Samstag, 2. April 2011

Sunita Sukhana: Zugplauderei


Ich rieche ihn sofort. Als ich das Abteil betrete, steigt mir der Geruch von Alkohol und Rauch in die Nase. Er riecht als hätte er sich seit Wochen nicht mehr geduscht. Einen Moment lang überlege ich weiter zu gehen in das nächste Abteil. Aber an ihm vorbeigehen will ich auch nicht. Also setze ich mich in den ersten Vierer auf der linken Seite. Er sitzt in dem zweiten. „Ey isch bin jetz grod eingestigge, bin so inner vierdel Stunne do ne?“ Er telefoniert. Hat er vielleicht eine Frau? Oder besucht er einen Freund? Auf jeden Fall scheint er heute Nacht ein Dach überm Kopf zu haben. Na klar hat er das. Nicht alle Menschen die nach Alkohol riechen und laut reden sind obdachlos, richtig? Ich versuche weitere Infos heraus zu hören, doch er hat schon aufgelegt. Wieso belausche ich überhaupt einen fremden Mann? Aber ist das nicht im Prinzip der ganze Witz am Telefonieren im Zug? Diese Leute wollen doch belauscht werden, sie haben eine exhibitionistische Ader. Ich sehe den Schaffner den Gang entlang kommen. Schnell fange ich an nach meiner Karte zu suchen, das kann bei mir nämlich eine Weile dauern. Zu meiner Überraschung zückt der übel riechende Mann im Gegensatz zu mir sofort eine Monatskarte, die der Schaffner mit einem stummen Nicken akzeptiert und zu mir weitergeht. Ich suche natürlich noch immer. „Isch kann des Mädel auch mitnehme. Uff meiner Karde kann isch ja ne Person mitnehme“, ruft der Mann. Spätestens jetzt hat er mich also bemerkt. Erleichtert strecke ich endlich dem Schaffner meine Karte entgegen. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass meine Geldbörse aus meiner zerwühlten Tasche hervorguckt. Besorgt schaue ich in Richtung des Mannes vor mir. Aber was denke ich denn, was er tut? Dass er über die Sitzbank springt, im Flug den Schaffner umschmeißt und sich auf meine Geldbörse stürzt um mir meine sieben Euro zu stehlen? Erst jetzt bemerke ich, dass ich das Spiegelbild des Typen beobachten kann. Er hat seinen Kopf auf beide Arme gestützt. So sieht er beinahe zerbrechlich aus. Er trägt eine zerrissene Jeans, ein schwarzes Shirt und darüber eine Jacke in Tarnfarben. Er sieht aus wie er riecht. Plötzlich schaut er mir direkt in die Augen. Also nicht wirklich direkt, versteht sich. Aber wenn ich sein Spiegelbild ansehe, dann guckt es zurück. Das ist mir schon öfters passiert. Das bedeutet dann, dass die andere Person mich auch in der Fensterscheibe beobachtet. Eigentlich ist das ziemlich romantisch, sich so über Umwege in die Augen zu sehen. Im Moment finde ich es allerdings etwas beängstigend und wende den Blick ab. „Och da musste doch net weggucke, Mädel!“ höre ich den Mann rufen. Zu meinem Entsetzen steht er auf und setzt sich mir gegenüber. Hätte ich ihn doch nie beobachtet. Das hab ich davon. „Ich bin de Jürgen.“ Er streckt mir seine dreckige Hand hin. Zögerlich schüttele ich sie. „Deborathi.“ „Des is aber en scheener Name. Wo kommtn der her?“ Ich bin es so Leid, danach gefragt zu werden. Ich sollte mir einfach Visitenkarten mit meinem Namen und Migrationshintergrund drucken lassen. „Mein Vater kommt aus Indien“, erkläre ich trotzdem geduldig. „Ach, des is ja was. Ich kenn auch en paar Inda. Schlaues Volk is des, die machen doch alle mit Computern was, ne? Dein Papa auch?“ Widerwillig nicke ich. „Des is doch schee. Diese Inda ham echt Ahnung, ehrlisch. Es sollte mehr von dene hier gebe, weisste. Die sin besser als diese Türke. Die ham doch nix druff.“ War ja klar, denke ich. Solche Leute sind doch immer entweder Ausländer oder ausländerfeindlich. „Nicht unbedingt“, sage ich langsam, „in meinem Jahrgang auf dem Gymnasium war auch ein Türke und er war der Jahrgangsbeste.“ Das stimmt nicht ganz. Er war nicht Jahrgangsbester, aber immerhin war er da. „Na kla, so welche gibt’s och“, wendet Jürgen ein, „aber weisste, des sin doch die wenigsten.“ Als ich nichts antworte, fährt er fort: „Und du, was machste jetz wenn de Abi hast?“ „Ich studiere.“ Einen Moment lang schaut er mich an, als hätte er noch nie von so etwas gehört. „Ja ja“, murmelt er schließlich, „studiere. Man des wär ma was.“ Jetzt schaut er mich wieder direkt an. „Weisste, des is was gudes, Mädel. Du hast Glück gehabt, du kannst wos aus dir mache. Isch wollt des auch imma mache, studiere mein ich. Geschichte, weisste. Des fand isch imma escht gut in de Schule. Aber isch war nur Hauptschul und meine Eltan ham sich weggepisst wo isch denen gesagt hab, dass isch studiere will.