aber es ist zu spät, viel zu spät. Deine Erinnerung, deine Welt hält dich gefangen und saugt dich aus.
Ich presse die Lippen aufeinander, und schlucke die Tränen hinunter. Oh nein. Die Zeit fürs Weinen ist noch nicht gekommen, noch nicht. Stattdessen lächele ich schief und deute in Richtung Ausgang. „Los komm, Mathis wartet bestimmt schon!"
Es ist kläglich, und ich weiß das. Aber du sagst nichts, sondern folgst mir nur. Es ist, als wäre dein ganzer Wille, dein ganzes Ego - einst so groß wie beide Amerikanische Kontinente zusammen, nein größer, viel größer noch – einfach verschwunden. Du bist eine Marionette, eine leere Hülle, und deine Fäden sind für alle ergreifbar.
Ich muss an Zuhause denken. Mathis hat darauf bestanden, dass es Würstchen gibt, zur Feier des Tages, aber was zum Teufel sollen wir feiern? Was denn nur?
Würstchen. Würstchen, denke ich verzweifelt, Warum können die Kriege der Welt nicht damit ausgetragen werden? Bitte, Welt, du bekommst alle Würstchen, die ich auftreiben kann, aber beende diesen Krieg, und bring Brian zurück. Bring ihn uns zurück, dieser Krieg hat doch schon so viele Opfer gefordert, viel zu viele, und mit jedem Tag werden es mehr.
Wir kommen am Parkplatz an, und Mathis wartet schon. In seinem kindlichen Eifer strahlend steht er neben dem Wagen und hält ein Glas mit Würstchen hoch. Weiß der Teufel, wo er das jetzt her hat. Wahrscheinlich in der Küche mitgehen lassen, vorhin, in der Hektik.
Ich visiere angestrengt den Boden an, der plötzlich Wellen schlägt, die mich irritieren, und breche in Tränen aus. Mathis, sein verletzter, erschrockener Blick, egal, alles egal, egal, egal. Der arme Kleine. Er kann doch nichts dafür. Sein Vater, den er kaum gekannt hat, den ihm der Krieg genommen, und ihm seelen- und geistlos zurückgebracht hat, und ihn irgendwann wohl ganz nehmen wird. Du. Vater, Bester Freund. Geliebt. Alles egal, hier und jetzt, alles egal.
Die Würstchen sind von letzter Woche. Schon längst nicht mehr frisch. Aber irgendwie bezweifele ich, dass du das bemerken wirst.

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