“ Ich schaue ihn verständnislos an. „Meine Eltern sind Harz Vier, weisste? Aber ich hab e Job. Des is de übelste Scheiß, sag isch dir. Isch verdien auch nisch viel mehr als Harz. Aber lieber so als nix mache, des is ja net gesund, weisste.“ Auf einmal fühle ich mich schlecht, weil ich am Anfang so negativ über Jürgen gedacht habe. Er gibt sich Mühe, er arbeitet. Und dann kommen so Leute wie ich und stempeln ihn sofort als asozial ab, nur weil er nach Alkohol und Rauch riecht. Was weiß ich denn? Ich hätte mich lieber mal fragen sollen, wieso er so riecht. Doch nicht weil sich die Angebote für Spitzenjobs auf seinem Tisch stapeln, aber er lieber den Tag mit Rauchen und Saufen verbringt. Das Klingeln seines Handys reißt mich aus den Gedanken. „Ja ich war des, ich hab disch angerufe“, sagt er ins Telefon, „kannste mir ma deine Bruder gebe?“ Die Person auf der anderen Seite scheint etwas zu erklären, dann antwortet Jürgen: „Des gibt’s doch net! Ich versuch ihn schon seit Tage zu erreische. Deine Mudder lässt misch ja auch net zu ihm, weisste? Isch mein ich darf doch noch mit ihm rede, oder?“ Er funkelt wutentbrannt sein Spiegelbild im Fenster an. „Ja mach des, danke.“ Er legt auf. Einen Moment lang glaube ich, dass er anfängt herum zu schreien, aber jetzt sieht er eher traurig aus. Auf einmal bemerkt er, dass ich noch da bin, so als hätte er mich kurzzeitig vergessen. „Sorry, aber isch halt des einfach net mehr aus.“ Was meint er? „Was meinen Sie?“, frage ich und versuche dabei weniger höflich und dafür umso interessierter zu klingen. „Ach weisste, die Olle lässt misch nisch mehr meinen eigenen Sohn sehn. Dabei isses mein Sohn, verstehste?“ Ich verstehe gar nichts. „Ach ich hab die geknallt, des is jetz scho ewisch her.“ Er schaut mich bedeutend an, als wüsste ich den Rest seiner Geschichte schon. Aber ich kann sie mir nur denken. Er und diese Frau haben ein Kind gekriegt. Sie hat sich von ihm getrennt und lässt ihn jetzt nicht mehr seine Sohn sehen. So in etwas muss es doch gewesen sein, oder? „Tut mir Leid“, sage ich ehrlich. „Ach des muss dir net Leid tun. Du kannst ja nix dafür, ne? Oder haste se vielleischt besucht und überredet mir mein Balg wegzunehme?“ Er gluckst über seinen eigenen Witz. Und auch ich muss lächeln, als ich mir vorstelle wie ich seine Frau besuche und ihr sage „Halt bloß diesen Jungen fern von deinem Mann.“ Und sie schaut mich an mit ihren blutunterlaufenen Augen und fragt: „Wer bist du?“ Sie ist etwas dick und ungewaschen, hat strähnige Haare und eklige, gelbe Zähne. „Irgendwie war isch des ja schon en bissl, ders versaut hat. Isch mein, da steht deine Olle vor dir und sagt sie kriegt en Bebi. Was machste denn da als Kerl?“ Er sieht mich erwartungsvoll an. „Ähm, ich weiß nicht“, sage ich vorsichtig. „Na klar, weißte des nisch, du bist ja auch ne Frau! Aber en Kerl weisste, der kriegt dann erstma Schiss und haut ab, so wie isch. Des is doch ganz normal, so simma halt.“ Ich nicke verständnisvoll. Wenn ich jetzt schwanger wäre, dann würde ich auch am liebsten wegrennen. Aber bei uns Frauen geht das ja nicht so leicht. Ganz schön gemein, eigentlich. „Des war doch net so gemeint. Wo des Bebi dann da war, bin isch doch widder gekomme, weil, weisste, es is doch mein Bebi. Und isch wollts auch ham, wollt misch ums kümmern wien Vadder des halt macht. Aber die Schlampe hatte schon en Neuen und mit dem hat se jetz nochn Kind und sie lässt misch net zu meenem Sohn. Aber es is doch meen Sohn, verdammt noma!“ „Sie haben ein Recht darauf ihren Sohn zu sehen“, werfe ich ein, „sie könnten sie verklagen“. „Un wer zahlt mir des? Ach, des bringt doch nix Mädel. Des war ja nett gemeint un so, des glaub isch dir. Aber wer kümmert sisch denn um meene Problem? Ehrlisch, des geht den meisten doch am Orsch vorbei“. Der Zug kommt zu stehen. „Ach, gucke ma! Da hamma uns ja rischtisch verquatscht“, ruft er und springt auf, „machs gut, du. Mach ma was aus dir, ne?“ Er stürmt raus und begrüßt zwei andere Männer, die ganz genau so aussehen wie er. Ich wette, wäre ich draußen, könnte ich auch bei ihnen den Alkohol und den Rauch noch meterweit entfernt riechen. Zum Abschied winke ich Jürgen noch einmal zu. Als der Zug weiter fährt, bin ich froh, dass er weg ist. Aber gleichzeitig, bin ich auch traurig. Ich hätte ihm so gerne noch irgendetwas gesagt, was ihn aufbaut. Ich hätte ihm gerne gesagt, dass er es aus seiner Situation heraus schaffen kann. Dass er das Abitur nachholen und Geschichte studieren kann. Dass auch er es in unserer Gesellschaft zu etwas bringen kann. Aber das wäre gelogen.




(23,8 P.)

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